Literatur

2017 hielt sich der Schriftsteller und Nietzsche-Fan Taqi Akhlaqi aus Afghanistan für vier Monate in Deutschland auf. Grund war ein Arbeitsstipendium im Heinrich-Böll-Haus Langenbroich in Düren, das seit 1989 Künstlern und Künstlerinnen aus aller Welt einen befristeten ruhigen Ort zum Arbeiten bietet.

 

Vor dieser Reise hatte Taqi Akhlaqi Europa und somit auch Deutschland nur im Spiegel von Literatur und Kunst gesehen. Insbesondere Nietzsche war ihm längst ans Herz gewachsen. Das Deutschland, das der Schriftsteller Taqi innerhalb dieser vier Monate kennenlernte, war für ihn eine Welt voller Überraschungen und Wunder.

 

Das zeigte sich bei der Benutzung von Toiletten, beim Zugfahren, Einkauf, Treffen mit Freunden, bei Kneipen- und Konzertbesuchen. Vor allem aber zeigte es sich beim Umgang mit der deutschen Sprache. Festgehalten hat Akhlaqi seine dramatisch-humorvoll-analytischen Alltagsbeobachtungen in seinem autofiktionalen Roman „Versteh einer die Deutschen", erschienen im Sujet Verlag, Bremen.

 

Taqi Akhlaqi F Dirk SkibaEigentlich wollte der Autor während seines Aufenthalts im Heinrich-Böll-Haus ein ganz anderes Buch schreiben. Notizen genug hatte er mitgebracht. Acht Jahre lang hatte er in Kabul Rohmaterial gesammelt, „Zeitungsausschnitte, eigenartige, verstörende Nachrichten über Bombenanschläge und Todesopfer […].“ Daraus wollte er „ohne große Mühe einen originellen Roman“ machen, „lebhaft, zugänglich, facettenreich, faszinierend und spannend natürlich“. Beim Durchblättern der gesammelten Nachrichten und Notizen wurde ihm jedoch klar, sie enthielten nur wenig brauchbares Material für einen Roman. Im Buch selbst folgt nun (zu Beginn des zweiten Kapitels) eine Aufzählung, die uns Lesern das Fürchten lehrt, wie zum Beispiel: „Taliban haben zwei Kinder enthauptet. Taliban haben ein Kind erhängt.“ Das, was uns nicht nur beim Lesen erschreckt und erschüttert, erscheint dem Autor nun nicht mehr so geheimnisvoll und aufregend wie beim Speichern dieser und anderer Meldungen auf der Festplatte daheim. Ermüdend und klischeehaft findet er sie nun.

 

Das zeigt uns Zweierlei: Die tieftraurige Tatsache, dass sich Menschen an Grausamkeiten gewöhnen können, wenn sie müssen. Es zeigt aber auch noch etwas andres hinter dieser tragischen Wirklichkeit. Es zeigt, wie schwer es ist, über genau das zu schreiben, was Menschen im Leben an schicksalhaft Schrecklichem widerfährt und prägt. Dabei wäre genau das besonders wichtig – aber es ist eben auch besonders schwer… So sitzt der Stipendiat aus Afghanistan nun in einem geräumigen Zimmer im ersten Stock des Böll-Hauses in Deutschland und nimmt sich vor, mindestens zwei Stunden täglich zu schreiben. Er tippt die ersten Sätze, die ersten zitierten Meldungen ein. Er lässt sich ablenken. Vielleicht auch allzu gerne… Er sinniert über den alten Schrank, der rechts neben ihm im Zimmer steht und so groß ist, dass er nicht durch die Zimmertür passt. Wie hat man ihn hineinbekommen? Und wann? Bevor das Zimmer, das Haus fertig waren? Er stellt sich vor, „wie hochrangige Mitglieder der Heinrich-Böll-Stiftung mit Bölls Freunden und seiner Familie angeregt über den Schrank diskutieren und sich schließlich darauf einigen, ihm einen dauerhaften Platz hier in diesem Zimmer zu geben, worauf jemand zur Bekräftigung dieser Entscheidung wortreich eine bewegende Begründung liefert.“

 

Tragik und Humor gehen Hand in Hand

Taqi denkt an seine Nachbarn, an seine Familie, an all die Menschen, die er zurückgelassen hat und an die vielen, die ihm geraten haben, nicht zurückzukehren. Und an die vielen, die die Ansicht vertraten, er werde nicht zurückkehren. Aber wenn doch, dann möge er – so ein Nachbar – ihm doch bitte ein Radio mitbringen… So und ähnlich funktioniert das mit der Tragik und mit dem Humor, die bei Taqi Akhalaqi so wunderbar Hand in Hand einhergehen. Geschickt verwebt er Gegenwart und Vergangenheit, weckt gespeicherte Erinnerungen, schreibt neue Erlebnisse zu Erinnerungen (um). Der Autor reflektiert Erlebtes ebenso gründlich, schonungslos, selbstkritisch wie mit viel Humor. Wer seine – von Jutta Himmelreich als deutsche Stimme des Autors eindringlich übersetzten – Beobachtungen liest, mag sich durchaus angeregt fühlen, eigene (deutsche) Bräuche, Alltagsriten, Denkweisen zu hinterfragen, „sich zu verfremden“, wie der Autor es ausdrückt, sich selbst, die Gesellschaft und seine Umgebung mit anderen Augen neu zu entdecken.

 

„Versteh einer die Deutschen“ erzählt in einzelnen Kapiteln Geschichten vom Ankommen in einem fremden Land, vom Aufeinandertreffen von Kulturen und liebenswerten Annäherungsversuchen. Nicht zuletzt führt das Buch ein in die Lebenssituation junger afghanischer Menschen in einem Land, dessen Reisepass „zu den wertlosesten Pässen der Welt“ zählt und in dem man unter ständiger Bedrohung für Leib und Leben steht. „Die Deutschen verstehen“ ist ein höchst bemerkenswertes Buch des 1986 geborenen Afghanen Taqi Akhlaqi, dessen Familie wegen des Bürgerkrieges in den neunziger Jahren für mehr als zehn Jahre in den Iran floh und der bis Juli 2021 in Kabul lebte.

 

Taqi Akhlaqi ist der erste afghanische Schriftsteller, der 2021 das Fellowship des Berliner Künstler*Programms des DAAD erhielt. 2023 folgte das Fellowship des Programms „Weltoffenes Berlin“ des Senats. Seit September 2021 lebt er als freier Schriftsteller mit seiner Familie in Berlin. „Bölls Geist ist noch hier und sucht Freunde“, diesen Satz hat er extra und früh gelernt bei seinem Aufenthalt im Heinrich-Böll-Haus, um zu gefallen, Mitgliedern der Fördergemeinschaft selbigen Hauses zum Beispiel. Es scheint so, als hätte Bölls Geist tatsächlich einen neuen Freund gefunden, einen, der Brot zu schätzen weiß wie er und vieles andere mehr. Wir werden hoffentlich noch mehr von ihm lesen und das ist gut so!


Taqi Akhlaqi: Versteh einer die Deutschen

sujet Verlag

Roman

Aus dem Persischen übersetzt von Jutta Himmelreich
275 Seiten, Softcover mit Schutzumschlag

ISBN: 978-3-96202-135-1

Weitere Informationen (Verlag)

 

Portraitfoto: Dirk Skiba

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