Literatur

Stefan Çapaliku ist ein kosmopolitisch überzeugter Albaner und europafreundlicher, bitterbös-liebevoller Autor, der die Mikro-Makro-Geschichte unseres Kontinents aus Sicht der Balkanhalbinsel ins Visier nimmt. Seinen Schreibstil feierte die FAZ schon 2010 als „absurd komisch“. 1965 in Shkodra geboren, wo er Albanische Sprache und Literatur studiert hat, lebt und arbeitet Çapaliku heute als Professor für Ästhetik sowie als Theater- und Filmregisseur in der albanischen Hauptstadt Tirana. Sein auch international beachtetes Werk umfasst Gedichte, Essays, Monografien, Prosa und Theaterstücke. Sein Lieblingsthema: die Kultur Albaniens, der Balkan und der Rest der Welt.

 

Der Balkan...? Was wissen wir Nordeuropäer schon davon? – Vielleicht das: Nachdem mit der ersten Osterweiterung 2004 acht ehemals kommunistisch regierte Staaten in die EU aufgenommen wurden, 2007 Rumänien und Bulgarien folgten und 2013 Kroatien als 28. Mitgliedstaat beigetreten ist, um im Januar 2023 glücklich den Euro einzuführen, befinden sich die meisten Balkanländer immer noch weitgehend im statischen Wartestatus sogenannter EU-„Beitrittskandidaten“. Sie verharren gewissermaßen in einem offenen Entwicklungsprozess oder einer „stabilen Starre“: Das, so zeigt Çapaliku in seinem 2022 auf Deutsch erschienenen Roman „Jeder wird verrückt auf seine Art“, müsse man mit Witz und Humor nehmen.

 

Mit dieser Grundhaltung schließt er sich Salman Rushdies Credo an, dass Humor die „subtilste Waffe“ sei, wenn man nicht mehr weiterwisse. Allerdings hat Rushdie auch an des Lesers Bewusstsein appelliert, dass die Welt, in der wir leben wollen, doch auch die Welt sein sollte, in der wir tatsächlich leben. Unter diesen Vorzeichen fragt man sich, welches Verhältnis Çapalikus schwarzer Humor zwischen der Lebensrealität auf dem Balkan einerseits und seiner eigenen künstlerischen Vision andererseits widerspiegelt. Womit konfrontiert er seine Leserschaft und sich selbst, wenn er die Einführung des Fernsehens in die albanische Kultur 1967 sowohl als autobiographischen als auch soziopolitischen Wendepunkt in der Geschichte Albaniens bezeichnet? Da letztere beständig zwischen Ost und West, zwischen Kapitalismus und Kommunismus oszilliert, eröffnet Dagmar Reichardt das Gespräch mit Stefan Çapaliku damit, ihn zunächst auf seine (irr-) witzige Überzeugung, dass „das Leben magischer als die Kunst“ sei, zu befragen. Die Gelegenheit nutzt Çapaliku sodann, um überzuleiten auf durchaus süßsaure, sowohl heitere als auch bissige, mal unterhaltsame mal extreme und immer wieder überraschend schillernde Facetten seines (postkommunistischen) Lebens in Albanien.

 

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Stefan Çapaliku. Foto: Nikolin Jakova

 

Dagmar Reichardt (D.R.): Stefan, du arbeitest bestimmt schon wieder an neuen Projekten, aber vergangenes Jahr ist die Übersetzung deines Romans „Jeder wird verrückt auf seine Art“ ins Deutsche erschienen, nachdem er bereits vom Albanischen – dem 2016 erschienenen Original – in sechs weitere Sprachen übersetzt worden ist: nämlich ins Italienische, Serbische, Französische, Mazedonische, Bulgarische und Montenegrinische. Wie lassen sich dessen Inhalt und Botschaft für die deutschen Interessenten bzw. diejenigen zusammenfassen, die das Buch noch nicht kennen und es vielleicht lesen möchten? Worum dreht sich deine Geschichte und warum sollte sie unbedingt auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung finden?

 

Stefan Çapaliku (S.C.): „Jeder wird verrückt auf seine Art“ ist kein akademisch hochgestochener Roman, sondern eher ein Gestotter, was den literarischen Diskurs betrifft: Der Stotterer ist ein Kind (ich), das in einer tragischen Situation Erinnerungen an eine glückliche Kindheit zu erzählen versucht.

Der albanische Originaltext beginnt ohne ein einziges Verb zu benutzen. Alles bleibt in einer inaktiven Schwebe. Er gleicht einer Serie von Fotografien: Ich „fotografiere“ darin mich selbst, meine Mutter, meinen Onkel, die Wärter, das Gefängnis. Das ist meine erste Erinnerung: das Gefängnis. Das Gefängnis der Erinnerung.

 

Jeder wird verrückt auf seine Art COVERDann zoomt sich der Roman langsam heraus und zieht immer weitere visuelle Informationen in Betracht: weitere Personen, weitere Themen. Er wird aktiv. Ich wachse.

Natürlich hält das Leben Situationen bereit, die von besonders mittelmäßig bis hin zu besonders interessant reichen, selbst wenn sie dramatisch, um nicht zu sagen tragisch sind. Ich schätze mich glücklich, dass ich bereits begann, mich meiner Person bewusster zu werden als zwei seltsame Ereignisse in der Umgebung, in der ich geboren bin, kurz aufeinander folgten. Erstens: Die kommunistischen Behörden beschlossen, Albanien zu einem atheistischen Land zu erklären, und begannen demzufolge, Kirchen und Moscheen zu zerstören (dadurch ist der Glockenturm der Franziskanerkirche, die neben unserem Haus stand, eingestürzt). Zweitens: Mein Vater hat den ersten Fernseher aus dem Ausland in unser Dorf gebracht.

Diese beiden Ereignisse unterteilen meinen Roman in drei Teile: „Davor“ (vor dem Aufkommen des Fernsehens), „Während“ (der Zeit, in der wir ausländische Fernsehsender empfangen konnten) und „Danach“ (als die ausländischen Radio- und Fernsehfrequenzen durch die kommunistischen Behörden unterbunden wurden).

 

Das Fernsehen bietet eine neue Ästhetik, die mit der Art und Weise zu tun hat, wie das Globale auf das Lokale heruntergebrochen wird beziehungsweise wie große Weltereignisse in einer Provinz wie Shkodra – meiner damaligen Stadt – interpretiert werden.

Ich denke, mein Roman ist unter anderem eine heitere Reflexion der Zeit des absurden und tragischen Kommunismus.

 

D.R.: Wenn du diese Zeit verständlicherweise als zugleich „absurd“ und „tragisch“ definierst – schließlich war Albanien 1944-1990 eine kommunistische Diktatur –, wie passt das damit zusammen, dass du bei der Vorstellung der deutschen Übersetzung deines Romans in Berlin (am 17.03.2022 im Buchhändlerkeller) auch gesagt hast, das Leben sei „magischer als die Kunst“? Was ist so „magisch“ am Kommunismus beziehungsweise am Albanien deiner Kindheit und Jugend gewesen? Worin besteht jenseits der Absurdität und Tragik Albaniens dessen vergangener und heutiger „Zauber“?

 

S.C.: Ich, der ich unter dem Kommunismus geboren und aufgewachsen bin und nun eine langwierige und absurde Übergangszeit durchlebe, kann weiterhin behaupten, mich glücklich zu schätzen: Es gibt kein wertvolleres Geschenk für einen Schriftsteller als das, in einer bewegten Zeit zu leben. Deshalb gehöre ich zu denen, die glauben, dass das Leben der Literatur und der Kunst weit voraus ist. Auf besondere Weise hat das Leben in diesem kleinen Land, das Albanien heißt, schon so viel Geschichte hervorgebracht und bringt sie weiterhin hervor. Unendliche Geschichte. Und wenn ich von Geschichte spreche, meine ich erlebte Dramen. Albanien ist ein Land, das durch kopulative Konjunktionen sowohl der Negation „weder so noch anders“ als auch der Affirmation „so oder auch anders“ definiert werden kann. Es befindet sich in einem Zwischenzustand: weder Ost noch West; ein Land, das sowohl gebirgig als auch seegängig ist; ein Volk, das sowohl aus Hirten als auch aus Bauern besteht; sowohl muslimisch als auch christlich ist; eine Sprache spricht, die weder Latein noch Griechisch, weder slawisch noch angelsächsisch ist; und andere solche Antinomien, die es zu einem von Wundern unterbrochenen Quell machen.  

 

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Modeladen am Strand. Albanien 1970er. Foto: anonym (Collection Michel Setboun, Paris)

 

D.R.: Der Roman ist, wie du sagst, in drei Teile gegliedert („Davor“, „Während“ und „Danach“, bezogen auf die Auswirkungen der kommunistischen Diktatur in Albanien) und endet mit dem 21. Kapitel im dritten Teil, in dem Gijon – angesichts der erzählten Geschehnisse kein Wunder...! – durchzudrehen bzw. „verrückt“ zu werden droht. Wobei Gijon der Name des Onkels des jungen Ich-Erzählers (d.h. deines Alter Egos) ist, der in dem Moment erblindet, als die Familie besagten Fernseher kauft, der als Informations- und Unterhaltungsmedium 1967 in Albanien allgemeine Verbreitung fand. Was hat – neben den „Wundern“, die du gerade angesprochen hast – der Wahnsinn mit der Geschichte Albaniens zu tun und inwieweit bestimmt er die Postmoderne auch nach 1985, dem Jahr, in dem dein Roman abrupt endet?

 

S.C.: Damit wollte ich eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass diese Zeit vollkommen verrückt war. Ganz normale Menschen gingen mit dieser kommunistischen Ära auf die seltsamste Weise um, um ihr Überleben zu sichern und ihre Würde zu behalten. Ich habe versucht, mich derjenigen Kategorie von Figuren anzunähern, die die Kultur der Untergruppe repräsentieren. Meine Figuren sind die, die zwar ihr ganzes Leben mit Arschlöchern verbracht haben, selbst aber nicht stinken.

Es genügt, sich einige Fälle in Erinnerung zu rufen, um den Prozess der Entstehung dieses „Wahnsinns auf seine Weise“ besser zu verstehen: Im Roman geht es zum Beispiel um den Dichter Zef Zorba (1920-1993; A.d.R.), der in seinem Haus in Anwesenheit von fünf bis sechs Zuschauern Theaterstücke aufführt und Meisterwerke der Weltliteratur inszeniert. Und das erscheint den „normalen“ Menschen damals nicht als „verrückt“?! Oder ich erwähne den Fall von Nuh Sahatçia, der die Uhr eines deutschen Soldaten fanatisch aufbewahrt, nachdem dieser sie zurückgelassen hatte, um sie Jahrzehnte später zu reparieren, als der Krieg längst vorbei war und es so schien, als sei alles für immer vorbei.

Das Jahr 1985 ist als Epilog konzipiert, denn in diesem Jahr ist Enver Hoxha (1908-1985; von 1944-1985 diktatorischer Herrscher Albaniens; A.d.R.) gestorben, der blutrünstige Diktator, der Mann, der sich solch ein Albanien ausgedacht hat.    

 

D.R.: Kommen wir zu deiner Leidenschaft für die Fotografie: Was fasziniert dich daran? Worin besteht die Verbindung zwischen Fotografie und Schreiben? Und wie würdest du die Realität in diesem Dreieck „zwischen“ Literatur, Fotokunst und Realität beschreiben? Was ist „Wirklichkeit“ für dich und wie kann sie „erzählt“ werden, gerade auch in Hinblick auf die Medienwelt und auf verschiedene künstlerische Formate? Du vereinst selbst als Künstler viele verschiedene kulturelle Disziplinen – als wahrer „Allrounder“ oder künstlerischer Alleskönner – und hast dich mit verschiedenen kulturellen Kommunikationskanälen – von der Literatur über die Fotografie und Malerei bis hin zum Theater und zur Performance auseinandergesetzt: Welche Funktion haben die Medien bei der Wiedergabe von Wirklichkeit? Symbolisiert das Fernsehgerät in „Jeder wird verrückt auf seine Art“ die heute – sicher auch in Albanien – zur „Vierten Macht“ aufgestiegene Bedeutung der Medien? In welche Richtung bewegen wir uns deiner Meinung nach heute, in der späten Postmoderne und im digitalen Zeitalter?

 

S.C.: Ich bin der Fotografie sehr verbunden und wurde in der Stadt geboren, in der die albanische Fotografie 1856 ihren Anfang nahm. Zu dieser Zeit kam ein Italiener namens Pietro Marubbi (1834-1905; A.d.R.) mit seiner Dunkelkammer nach Albanien und begann alles zu fotografieren. Von diesem Moment an wurde die Fotografie zu einem hochgeschätzten Medium. Und so ist es noch heute.

Es wäre wahrscheinlich schwierig gewesen, einen günstigeren Zeitpunkt als die Zeit während der durch Covid-19 verursachten kollektiven Quarantäne zu finden, um Fotoalben auszusortieren und vor allem um Fotos einzuordnen, die aus dem einen oder anderen Grund ausgelassen worden und liegengeblieben sind. In jenen Momenten habe ich besser verstanden, wie das persönliche Gedächtnis im kulturellen Bereich funktioniert und wie das persönliche oder individuelle Gedächtnis mit den Formen des kollektiven Gedächtnisses interagiert.

 

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Hochzeit in Zadrime. Foto: anonym (Collection Michel Setboun, Paris)

 

Die Analyse des Gedächtnisses anhand von Fotografien bietet einen besonders produktiven Weg zum Verständnis der sozialen und kulturellen Aspekte unserer Zeit. Es gibt also eine Geschichte der Verzauberung der Literatur durch die Fotografie.

Bekanntermaßen stammt der Begriff „Fotografie“ aus dem Altgriechischen und setzt sich aus den beiden Wörtern „Licht“ und „Stift“ zusammen, die in ihrer Verbindung „eine mit Licht gemachte Zeichnung“ bedeuten. Noch zu klären wäre hingegen, wie die Fotografie als „Buchstabe des Lichts“ in so viele Sprachen gekommen ist. Bei dieser zweiten Taufe kommt die Fotografie dem Schreiben näher: Diese Ähnlichkeit mit der Schrift kann als eine Affinität zur Literatur selbst gelesen werden.  

Die Wiedergabe der Wirklichkeit nach fotografischen Verfahren wird zu einem wichtigen Zeugnis der Natur, des Lebens und des Todes in unserer Zeit, in der die totale Amnesie herrscht. Die Vergangenheit gehört uns, selbst in ihrer tragischen Darstellung. Sie ist gestern passiert, und das „Gestern“ wird nun zu einem Traum, der nicht wiederkehren kann.

Was ich mit Verzweiflung feststelle, ist, dass auf globaler Ebene ein berüchtigtes Projekt zur Umgestaltung der Vergangenheit vonstattenzugehen scheint.

 

D.R.: ... was wiederum an Wirklichkeitsverzerrungen unter diktatorischer Herrschaft erinnert! Wie sieht die Situation in Albanien heute aus, nach dem Ende von Enver Hoxhas Diktatur (1944-1985) und nach dem Zusammenbruch der Ideologien infolge des Berliner Mauerfalls vor über drei Jahrzehnten? Mit anderen Worten: Wie hat sich dein Land seit deiner Kindheit insgesamt verändert? Welche Traumata haben die Albaner seit 1985 überwinden müssen? Was ist heute aus dem Kommunismus in Albanien geworden: Wie hat sich die politische Situation entwickelt? Welches sind die grundlegenden Veränderungen, beziehungsweise welche Auswirkungen hatte der Fall der Berliner Mauer auf die albanische Gesellschaft, Kultur und allgemeinen Verfasstheit?

 

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Plakate im Straßenbild. Fotos: anonym

 

S.C.: Deine Frage wirft eine ganzes Bündel von Problemen auf, und eine Winternacht reicht nicht aus, um sie anzugehen: Kurz gefasst, könnte ich sagen, dass wir im Wandel leben.

Der sogenannte „albanische politische Übergang“ hat seinen eigenen Typus Mensch erschaffen: einen Träumer, Abenteurer, Verzweifelten, Nervösen, Ungeduldigen und glücklichen Betrüger. Er meint jemanden, der aus einem schrecklichen System kommt, das ihm beigebracht hatte, leise zu sprechen. Ein Mensch, der sich plötzlich in einer „unermesslichen und zugleich absurden Freiheit“ wiederfindet, in der man alles und nichts tun kann. Und er muss um jeden Preis Europäer werden. Es ist ein Mensch, der zwei Übergänge gleichzeitig erlebt: den biologischen und den politischen. Und der Typ Mensch, der den kurzen Weg, nicht den besten Weg nach Europa genommen hat. Derjenige, der verraten, enttäuscht, beleidigt und in seinem Wesenskern getroffen wurde. Es ist der Typ Junge, der während einer dummen Schlägerei in einer Taverne an der Ecke einer Gasse in den Bauch gestochen wird und mit heißen Eingeweiden in den Händen davonläuft. Der, der nicht sterben will, auch wenn niemand an der Tür des Krankenhauses auf ihn wartet.

 

D.R.: Das ist ein krasses Bild für den prototypischen Albaner, der auf Besserung seiner Lage nach jahrzehntelanger kommunistischer Diktatur hofft. Ich frage mich, wie man hier Abhilfe schaffen kann: Nachdem Kroatien bereits seit 2013 Mitglied der Europäischen Union (EU) ist, gehört es seit dem 1. Januar 2023 der Eurozone und zuvor bereits dem Schengen-Raum an. Während neuerdings in Kroatien jeder mit dem Euro zahlt, ist Albanien seit 2014 ein offizieller EU-Beitrittskandidat, mit dem im Juli 2022 EU-Beitrittsverhandlungen aufgenommen worden sind: Welche innovative Rolle kann diese Kultur in naher Zukunft für Europa spielen? Wie siehst du die Entwicklung der Balkanländer im Kontext eines „neuen Albaniens“ – möglicherweise bald EU-Mitglied – und was hat die albanische Kultur der hybriden, transkulturellen Identität Europas hinzuzufügen, „schwebt“ sie doch „zwischen“ dem europäischen Kontinent, Russland, China und dem Nahen Osten? Welches ist die reale Geschichte hinter „deinem“ fiktiven Albanien, jenseits der quasi-autobiografischen Erzählung, das der Leser bei der Lektüre von „Jeder wird verrückt auf seine Art“ entdecken kann?

 

S.C.: Ich bin Schriftsteller, ein Zeuge des Zusammenbruchs des kommunistischen Systems und der großen Veränderungen zum Guten und zum Schlechten. Ich bin derjenige, der die Geduld verloren hat, auf den Beitritt in die EU zu warten.

Ich liebe Europa so sehr, dass ich bereit bin, dafür zu kämpfen (allerdings nicht mit einem Gewehr, versteht sich, denn ich bin Pazifist und ein großer Feigling beziehungsweise ein Feigling und großer Pazifist). Inzwischen verachte ich den Osten immer weniger, je besser ich Europa kennenlerne. Europa ist meine Geliebte. Und was ich am meisten mag, ist das Leben, das Mittelmeer. Ich bin mediterran: Ich liebe das Meer, Oliven, Musik, Tomaten, Gedichte, die Inseln, den Wein und von direkter Sonnenbestrahlung gebräunte Haut.

 

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Platz. Foto: anonym (Collection Michel Setboun, Paris)

 

Was mich an meiner politischen Beziehung zu Europa stört, ist nicht mein Land, denn Gott sei Dank bin ich in einem Land geboren, in dem es vier Jahreszeiten und eine naturbelassene Vielfalt gibt. Was mich dagegen oft beunruhigt, ist das menschliche Verhalten. Es ist die Art und Weise, wie die Menschen dieses Geschenk mit Füßen treten, wie sie es nicht zu schätzen wissen, wie sie es missbrauchen und wie sie ihre Liebe zum Land auf propagandistische Weise zum Ausdruck bringen, weil sie es nicht schaffen, sich selbst aus einer europäischen Entwicklungsperspektive zu betrachten.

Aber wir haben jetzt eine wunderbare neue Generation, die an den besten europäischen Bildungseinrichtungen und Universitäten studiert hat. Wir sind nach wie vor eine starke Familie und mögen das Gefühl, uns für die Zukunft unserer Kinder bedingungslos aufzuopfern. Unsere Kinder fühlen sich – schon lange bevor es der albanische Staat schafft – in Europa integriert.

 

D.R.: Wie steht es – angesichts der derzeitigen Verschiebungen der politischen Kräfte und allgemeinen Weltenlage – diesbezüglich um die gewachsene Beziehung zwischen der russischen und der albanischen Kultur? Gibt es eine sprichwörtliche Maxime oder einen albanischen Witz, der dieses Verhältnis widerspiegelt? Wie kann Humor – wie können Ironie, Sarkasmus, Scherze oder Komik – dazu beitragen, die aktuelle Situation besser zu ertragen? Und hat Humor etwas mit der Seele zu tun, oder wie hängt der Humor mit deinem Innenleben, deiner Psyche und deiner Weltanschauung zusammen?

 

S.C.: Ich komme aus der albanischen Hauptstadt des Humors: Shkodra. Ich bin Autor von zwei Büchern mit Witzen: „Eine kleine Anthologie des Lebens“ und „Die Witze des Kommunismus“. Und zwar habe ich vor allem deshalb beschlossen, diese beiden Bücher zu schreiben, weil ich gemerkt habe, dass mir die Vergangenheit wie Sand durch die Finger rinnt.

Was mir zu den Beziehungen zwischen unserer Kultur und der russischen einfällt, ist ein Witz, ein realpolitischer Witz, der von einem meiner Mitbürger Ende der 1950er Jahre stammt, als Albanien noch zu den Satellitenstaaten der Sowjetunion gehörte. In der Zeit herrschte hier äußerste Armut. Es gab ständig Brotkrisen. Als es Essenszeit war, begab sich besagter Mitbürger mit einem durchgeschnittenen Laib Maisbrot auf den Nachhauseweg, beide Hälften hübsch übereinandergelegt, wie ein aufgeschlagenes, unter seinen Arm geklemmtes Schulheft.

„Herr Filip, wo kommst du jetzt her?“

„Aus dem Russischkurs“, entgegnet Filip und klappt stumm das dicke, kalte Brot auseinander, das er gleich seinen Kindern vorsetzen wird.

 

Der albanische Polithumor ist außergewöhnlich ausufernd. Wir haben so viel Humor produziert, dass viele Menschen in der kommunistischen Zeit nur deshalb verurteilt worden sind, weil sie es nicht geschafft haben, in der Öffentlichkeit ihren Mund zu halten, und lieber um jeden Preis einen Witz gegen das Regime gerissen haben.

An dieser Stelle habe ich noch einen symbolischen Witz auf Lager, der die generelle Haltung des kommunistischen Regimes zu Schriftstellern verdeutlicht: Eines Tages geht ein politischer Gefangener in die Bibliothek seines Gefängnisses, um sich ein Buch auszuleihen, und fragt den Beamten, der die Bücher verwaltet:

„Verzeihung, haben Sie das Buch xy...?“

„Nein. Das Buch haben wir nicht, aber den Autor!“, antwortet der Beamte.

 

D.R.: Die Albaner haben sich traditionell nicht nur moralisch mit Galgenhumor über schwere Zeiten hinweggerettet, sondern auch physisch durch Auswanderung, z.B. indem sie über die Adria in italienische Küstenorte geflohen oder migriert sind. Bei der Beschäftigung mit der Diaspora von Albanern in Italien war ich überrascht vom sozialen Zusammenhalt dieser „unsichtbaren“, gut angepassten Gemeinschaften in mittel- und süditalienischen Städten. Sowohl innerhalb ihrer eigenen lokalen Gruppe als auch zwischen einer lokalen Gruppe und einem aus Albanien dazukommenden Gast legen sie besondere Hilfsbereitschaft an den Tag: Ich war beeindruckt davon, wie sehr sich Albaner in aller Welt gegenseitig helfen. Dieses Gemeinschaftsgefühl einer Zusammengehörigkeit der Albaner in Italien kommt auch in ihrem Dialekt zum Ausdruck, dem Arbëresh-Toskisch der Arbëresh-Communities: Wie stehst du zu den Italo-Albanern? Schließlich ist eine weitere deiner Veröffentlichungen dem italo-albanischen Maler Renzo Collura (1920-1989) gewidmet: Wie kann neben der Sprache auch die Kunst oder Literatur helfen, die Gewalt, die Grausamkeiten des Krieges, der Unterdrückung und des Lebens zu überstehen, indem sie – vielleicht – eine „neue“ Realität unter Einbeziehung des Auslands oder von „Ausländern“ schafft?

 

S.C.: Mir scheint, dass wir Albaner zusammen mit den Ungarn die einzigen beiden Völker sind, die außerhalb der offiziellen Staatsgrenzen mehr Einwohner haben als innerhalb. Wir in Albanien sind also eine Insel mit Albanern, umspült von einem Meer von anderen Albanern. Während 3 Millionen ethnische Albaner in Albanien und 2 Millionen im Kosovo leben, gibt es weitere 5 Millionen, die über die ganze Welt verstreut sind.

In Süditalien haben wir unsere historische Diaspora, die sich nach der türkischen Invasion um das 15. und 16. Jahrhundert von Albanien losgelöst hat. Diese Albaner oder Italo-Albaner haben die Sprache, die Bräuche, die Lieder und alles andere, was die kulturelle Identität Albaniens ausmacht, perfekt bewahrt. Die Albaner pflegen fanatisch die Bräuche und Rituale der Gastfreundschaft und des Glaubens: Der Glaube – „besa“ – im Sinn von „Wort halten“, ist eine grundlegende Institution aller Albaner, wo immer sie sich befinden.

 

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Brandy Club. Albanien 1970er. Foto: anonym (Collection Michel Setboun, Paris)

 

Ein gutes Beispiel dafür war die Gastfreundschaft, die mehr als 25.000 italienischen Soldaten zuteilwurde, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs nach der Kapitulation in Albanien verblieben waren. Das von dir erwähnte Buch über den in Albanien verschollenen sizilianischen Künstler Renzo Collura, aber auch mein Roman „Wegen Urlaub geschlossen“, sind in dieser Zeit angesiedelt. In beiden Büchern versuche ich, die Geschichte mit den Augen der Besiegten zu betrachten, dem Leser eine andere Sichtweise auf die Geschichte zu vermitteln und den Menschen begreiflich zu machen, dass die Geschichte auch von der Literatur lernen kann und nicht nur das Gegenteil der Fall ist.

 

D.R.: Nur als Ergänzung – neben den Albanern und Ungarn leben z.B. auch mehr Iren, Letten und Litauer im Aus- als im Inland... Aber zurück auf Anfang: Dein Roman „Jeder wird verrückt auf seine Art“ ist letztes Jahr auf Deutsch erschienen. Welche Erfahrungen hast du damit in Deutschland oder mit der deutschsprachigen Öffentlichkeit gemacht? Bist du auf Besonderheiten des deutschen Buchmarkts gestoßen oder konntest du ungewöhnliche Reaktionen deines Publikums auf das Buch registrieren? Wann warst du überhaupt zum ersten Mal in deinem Leben im deutschsprachigen Raum?

 

S.C.: Ich war im Februar 1993 zum ersten Mal in Deutschland. Da war ich auf dem Weg von Prag nach München. Es lag Schnee und alles sah aus wie ein riesiger Weihnachtsbaum. Ich fühlte mich an Heinrich Heines großartiges Gedicht „Ein Wintermärchen“ erinnert, das ich noch vom Studium kannte. Der zweite Kontakt, der mich mit Deutschland verbindet, reicht ins Jahr 1999 zurück, als ich zum ersten Mal die Frankfurter Buchmesse besucht und später am internationalen Theaterfestival „Neue Stücke aus Europa“ teilgenommen habe, das zunächst in Bonn und dann in Wiesbaden stattfand. Es handelte sich um eine große Biennale des zeitgenössischen Theaters, und ich war von 2000 bis 2012 als Schirmherr für Albanien dabei. 2010 wurde mein Stück „Allegretto Albania“ im Rahmen dieses Festivals aufgeführt und fand insbesondere beim Kritikerforum so großen Anklang, dass es auf den ersten Platz der Rangliste avancierte. Die Frankfurter Allgemeine schrieb am 28.06.2010 über dieses Ereignis: „Stefan Çapaliku schreibt eine absurde komische Parabel auf die postkommunistische Zeit in einem Land wie Albanien“.

Was meinen Roman auf Deutsch betrifft, so möchte ich meiner Übersetzerin, Frau Zuzane Finger, und dem Berliner Transit Verlag danken. Bisher habe ich viele hervorragende Rezensionen und Kritiken erhalten. Besonders gefreut haben mich Sätze wie dieser: „Anhand fein gezeichneter Figuren und mit oftmals ironisch-sarkastischem Duktus liefert er zugleich eine brillante Studie der politischen Verhältnisse und einer archaischen Familienstruktur, an der alle politischen Zwänge scheinbar abprallen“ (LifePR, Bonn, 03.02.2022).

 

D.R.: Und was sind deine neuen Projekte? Woran schreibst oder arbeitest du gerade? Deine Lyrik- und Prosawerke, darunter viele Theaterstücke und auch wissenschaftliche Aufsätze, sind – außer ins Deutsche – noch ins Englische, Französische, Italienische, Rumänische, Polnische, Bulgarische, Serbische, Mazedonische und Türkische, also insgesamt schon in zehn Sprachen übersetzt worden: Welche Übersetzungen sind derzeit bei dir länderübergreifend auf dem Vormarsch?

 

S.C.: Zurzeit schreibe ich an meinem neuen Roman: ein „Kleines Buch über Redereien“, d.h. eine Geschichte über Gossip, Klatsch und Tratsch. Das wird ein alternativer und experimenteller Roman, in dem ich versuche, Fotografie und Literatur, Bild und Wort – „imago et verbum“ – miteinander zu verbinden.

Ins Deutsche übersetzt Zuzana Finger gerade meinen vorletzten Roman „Ein Engel im Frack“, der wieder beim Transit Verlag in Berlin erscheint. Das Buch ist auch schon ins Französische und Italienische übersetzt worden.

Ich hoffe, dass ich in Zukunft noch tiefere Freundschaften mit deutschen Lesern schließen kann.

Danke für den Raum, den KulturPort.De mir hier widmet.

 

Stefan Capaliku Cover

Stefan Çapaliku. Buchcover in verschiedenen Übersetzungen. V.l.o.n.r.u.: Original albanisch, bulgarisch, serbisch, italienisch, mazedonisch, französisch


Stefan Çapaliku: „Jeder wird verrückt auf seine Art"

aus dem Albanischen ins Deutsche übersetzt von Zuzana Finger, deutsche Erstausgabe,

Berlin, Transit Verlag, 2022

Weitere Informationen (Verlagsseite)

 

Stefan Çapaliku (* 1965 in Shkodra) hat sein Masterstudium in Albanischer Sprache und Literatur 1988 an der Universität Tirana abgeschlossen. Es folgten Auslandsaufenthalte in Italien, der Tschechischen Republik und Großbritannien. 1996 wurde er an der Universität Tirana promoviert. Von 1993 bis 1998 war er Leiter des Studiengangs Literatur an der Universität von Shkodra, bevor er 1998 bis 2005 als Direktor der für den Buchmarkt verantwortlichen Abteilung des albanischen Kulturministeriums tätig war. Seit 2005 ist Stefan Çapaliku Professor für Ästhetik an der Universität von Tirana, wo er am Zentrum für Albanische Studien arbeitet und forscht.

 

 

Zur Buchkritik von LifePR.de (03.02.2022) anlässlich des Erscheinens von „Jeder wird verrückt auf seine Art“ in deutscher Übersetzung.

 

Video der Buchvorstellung von Stefan Çapaliku und seiner deutsch-tschechischen Übersetzerin Zuzana Finger anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung des Romans

„Jeder wird verrückt auf seine Art“ im Buchhändlerkeller Berlin am 17.03.2022

YouTube-Video:

Stefan Çapaliku, Jeder wird verrückt auf seine Art (1:02:03 Std.)

 

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