Ausstellungen mit expressionistischer Malerei gehen immer, ja sind sogar oft genug geradezu überlaufen; aber expressionistische Dichtung? Spielt sie heute überhaupt noch eine Rolle?
Immerhin scheint sich eine berühmte Anthologie expressionistischer Lyrik von 1920 („Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung“) bis heute gut zu verkaufen. Zu den Dichtern dieses wichtigen Buches gehört auch Yvan Goll (1891-1950), aber der ist heute vergessen. Oder?
Yvan Goll, so charakterisiert er sich selbst in Kurt Pinthus‘ „Menschheitsdämmerung“, „Yvan Goll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Deutschland geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“ Bemerkenswert schien ihm das deshalb, weil er aus der Nähe von Paris stammte und seine Muttersprache Französisch war. Und trotzdem schrieb er Deutsch wie ein Deutscher… Zunächst Gedichte, aber der unruhige Geist blieb nicht bei der Lyrik, sondern versuchte sich auch als Romanautor. Jetzt ist einer dieser Romane, „Sodom und Berlin“, in einer frischen Übersetzung erneut aufgelegt worden.
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre veröffentlichte Goll, der damals in Berlin lebte, nacheinander „Die Eurokokke“ (1927), dann „Der Mitropäer“ (1928) und schließlich „Sodom und Berlin“ (1929). Zunächst scheinen alle drei schmalen, schnell zu lesenden Romane in Thematik und Stil einander zu ähneln, aber tatsächlich ist ein jeder von einem eigenen Formwillen geprägt. Und „Sodom und Berlin“ unterscheidet sich deutlich von seinen beiden Vorgängern, die auch heute noch in wohlfeilen Ausgaben erhältlich sind.
Man dürfte „Sodom und Berlin“ als einen Bildungsroman ansehen, wenn Odemar Müller, sein Held, nur innerlich wachsen, wenn er im Verlauf des Geschehens an Statur gewinnen oder dazulernen würde. Aber von seiner Bildung kann zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Vielmehr durchläuft er in schneller Folge verschiedene Stationen, die für ihn alle folgenlos bleiben – als Germanistikstudent in Bonn ist er Mitglied einer schlagenden Verbindung, und nach seiner Zeit im 1. Weltkrieg geht er nach Berlin und gilt gleich an seinem ersten Tag als Gesundheitsminister einer kommenden roten Regierung. Diese Karriere ist so schnell vorbei, wie sie begonnen hat. Schon gründet er zusammen mit dem schwerreichen Mann seiner Geliebten die „Gesubrü“, die „Gesellschaft für universelle Brüderlichkeit“, selbstverständlich ein betrügerisches Unternehmen. Mit ihr will der gehörnte Spekulant viel Geld machen, Odemar dagegen lieber in der guten Gesellschaft Fuß fassen, auch wenn er möglicherweise sogar an den sozialen Auftrag der von ihm in einer einzigen schlaflosen Nacht konzipierten Gesellschaft glaubt.
Die Gesubrü schlägt ein wie eine Bombe, aber Finkelstein, Geldgeber und Ehemann von Odemars Geliebter, lässt sie sehr bald am Aktienmarkt kollabieren. Nur einen Tag später treffen die beiden Rivalen noch einmal aufeinander, mitten auf dem Potsdamer Platz. Odemar ist bereits neu verliebt, aber natürlich hält auch das nur wenige Tage – das Paar verreist schnell nach Paris, dann besucht es eine Insel, die sich Odemar zusammen mit einem Fürstentitel gekauft hat, und schon ist seine „verhängnisvolle Blondine“ auf und davon…
Möglich sind Odemars ultraschnelle Wandlungen und Verwandlungen nur deshalb, weil er eine vollkommen leere Persönlichkeit ist, ein Mensch ohne jeden Charakter. Schon der namenlose Held der „Eurokokke“ hat „keine Leber, kein Herz, keine Seele mehr“ und ist wie alle Jünglinge sonst „blaß und leer“. In genau derselben Weise kann sich Odemar Müller präsentieren: „Ich bin nicht mehr der Dr. Odemar, den Sie kannten. Ich habe mich gewandelt, seelisch erneuert.“ Eben dies könnte er alle zwanzig, dreißig Seiten sagen – er ist ein Proteus, eine Person, die blitzschnell alle möglichen Gestalten annimmt, die immer unterwegs ist zu „einem neuen Dasein, einem neuen Gesetz“, die aber nicht wächst, nicht an Persönlichkeit oder Tiefe des Charakters gewinnt. Deshalb ist „Sodom und Berlin“ kein Bildungsroman, ja nicht einmal das glaubwürdige Porträt eines Individuums. Vielmehr ist Odemar ein soziologischer Typ, so wie alle anderen Figuren von Golls Romanen Typen sind. Wer auf eine psychologisch anspruchsvolle Schilderung von Charakteren hofft, wird deshalb vergeblich warten, wer die verschiedensten Seiten eines Problems beleuchtet haben möchte, kann nur enttäuscht werden – darauf sind diese Bücher nicht angelegt.
Es handelt sich zunächst und vor allem um ein künstlerisches Konzept, vielleicht aber noch zusätzlich um das Defizit eines Autors, dem es an erzählerischem Temperament mangelt, wenn man darunter das Vermögen versteht, lange Handlungsbögen mit lebensvollen Figuren zu basteln. Bereits „Die Eurokokke“ ist doch eher eine Abfolge einzelner (Theater- oder Film-) Szenen, und „Der Mitropäer“, 1928 als zweites der hier besprochenen Romane erschienen, schnappt am Ende ganz unvermittelt ab – plötzlich gibt es so etwas Ähnliches wie ein Happy End, und die Geschichte ist zu Ende.
Immerhin kennt „Der Mitropäer“ eine differenziertere und psychologisch interessante Darstellung von Charakteren. Aber auch dort geht um Typen. Goll schildert drei junge Männer, die alle hoffnungslos in eine Kokotte verliebt sind und allesamt Züge des Autors aufweisen: „Es waren die drei Typen des modernen Jünglings, die die drei Geistesrichtungen von Ost-, Mittel- und Westeuropa personifizierten. Der Russe, der Mitropäer, der Franzose.“ Offensichtlich weiß Goll selbst um seine Schwäche als Erzähler, denn der noch mehr als die beiden anderen nach seinem eigenen Vorbild geschaffenen Hauptfigur attestiert er eine „Manie, zu klassifizieren“.
Golls Stärke liegt weniger im Erzählerischen als vielmehr in subtilen, auffallend sorgfältig und farbig geschilderten Szenen. Hier besitzt seine nicht selten vom expressionistischen Pathos geprägte Sprache große und kraftvolle Schönheit. Was Karl Pinthus in dem Vorwort zu der ersten Ausgabe der „Menschheitsdämmerung“ schrieb, gilt ganz unbedingt auch für die Prosa Yvan Golls: „Und immer wieder muß gesagt werden, daß die Qualität dieser Dichtung in ihrer Intensität beruht.“ Insbesondere die Sprache der „Eurokokke“ genügt allen Ansprüchen einer expressionistischen Prosa; man kann das intensiv nennen, aber den Stil gelegentlich auch grell, aufgeregt oder plakativ finden oder sich an den häufigen Aufzählungen stören. Immerhin, langweilig sind Satzbau und Vokabular an keiner Stelle, und an vielen Stellen ist Golls Prosa geradezu ein Genuss.
Denn die einzelnen Szenen sind von Goll nicht allein gut gesehen, sondern der Autor verfügt auch über die notwendige Sprachgewalt, um sie angemessen darzustellen. Jede einzelne Episode ist in sich atmosphärisch überzeugend und schlüssig. Nur liegt das Talent Golls eben weder in der Darstellung eines vielleicht sogar dramatischen Geschehens noch in der Zeichnung von Individuen. Nicht umsonst ist die überzeugendste Figur in allen drei Romanen der Mitropäer – und das ist ein unverhohlenes Selbstporträt.
In „Sodom und Berlin“ verweist das kenntnisreiche Nachwort Hanns Zischlers, um den Titel zu erklären, auf Marcel Prousts „Sodom und Gomorra“ (den 4. Band der „Suche nach der verlorenen Zeit“, 1924 erschienen). Schon in „Der Mitropäer“ – dieser Roman spielt in Paris – findet sich Proust erwähnt, und in „Sodom und Berlin“ spricht in einem Pariser Bordell eine Prostituierte über ihn. Aber eigentlich stellt „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ stilistisch und inhaltlich das genaue Gegenteil zu Golls kleinen Romanen dar. Prousts berühmte Schilderungen sind von ausschweifender Genauigkeit und von zarter Poesie, wogegen Goll ein grelles Licht auf Berlin oder Paris wirft; und die Figuren Prousts besitzen eine ganz unerhörte Tiefe, sie werden aus immer wieder neuen Perspektiven geschildert und verlieren trotzdem niemals ihre undurchdringliche Fremdheit, wogegen sich die Helden von „Sodom und Berlin“ auf Schlagworte reduzieren lassen.
„Sodom und Berlin“ erinnert an Klabunds ähnlich rasante Romane („Borgia“) oder an die Prosa Gottfried Benns, mit dem Goll bekannt und vielleicht sogar befreundet war. Der Stil ist tatsächlich expressionistisch, wenn man darunter eine gewisse grelle Morbidität versteht: Berlins „Fenster [sind] vereist wie die Augen Sterbender“. „Ach“, heißt es gleich darauf (ebenfalls auf der ersten Seite von „Sodom und Berlin“), „Ach, du sieche, eitrige Stadt: Die Angst deines Pöbels überzieht deine faltige Haut wie erkaltete Lava.“) Und zweifellos ist es auch ziemlich morbide, sich, wie es in der »Eurokokke« geschieht, in einer »Bar de la Mort« zu treffen.
In der „Eurokokke“, die in Paris spielt, phantasiert der namenlose Erzähler angesichts eines beliebigen Passanten: „Vielleicht bist du ein Selbstmörder“. Und er sieht vor seinem inneren Auge, wie sie den Leichnam des Passanten aus der Seine fischen: „Zwei Arbeitslose tragen dich wie eine Latte fort aus der Welt. Schon ist das Fleisch zwischen deinen Augen und Schläfen blauviolett und wird bald eitern, in der Morgue, unter den Eisblöcken.“ Es wäre kein Problem, diese Phantasie mit einem expressionistischen Gemälde zu illustrieren; und es ist ja auch bekannt, dass sich manch expressionistischer Lyriker bemüßigt fühlte, Gedichte über die Morgue zu schreiben. Also: Zu den entsprechenden Bildern strömt das Publikum in die Museen, aber wer liest heute eine solche Dichtung? In ihr geht „alles […] langsam in den Tod über“, und das scheint abzuschrecken, wenn man es in Worte fasst. Dabei erinnert manches an den immer noch populären Rilke, besonders an „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Und dieser Satz: könnte er sich nicht auch in den „Duineser Elegien“ finden: „Die Toten, die haben noch Zeit.“?
Lesenswert sind die drei Romane Golls aus verschiedenen Gründen. Zunächst einmal deshalb, weil er so ganz anders schreibt, als es heutige Autoren tun, von denen kaum einer so formbewusst agiert wie dieser Dichter. Für jedes der drei Bücher hat Goll einen eigenen Stil gefunden und ein eigenes Tempo; man spürt, dass es derselbe Autor ist, aber es sind doch drei sehr verschiedene Romane. Und dazu kommt ein zeitkritisches Moment, das „Sodom und Berlin“ bestimmt (nämlich in der Konzeption der Hauptfigur) und das noch deutlicher in der „Eurokokke“ hervortritt. Dieses Büchlein ist eine merkwürdige Mischung aus satirischer Zeitkritik, der Rezeption Oswald Spenglers und frühexistentialistischen Grübeleien, eine Mixtur, die lange zu denken gibt.
Goll spricht von der Eurokokke, die auch noch in „Sodom und Berlin“ angesprochen wird, als sei sie ein Bazillus – sie befällt zunächst die Steine von Notre Dame, wird aber auch auf den Seiten eines Buches aus dem 15. Jahrhundert und bald darauf auf einem halbverhungerten Eselchen gefunden. Schließlich erweist sich der Icherzähler als der erste Mensch, der diesen Bazillus trägt, „der die europäische Kultur zerfrißt“ und „den Geist der Dinge“ zerstört. Langeweile und Ekel sind die Symptome, an denen die Menschen leiden, die von der Eurokokke befallen sind, und manch ein Leser wird bei dieser Anrufung des Ekels an Sartre denken. Vielleicht hat der Philosoph ja von Golls „Bar de’l Ennui“ gelesen und war beeindruckt?
Die Dichtung der zwanziger Jahre bestand nicht nur aus Brecht und Döblin und natürlich Thomas Mann. Es gab eine Vielzahl von interessanten Autoren, deren Werk unter günstigeren Umständen wegweisend hätte sein können; und einer von ihnen war Yvan Goll.
Yvan Goll: Sodom und Berlin
Aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Meier.
Mit einem Nachwort von Hanns Zischler.
Manesse Verlag 2021
183 Seiten (auch als eBook)
ISBN: 978-3717525264
Yvan Goll: Der Mitropäer
Mit einem Nachwort von Thomas Spring.
Wallstein Verlag 1987
168 Seiten
ISBN: 978-3892443971
Yvan Goll: Die Eurokokke
Faksimile der Erstausgabe.
Mit einem Nachwort von Barbara Glauert-Hesse und Zeichnungen von Georges Annenkoff.
Wallstein Verlag 2002
Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus
Mit Biografien und Bibliografien neu herausgegeben von Kurt Pinthus.
Rowohlt Buchverlag 2019
448 Seiten
ISBN: 978-3498001384
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