Ein Besuch in der Hölle. Mehr als eine Göttliche Komödie
Franziska Meier und Kurt Flasch machen uns mit der „Göttlichen Komödie“ bekannt.
Dante Alighieri als der große Nationaldichter Italiens ist ein Gigant wie Shakespeare, Goethe oder Cervantes, eine alles überragende, eine singuläre Gestalt. Aber wenn die meisten von uns wirklich Goethe gelesen oder Don Quichote wenigstens auf seiner Rosinante vor Augen haben und Shakespeare schon im Theater oder im Kino begegnet sind, so hat sich doch kaum einer von uns tatsächlich um die „Göttliche Komödie“ bemüht.
Ich gebe zu, vor langer Zeit einmal mit der Lektüre begonnen, das Buch aber ziemlich schnell wieder aus der Hand gelegt zu haben. Vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen? Denn die Romanistin Franziska Meier hat zwei Bücher vorgelegt, in denen nicht nur die Bedeutung Dantes für die europäische Literatur schön herausgearbeitet wird, sondern die auch Lust auf die Lektüre machen.
Das gilt besonders für den ersten, bereits seit drei Jahren vorliegenden Band. In dem schmalen und entsprechend wohlfeilen Büchlein findet der Leser eine Einführung in Dantes Hauptwerk vor, die – natürlich in Auswahl und in aller Kürze – die wichtigsten Aspekte darstellt. Wie der römische Dichter Vergil den „Wanderer“, also Dante selbst, durch Hölle und Fegefeuer ins Paradies führt, so nimmt die Autorin den Leser an die Hand und geleitet ihn durch das Riesenwerk. Sie erzählt die äußerliche Geschichte vom Eintritt in das Totenreich nach und gibt Erklärungen der mythologischen, theologischen oder philosophischen Zusammenhänge, die den wenigsten Lesern präsent sein werden. Auch erläutert sie uns die Zusammenhänge mit Dantes Leben, die in der Riesendichtung reflektiert werden. Besonders wichtig sind hier die Bedeutung von Florenz, denn Dante lebte ja im Exil fern seiner geliebten Heimat, und die Namen längst vergessener Personen, von denen keiner wichtiger sein kann als Beatrice, seine große Liebe, der er endlich im Paradies wiederbegegnet.
Diese kommentierende Nacherzählung ist so gelungen, dass manch einer es sich vornehmen wird, doch einmal ganz ernsthaft die „Göttliche Komödie“ zu lesen, denn so, mit Hilfestellung, wird sich dem Leser vieles erschließen, das ihm zuvor notwendig verborgen und entsprechend fremd, ja langweilig gewesen ist. Selbst bei hochkultivierten Lesern wie zum Beispiel Ortega y Gasset stößt die „Göttliche Komödie“ seit langem auf Unverständnis. Er nannte sie, was nicht gerecht sein kann, „das alte, geniale, aber blutleere Schauspiel“, und es scheint besonders das Gotische an diesem Werk zu sein, das ihn abstieß – an ihrer „pfeilähnlich über das Wirkliche hinausschnellenden Seele, ihrer trunkenen Freude am Unergründlichen und ihrem Hang zur Weltflucht“ fand einer wie er kein Gefallen. Aber wurde er damit der „Göttlichen Komödie“ gerecht? Meier zeigt uns, dass diese Dichtung keineswegs emotionslos und schon gar nicht blutleer ist – und das ist kein kleines Verdienst.
Vielleicht sind es sogar die durch und durch gotischen Passagen, die zu lesen sich lohnt. Das gilt zum Beispiel für die Lichtmetaphysik im letzten Teil des Werkes. Heute witzelt man gerne „Komm ins Licht!“, aber der Wanderer geht wirklich ins – natürlich göttliche – Licht, an dessen Glanz und strahlende Fülle er sich erst mühsam gewöhnen muss. Auch in Beatrices Gesicht, das sie nicht von Gott abwendet, versammelt sich das Licht in einer dem Wanderer zunächst unerträglichen Intensität. All dem liegt ein Zusammenhang von Licht und Wahrheit zugrunde, den wir überhaupt nicht mehr erkennen können, denn wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass wir nicht der Wahrheit begegnen, wenn wir uns umschauen. Wir haben uns daran gewöhnt, nicht mehr unseren Augen zu trauen.
Ist die Verbindung von Licht und Wahrheit eine zeitbedingte fixe Idee, die wir als einen Teil der Geistesgeschichte zur Kenntnis nehmen sollten – als mittelalterlichen Humbug –, ohne sie uns zu eigen zu machen, oder scheint hier in dem Zusammenhang von göttlicher Erleuchtung und Moralität ein Verhältnis auf, das wir zu unserem Schaden vergessen haben? Mit anderen Worten: Tritt uns hier ein historisches Weltbild entgegen, das längst und wohl auch zu Recht unter den Horizont gesunken ist, oder können wir von Dante und überhaupt von Menschen jener Zeit noch etwas lernen? Kann uns eine uralte Dichtung helfen, unsere eigene Zeit zu verstehen? Als der Amerikaner Robert Rauschenberg die „Göttliche Komödie“ illustrierte, verpflanzte er – so die Darstellung Meiers – „Dantes Florentiner Inferno in das Amerika unter dem Präsidenten John F. Kennedy. Er hielt Gericht über die heimische Konsumgesellschaft.“ Meier hält es für wesentlich, dass Rauschenberg nicht mehr zwischen Pop- und hoher Kultur unterschied; aber ist die direkte Übertragung moralischer Kriterien auf oder in die Kunst nicht ebenso grundstürzend?
Die Gliederung des Infernos wie des Fegefeuers ist von der Rangordnung der Todsünden bestimmt. Todsünden? Was soll das denn sein? Selbst strenge Katholiken runzeln heute ratlos die Stirn. Unter den Todsünden spielt der Hochmut in der „Göttlichen Komödie“ eine besondere Rolle, weil Dante sich diese Sünde selbst attestiert – nicht zuletzt wegen seines von Ehrgeiz nicht gänzlich freien literarischen Projekts, das ja tatsächlich gigantische Ausmaße besaß und praktisch sein gesamtes Leben bestimmte. Heute mag von „Sünde“ kaum noch jemand hören, schon gar nicht von Todsünde, sondern wir kennen nur noch „Werte“, die zumindest sehr, sehr blass bleiben, wenn sie nicht ohnehin verlogen sind.
Über die Jahrhunderte hinweg – die „Göttliche Komödie“ ist gute siebenhundert Jahre alt! – ließen sich Maler und Bildhauer von Dante inspirieren und haben sich immer wieder große Schriftsteller an der Übertragung seiner kunstvollen Terzinen versucht, in denen die Wanderung durch das jenseitige Reich geschildert wird. Heute kann man sich unter anderem für die Übersetzung in Verse durch Karl Witte (1800-1883) entscheiden, der, obwohl eigentlich ein Juraprofessor, sich größte Verdienste um die Dante- und Boccaccio-Forschung erwarb. Oder man wählt die erst jüngst erschienene Prosaübertragung von Kurt Flasch, des heute zweifellos bedeutendsten Kenners der mittelalterlichen Philosophie. Ob Flaschs Prosa, ob Wittes Verse – das muss jeder für sich entscheiden. Bei der Ausgabe mit der Übersetzung Wittes muss man noch wissen, dass es auch die Illustrationen des genialen Gustave Doré zeigt.
„Dante“, schreibt Egon Friedell in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“, „hat mit seinem Flammenpinsel eine ganze Hölle angezündet, deren Feuer unlöschbar durch die Jahrhunderte brennt“. Diesem Feuer – heute nennt man das „Rezeptionsgeschichte“ – hat Franziska Meier ihr zweites Buch gewidmet, in dem sie sich um die Darstellung der Bedeutung bemüht, die Dantes Riesenwerk für die europäische Literatur, aber natürlich auch für die bildende Kunst gewonnen hat. Die sehr gelehrte und vielseitig interessierte Autorin erläutert in vierzehn Kapiteln, warum, in welcher Weise und mit welchen Folgen sich Dante der Volkssprache zuwandte, die großen Teilen seines höfischen Publikums noch kaum literaturfähig schien, sie erklärt die Bedeutung der Religion und den Unterschied zwischen „Divinität“ und „Sakralität“ und schließlich die Ausstrahlung des gewaltigen Werkes auf andere europäische Länder. Und auch für unsere Zeit behauptet die Autorin eine unvermindert große Ausstrahlung. „Der Elite“, schreibt sie, sei die „Göttliche Komödie“ heilig, „der Popkultur ein Jungbrunnen.“
1902 gelangte die „Göttliche Komödie“ sogar nach China, aber inwiefern die skurrile Geschichte eines chinesischen Dramas uns interessieren soll, erschließt sich nicht so ohne weiteres, nicht einmal dann, wenn wir hören, dass auch Mao Zedong diesen Autor schätzte. Es folgen noch andere Schriftsteller, aber die Lektüre dieser Passagen ist nicht sehr interessant – schon deshalb, weil kaum ein europäischer Leser Meiers Zugang zu dieser Literatur haben wird. Anders steht es mit Kapiteln 11 und 12, in denen Meier auf die Rolle eingeht, die die „Göttliche Komödie“ in den Beschreibungen und Deutungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, besonders aber der Arbeits- und Vernichtungslager eingeht. In all dem erweist sich der „chamäleonhafte Charakter“ des Buches.
In diesem Zusammenhang: Es ist etwas unverständlich, dass die Autorin nicht so zitiert, dass der Leser sich die entsprechenden Schriften in der nächsten Bibliothek besorgen kann. Das gilt bereits für die Einführung, die sich nicht zuletzt an Studenten richtet, aber auch für das letztere Buch, das zwar drei Register kennt (Orte, Figuren aus der Commedia, wirkliche Personen), aber weder Fußnoten noch ein Literaturverzeichnis. Trotz dieses Mangels sind beide Bücher uneingeschränkt empfehlenswert – sie sind in einem schönen Deutsch geschrieben und bieten jede Menge Information zu einem der bedeutendsten Werke der Weltliteratur.
Franziska Meier: Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie. Biographie eines Jahrtausendbuchs.
214 Seiten, Beck Verlag 2021
978-3406767234
Franziska Meier: Dantes Göttliche Komödie. Eine Einführung.
128 Seiten, Beck Verlag 2018
978-3406719295
Dante Alighieri: Commedia. In deutscher Prosa von Kurt Flasch.
640 Seiten, Fischer Taschenbuch 2013
978-3596905959
Dante Alighieri: Die göttliche Komödie.
544 Seiten, Anaconda Verlag
978-3938484111
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