Literatur
Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß16

Tetiaroa verschlug Eric Becher jeden Morgen aufs Neue die Sprache. Das zweiundvierzig Kilometer nördlich von Tahiti gelegene Atoll mit seinen dreizehn kleinen Inseln (Motus), die sich wie eine Perlenkette um den Hals der kristallklaren Lagune legten, war eine faszinierende Naturschönheit, dessen fragiles Ökosystem durch den ansteigenden Meeresspiegel in absehbarer Zukunft allerdings stark gefährdet war. Aber noch fanden hier über dreißigtausend einheimische Seevögel Zuflucht, diente das Korallenriff den Meeresschildkröten als Brutstätte, war es die Heimat der größten Landkrabbe der Welt.
Dass sich Tetiaroa, anders als Bora-Bora und Moorea, dem Zugriff des weltweiten Geldadels erfolgreich entziehen konnte, war dem Schauspieler Marlon Brando zu verdanken, der das Südseeatoll nach Beendigung der Dreharbeiten zu dem Film „Meuterei auf der Bounty” für neunundneunzig Jahre gepachtet hatte. Kurz vor seinem Tod hatte Brando verfügt, das Riff unter Schutz zu stellen. Die einzigen Gebäude, die man auf Tetiaroa fand, waren die fünfunddreißig auf dem Motu Onetahi gelegenen flachen Villen des neuen Hotelressorts „The Brando”, das dem von Maeva gebildeten Wissenschaftsrat der URP vorübergehend zur Verfügung gestellt wurde. Die zwischen Palmen versteckten Bungalows waren nach den Gesetzen der Baubiologie entstanden, ihre mit Pandanus gedeckten Dächer verschmolzen mit der Landschaft und waren vom Wasser aus kaum zu sehen. Eine umweltfreundliche, mit Meerwasser betriebene Klimaanlage sorgte dafür, dass die dreizehn Wissenschaftler, die hier in Klausur gegangen waren, trotz aller hitzigen Debatten immer einen kühlen Kopf bewahrten. Ihre Aufgabe war klar definiert. Sie sollten erarbeiten, was in der etwas schwammig gehaltenen Satzung der URP angesichts der dramatischen Entwicklungen auf diesem Planeten unbedingt nachgebessert werden musste. Über die neuen Bedingungen, an die sich jede Mitgliedsregion in Zukunft streng zu halten hatte, wurde natürlich sehr kontrovers diskutiert, das blieb unter Wissenschaftlern nicht aus.
Eric Becher hatte es sich während der zwei Wochen, in denen er und seine Kollegen die neuen Eckpunkte festzulegen versuchten, zur Gewohnheit gemacht, noch vor dem Frühstück zu einem ausführlichen Spaziergang aufzubrechen. Er liebte es, barfuss über den Strand zu laufen, mit dem einen Bein im seichten Wasser, mit dem anderen im warmen Sand. Über ihm glitzerten die weißen Bäuche der majestätischen Sturmvögel in der aufgehenden Sonne, die ihn auch dann noch im Auge behielten, wenn sie von der Thermik in aberwitzige Schwebemanöver gezwungen wurden. Zu seiner Linken raschelte die schmalstämmige Vorhut des Palmenhains mit den Blättern, ihre Kronen flatterten wie Fahnen in der frischen Brise. Nach etwa fünfhundert Metern blieb der Hain stehen, als hätte man ihm einen Befehl erteilt. Vor ihm breitete sich eine spitz zulaufende cremefarbene Sandwüste aus, die von dem stillen Wasser der Lagune zärtlich geküsst wurde. Dies war der Platz, an dem er sich für gewöhnlich niederließ, um seine Gedanken im türkisblauen Farbenspiel des Stillen Ozeans zu ertränken. Der betäubende Duft der vom Winde verwehten Blüten des Tafano-Baums half ihm dabei. Der Tafano-Baum wuchs ausschließlich auf diesem Atoll und blühte nur nachts. Bei Sonnenaufgang warf er seine Blüten ab, deren zarter Duft einen glauben ließ, dass man soeben die Pforte zum Paradies durchschritten hätte.
Zu Bechers Überraschung war er heute Morgen nicht allein. Die Figur, die in einiger Entfernung splitterfasernackt aus dem Wasser stieg, hatte ihn zunächst nicht bemerkt, winkte ihm jetzt aber freundlich zu. Becher hockte sich in den Sand und vermied jeden weiteren Blickkontakt, was aber nicht verhindern konnte, dass er, sozusagen im Seitenfenster seines Blickfeldes, schemenhaft mitbekam, wie sich der junge Mann, denn um einen solchen handelte es sich, auf einem Fuß hüpfend in die Hose zwängte. Nachdem er sich das T-Shirt übergestreift hatte, steuerte er direkt auf ihn zu.
„Doktor Becher…!”, rief er erstaunt, als er nahe genug heran gekommen war. „Seit wann schläft die Wissenschaft nicht mehr?”
„Seit wann sind Sie zurück, Steve? Wir haben Sie erst morgen erwartet, zusammen mit Maeva, Rajani und Omai.”
„Ich habe mir angewöhnt, immer einen Tick schneller zu sein, als der Rest der Welt”, entgegnete Steve lachend und strich sich das nasse Haar mit den Fingerspitzen aus der Stirn. „Rudolf hat mich im Boot mitgenommen, die anderen kommen heute mit dem Wasserflugzeug.” Er setze sich und hielt das Gesicht in die Sonne. Dabei kaute er auf einer dünnen Baumwurzel, deren Fasern er in regelmäßigen Abständen in den Sand spuckte.
„Wie war Ihre Europareise?”, fragte Becher. „Was haben Sie für einen Eindruck von den Schamanen? Glauben Sie, dass ihre Arbeit in den Regionen Erfolg haben wird?”
„Ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen”, antwortete Steve. „Ich fürchte, dass die Menschen in good old Europe die esoterischen Botschaften für faulen Zauber halten werden.”
„Und Sie? Konnten Sie mit den Erklärungen der einzelnen Delegationen etwas anfangen? Das Protokoll der Abschlussveranstaltung in La Rochette liegt uns ja vor. So sprach der Vertreter der Shuar beispielsweise davon, dass die Menschen die Spiritualität erst wieder lernen müssen und dass die dramatische Weltlage helfen könnte, die Schlafenden wachzurütteln. ›Die Wahrheit‹, so sagte er, glaube ich, ›kann nicht erlogen werden, sie besiegt am Ende alles. Nur sie kann die Menschen im Innersten verändern.‹ Das klingt doch kraftvoll, fast zuversichtlich.”
„Sie haben sich alle recht zuversichtlich geäußert. Das ist es ja, was mich so irritiert. Woher nehmen diese Leute ihre Zuversicht? Welche unumstößliche Wahrheit meinen sie? Jeder Mensch hat doch seine eigene Wahrheit…”
Eric Becher nickte bedächtig mit dem Kopf, er schien sich seine Antwort genau zu überlegen. „Ich bin Quantenphysiker, das wissen Sie”, begann er seine Replik in einem auffallend nachsichtigen Ton. „Die Quantenphysik ist in der Lage, eine Brücke zu bauen zwischen dem religiösen Potenzial des Menschen und seinem Verstand, zwischen Religion und Wissenschaft. Deshalb stimmt es mich optimistisch, dass das Experiment mit den Schamanen gelingen wird. Natürlich hadert die klassische Physik bis heute mit uns. Der Vorwurf lautet auf Verrat am Ideal eines rationalen Weltbildes, auf Mystizismus oder zumindest Beihilfe dazu. Dabei lässt sich, was heute noch als paranormal gilt, durchaus wissenschaftlich erklären. Diese Erklärungen fordern dem Zuhörer jedoch einiges ab. Er muss sich von seiner herkömmlichen Denkweise verabschieden, die ja doch nur durchretten will, was der Verstand ihr diktiert. Der Verstand tut nichts anderes, als ständig zu analysieren und zu fragmentieren, er nimmt die Welt auseinander, anstatt sie als Ganzes zu betrachten. Unser Verstand ist dazu gedacht, die Welt zu manipulieren, damit wir sie auf unsere Art begreifen und greifen können, was für das Überleben der menschlichen Spezies natürlich nicht unwichtig ist. Mit der eigentlichen Wahrheit aber hat das nichts zu tun. Was wir als Welt, als Realität wahrnehmen, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Realität kommt vom lateinischen res, das Ding. Der Mensch lebt in einer dinglichen Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit ist viel mehr als das.”
Steve hatte von Eric Becher zum ersten Mal durch dessen Streitschrift „Dumm gelaufen” erfahren, die im Hause Maevas auslag. Er mochte diesen Mann. Er mochte seine Stimme, er mochte die Art, wie er seine Gedanken formulierte, wie er sie gleichsam mit den Händen aus der Luft griff und formte. Becher vermittelte den Eindruck, als würde er jeden Moment auf eine Goldader der Erkenntnis stoßen. Die Leidenschaft, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, sobald er sich erklärte, zog einen derart in den Bann, dass man plötzlich zu ungeahnter Aufmerksamkeit fähig war.
„Man dachte ja zunächst”, fuhr Becher fort, „dass das Atom das kleinste aufzufindende Teilchen ist. Dann hat man festgestellt, dass es noch eine Struktur hat. Irgendwann fand man heraus, dass sich hinter dieser Struktur eine Form verbirgt, die unteilbar ist, die aber eine viel fundamentalere Bedeutung hat als Materie. Wir bezeichnen diese Form hinter der Materie als Geist, der letztlich der Ursprung allen Seins ist. Jetzt fragen Sie sich mit Recht, wie soll ich mir das vorstellen, eigentlich bräuchte es eine neue Sprache, um mir das nahe zu bringen. Richtig, aber diese neue Sprache gibt es bereits, es ist die Quantenphysik. Die Quantenphysik hat herausgefunden, dass Geist und Materie sich zueinander verhalten wie die Ahnung zum Gedanken. Bevor wir einen konkreten Gedanken fassen, gehen wir durch ein Stadium, wo wir sagen, ich habe eine Ahnung. Und jetzt frage ich Sie, was ist eine Ahnung? Man kann es nicht sagen. Wenn wir nämlich über das sprechen, was eine Ahnung ist, verwandeln wir die Ahnung schon in etwas Konkretes, in Bilder. Aber die Ahnung kommt, bevor man gesprochen hat. Wir können also sagen, die Wirklichkeit hat mehr die Form einer Ahnung, bevor ein konkreter Gedanke in unserem Kopf willkommen ist. Jede Ahnung führt zu einem konkreten Gedanken, aber wenn der da ist, verschwindet die Ahnung und das, was ursprünglich da war, ist nun auf diesen einen Gedanken beschränkt, das andere ist verschwunden. Eigentlich handelt es sich jedes Mal um einen wahren Massenmord an gedanklichen Angeboten, welche sich ebenso gut hätten zeigen und manifestieren können.”4
Becher musste schmunzeln, die Idee mit dem Massenmord war ihm zum ersten Mal gekommen. Er unterbrach seinen Diskurs, um Steve ein wenig Zeit zu geben, sich auf der neuen Ebene, die er ihm gerade eröffnete, zurechtzufinden.
„Walter Thurner sprach von der Welt als ›Meer der unendlichen Möglichkeiten‹, in ihm ist alles gespeichert, was jemals von irgendeiner Kreatur gedacht oder gefühlt wurde oder noch gedacht oder gefühlt werden wird. Das Meer der unendlichen Möglichkeiten ist das allumfassende Ganze, in dem die Materie nur ein unbedeutender Ausfluss ist. Materie ist geronnener Geist. Materie entsteht durch eine Gerinnung des Geistes. Sie ist sozusagen die Kruste des Geistes. Was geronnen ist, hat aber an der Evolution nicht mehr teil und wird nur noch als Mittel und Werkzeug benutzt, um die nächsten Evolutionsstufen vorzubereiten. Die treibende Kraft ist immer das Geistige.”
Steve warf die Baumwurzel weg, auf der er herumgekaut hatte. „Die Schwierigkeit der Quantenphysik besteht nun darin”, hörte er Becher sagen, „dass sie keine konkreten Beweise auf den Tisch legen kann. Sobald nämlich der Verstand mitspielt, ist das Ergebnis immer infrage zu stellen. Die Quantenwelt ist für den menschlichen Verstand eine No-go-Area. Quanten sind extreme Wesenheiten, die wissen, ob ich hinschaue oder wegschaue. Wenn ich bewusst hinschaue, bringen sie andere Ergebnisse, als wenn ich wegschaue. Sie spielen mit uns und werfen uns einen ›Zufall‹ nach dem anderen in den Weg. Mehr als eine Ahnung lassen sie jedoch nicht zu. Aber diese Ahnung ist wertvoller als jede Information, die durch den Verstand gefiltert wird. Sie berührt unseren innersten Wesenskern, ich will es mal pathetisch ausdrücken; sie küsst unser Herz und formt unsere Seele. Sie macht unsere Verbundenheit mit dem allumfassenden Ganzen – man könnte es auch Gott nennen – deutlich. Die alten Kulturvölker hatten dieses Wissen. Sie hatten zwar kein Wort für Religion, das brauchte es auch nicht, ihr ganzes Leben war Religion. Ich möchte an dieser Stelle Maeva zitieren, denn was sie zum Schluss ihrer Inaugurationsrede in Sydney gesagt hat, wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Manchmal frage ich mich, woher sie dieses Grundwissen hat, aber Fragen dieser Art sind natürlich müßig. ›Jede körperliche Erscheinung, die wir wahrnehmen‹, sagte sie, ›ist lediglich Bestandteil einer sich permanent verändernden Oberflächenstruktur. Alles Materielle gleicht den Wellen auf dem Ozean. Sie kommen und gehen, der Ozean aber bleibt bestehen. Die Tatsache, dass auch wir eines Tages unsere Gestalt verlieren und eintauchen werden in seine Tiefe, bedeutet ja nur, dass wir endlich wieder eins werden mit seiner kraftvollen Energie.‹”
„Sie hat noch eine andere, nicht unerhebliche Bemerkung hinzu gefügt”, ergänzte Steve: „Je nachdem, wie wir gelebt haben, tragen wir zu seiner Reinigung oder Verunreinigung bei, werden wir von ihm entweder willkommen geheißen oder als kontaminierte Substanz behandelt. Ich frage Sie also: Wer muss mehr Angst vor dem Tod haben: diejenigen, die den Regeln der Schöpfung entsprechend gelebt haben, oder diejenigen, die diese Regeln in ihrer kurzfristigen irdischen Existenz aufs Gröbste missachteten?”
„Das hatte ich vollkommen vergessen”, antwortete Becher, „ich hatte mich wohl zu sehr auf das Gleichnis mit dem Ozean kapriziert. Man soll nicht sagen, der Ozean ist aus Wellen zusammengesetzt. Das bringt es nicht. Wenn ich oberflächlich hingucke, stimmt das schon. Für den oberflächlich Denkenden ist das auch gut, jemand der Schifffahrt betreibt, den interessiert ja nicht, was zwei Kilometer unter der Oberfläche ist. Was Maeva dazu in Sydney gesagt hat, hat sie in der Sprache des Herzens formuliert. Sie beherrscht diese Sprache besser, als die meisten Menschen heutzutage. Aber ich bin davon überzeugt, dass alle Menschen Zugang zu dieser Sprache finden können, man muss sie nur aufwecken. Und das können die Schamanen, Steve, glauben Sie mir.
Aber zurück zur Quantenphysik. Oder nervt Sie das?”
Steve schüttelte den Kopf.
„Gut. Ich weiß, das alles ist mit unserem herkömmlichen Physikverständnis nicht vereinbar. In unserer Realität ist nicht möglich, was in der Quantenwelt passiert. Und dennoch passiert uns nur, was dort vorgeschrieben ist. Ich möchte es vergleichen mit dem Schreiben eines Gedichtes. Die Natur hat vor, ein Gedicht zu schreiben, Inhalt und Form stehen noch nicht fest. Aber sie weiß, dass es nie ein Gedicht geben wird, wenn die Buchstaben gegeneinander kämpfen, um herauszufinden, welcher von ihnen der Bessere ist. Also sorgt sie dafür, dass sie sich arrangieren und erste Kombinationen bilden, die zunächst nur ein fürchterliches Blabla ergeben. Aber dieses Blabla ist bereits eine erste Ausdrucksform, die höher zu bewerten ist, als der einzelne Buchstabe. Die Kooperation hat sich also bewährt. Mit der Zeit differenziert sich das Blabla aus und bildet Worte, die sich irgendwann zu Sätzen fügen. So ungefähr funktioniert Evolution. Welches Gedicht am Schluss entsteht, ist nicht vorherbestimmt. Dass ein Ziel vorgegeben ist, auf das wir uns hin entwickeln, das sehe ich überhaupt nicht. Die Schöpfung der Welt ist ein andauernder Prozess und in jedem Augenblick ein Gesamtkunstwerk. Nichts und niemand kann sich aus diesem Prozess herausnehmen. Das ist keine Behauptung, das ist ein Naturgesetz. Schon mal was von der Akasha-Chronik gehört, Steve? Mit der Akasha-Chronik ist ein übersinnliches ›Buch des Lebens‹ gemeint, das in immaterieller Form ein allumfassendes Weltgedächtnis enthält. Der Begriff Akasha leitet sich aus dem Sanskrit her und steht für Himmel, Raum oder Äther. Die Vorstellung eines Weltgedächtnisses hat in Europa eine lange Tradition, sie geht bis auf Plotin zurück, der zweihundert Jahre vor Christus gelebt hat. Helena Petrovna Blavatsky, die Begründerin der modernen Theosophie, sprach von metaphysischen Tafeln, die auf Astrallicht gedruckt sind. Sie bezeichnet die Chronik als Aufzeichnung von allem, was war, ist oder je sein wird. Die Urtraditionen wussten das und wissen es noch heute, die Kunst weiß es und jetzt weiß es endlich auch die Wissenschaft.
Es heißt ja, dass sich unser Gehirn während des Schlafs gegen die Außenwelt schützt, dass es dann viel weniger empfindlich auf Geräusche, Gerüche und Licht reagiert. Dagegen wird es von innen her mit einem wahren Traumgewitter bombardiert. Milliarden von Bildern tauchen so jede Nacht auf und zerstreuen sich sofort wieder. Sie umgeben die Erde wie ein Umhang. Ein Umhang, der von allen Kulturen, von allen Menschen, die jemals gelebt haben, gewebt wurde und in den wir uns jederzeit hüllen dürfen. Er ist vorhanden, sozusagen als Erbe der Menschheit. Wenn wir also von einer besseren Welt träumen, so können wir das nur deshalb tun, weil wir uns an diesem Schatz bedienen dürfen. Der Mensch hat sehr wohl die Möglichkeit, seine Zukunft zu gestalten. Die Zukunft ist nicht auf eine noch nicht gewusste Vergangenheit zu reduzieren, die Zukunft ist wirklich offen und deshalb brauchen wir das Instrument der Hoffnung. Die Hoffnung gibt uns eine Vorstellung davon, wie wir in Zukunft leben wollen. Hoffnung kann realisiert werden! Sie ist praktisch die Energiequelle der Zukunft. Die Naturgesetze sagen uns, wir können mit der Zukunft spielen, kreativ spielen.
Goethe hat dazu ein paar wunderbare und stimmige Worte gefunden: „In dem Augenblick, in dem man sich endgültig einer Aufgabe verschreibt, bewegt sich die Vorsehung auch. Alle möglichen Dinge, die sonst nie geschehen wären, geschehen, um einem zu helfen. Ein ganzer Strom von Ereignissen wird in Gang gesetzt durch die Entscheidung, und er sorgt zu den eigenen Gunsten für zahlreiche unvorhergesehene Zufälle, Begegnungen und Hilfen, die sich kein Mensch vorher je so erträumt haben könnte. Was immer du tun kannst oder wovon du träumst, fang es an. In der Kühnheit liegen Genie, Macht und Magie.”
Eric Becher lachte. „Lassen Sie mich noch kurz den Unterschied zwischen den klassischen Naturwissenschaften und der Quantenphysik erklären”, sagte er. „Dazu benutze ich gerne das Beispiel des Fischers, der Stein und Bein schwört, dass es keinen Fisch auf der Welt gibt, der kleiner als fünf Zentimeter ist. Er glaubt die Wahrheit auf seiner Seite, da sie sich für ihn bei jedem Fang aufs Neue bestätigt. Schließlich fragt ihn jemand, wie groß denn die Maschenweite seines Netzes ist. Der Fischer misst nach und stellt fest, dass sie genau fünf Zentimeter beträgt. Ich übertrage dieses Bild gerne auf die Naturwissenschaften, die auch nicht in der Lage sind zu erkennen, dass sich ihnen die Natur nur so vorstellt, wie es ihre Messmethoden erlauben. Also: Welche Art von Wirklichkeit erkenne ich, wenn ich mit dieser Art zu denken herangehe? Das ist wichtig zu wissen, weil wir so stolz sind auf unsere intellektuellen Fähigkeiten, auf unseren Verstand. Aber ist unser Verstand wirklich geeignet, die Wirklichkeit zu erfassen? Oder ist er vielmehr nur ein Instrument, das die Evolution hervor gebracht hat, um unsere Hand ein bisschen geschickter zu machen, damit wir den Apfel vom Baum holen können, den wir für unsere Ernährung brauchen. Ich glaube, dass er das ist.”5
Er stand auf, klopfte sich den Sand von der Kleidung und legte seinen Arm einmal kurz und kräftig um Steves Schulter. „Die Zeit ist eine Kugel …”, bemerkte er schmunzelnd, als sie den Palmenhain erreichten, „wenn eine Seele nach einem neuen Körper angelt, kann sie die Zeit betreten, wo sie will. Ich persönlich mag die Zeit nicht. Sie ist ein Parasit, sie braucht den materiellen Nachschub, damit sie überhaupt sichtbar wird. Sie hängt den Körpern und Dingen wie eine Würgeschlange um den Hals. Im Meer der unendlichen Möglichkeiten spielt sie keine Rolle, nicht die geringste. Eigentlich kann man sagen, dass es die Welt, so wie wir sie wahrnehmen, gar nicht gibt. Unsere Welt ist eine Illusion. Wer sagt mir denn, dass all das hier noch existiert, wenn ich es nicht mehr mit eigenen Augen ansehen kann?” Er drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal um sich selbst, als wollte er die vergänglichen Bilder, die einen so tiefen Eindruck auf ihn machten, ein für allemal einsammeln – zum persönlichen Gebrauch, wenn die Quanten wieder übernahmen…
Steve bückte sich, hob eine Handvoll Sand auf und ließ ihn durch die Finger rieseln. „Ich liebe diese Illusion”, sagte er, „wer braucht angesichts dieser Illusion schon eine Realität…?”
Feixend und gut gelaunt erreichten sie das „Brando”, wo sich das Buffet unter der Last von Saftkaraffen und Fruchtschalen nur mühsam auf den Holzbeinen halten konnte.
Cording griff nach der Reisetasche und war gerade im Begriff, das Hotelzimmer in La Rochette zu verlassen, als er in seinem Kopf einen dumpfen Schlag verspürte. Orientierungslos taumelte er durch die Stube, die Welt geriet in Schräglage und was er von ihr sah, glich einer brüchigen Folie, auf der die vertrauten Bilder nicht mehr zuzuordnen waren. Der Bettpfosten, an dem er sich festzuhalten versuchte, entglitt seinen Händen. Das Licht, das durch die Fenster fiel, kam ihm seltsam dreckig vor. Er wusste nicht, wo er war und wer er war. Jegliches Zeitgefühl kam ihm abhanden. Er spürte nur diesen unheimlichen Sog, der an ihm zerrte, als wollte ihm jemand seine bisherige Existenz vom Leibe reißen. Ich sterbe, dachte er, aber dieser Gedanke hatte keine Verbindung mehr zu ihm. Er schwebte davon wie seine Angst, die ihren Klammergriff ebenfalls von ihm lassen musste. Atmete er noch? Er wusste es nicht. War auch nicht wichtig, denn es wurde ihm plötzlich wohlig warm auf dem kalten Steinfußboden…

La Rochette, 19. August 2035
Mein Zusammenbruch in der Pension stimmt bedenklich. Er war noch heftiger, als seinerzeit bei Timofejew in Moskau. Ein Nervenzusammenbruch, wie Timofejews Arzt erkannt zu haben glaubte, war es mit Sicherheit nicht. Vielleicht sollte ich mich doch einmal untersuchen lassen. Wer weiß, was ich mir in Mumbai oder anderswo eingefangen habe. Aber ich traue den Ärzten nicht. Selbst wenn einer unter ihnen wäre, der die Anfälle logisch zuordnen könnte – will ich das wirklich wissen?
Im Übrigen folge ich dem Medizinmann der Lakota-Sioux morgen ins Elsass. Und wenn Running Wolf der Meinung sein sollte, dass heute ein guter Tag zum Sterben ist, dann würde ich mich vermutlich besser damit abfinden können, als wenn mir ein Arzt offenbarte, dass ich nur noch kurze Zeit zu leben habe. Der Zustand, in den mich die Anfälle bringen, hat durchaus faszinierende Züge. Man taumelt aus der eigenen Realität, man löst sich quasi auf, denn alles, was man mit sich selbst in Verbindung bringen könnte, ist nicht mehr vorhanden. In diesem Zustand ist jede Erinnerung an das eigene Leben ausgelöscht. Ist nicht das Verlöschen der Erinnerung ein Vorzeichen des Todes? Ich muss mich davor nicht fürchten, denn obwohl mir die herkömmliche Sprache entgleitet, werde ich mit einer anderen Sprache beschenkt, einer, der ich insgeheim schon lange nachgespürt habe. Es ist die Sprache, die man als Kind beherrscht hatte und die in unseren Träumen wirksam wird. Eine Sprache ohne Verb und Nomen, aber fähig, sich in der Wahrheit zu tummeln wie ein Fisch im Wasser.
Morgen früh breche ich auf…

Die nächste Folge (Feuer am Fuß 17) erscheint am Mittwoch, 9. Dezember 2015.
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Hans-Peter Dürr – Das Geistige ist die treibende Kraft

Quantenphysik
Der Mensch – Beobachter oder Teilnehmer im Universum?
Wenn man nur den greifbaren Bereich der materiellen Welt betrachtet, könnte man meinen, sie sei nichts als ein Puzzle-Spiel. Eine Vielzahl von Teilen verbindet sich zu einem Ganzen. Wenn wir in die Quantenwelt vordringen, ändert sich das Bild vom Puzzle-Spiel. Weil die Physiker dachten, die Welt sei nichts als ein Zusammensetzspiel, machten sie sich auf die Suche nach den „Bausteinen“ der Materie, aber sie mussten bald feststellen, dass die Materie ein Trichter ohne Ende ist. Es sieht so aus, dass alle Grenzen, die der Mensch findet, nicht in der Materie selbst liegen, sondern in der Erschöpfung der menschlichen Reichweite. Irgendwo, so denkt man, muss man an ein Ende kommen, und dort zieht man den Schlußstrich. Aber diese Einstellung hat nichts mit der wahren Natur der Materie zu tun.
Der Mensch greift einen ganz bestimmten Ausschnitt aus der Gesamtheit der Quantenwelt heraus. Das „zwingt“ die Materie, eine ganz bestimmte Form und Verhaltensweise anzunehmen, die sie sonst nicht angenommen hätte. Bestimmt also der Mensch, was er sieht? Sieht er nur das, was er sehen will oder sehen kann? Die Materie birgt in ihrer Struktur unbegrenzt viele potentielle Realitäten, und der „Beobachter“ kann immer nur eine herausgreifen. Kreiert also der Beobachter das Beobachtete? Abseits eines Ganzen, aus dem er sich nicht herausnehmen kann. Unterliegen wir mit unserer Wahrnehmung also einer permanenten Illusion?
Die Physik ist der Meinung, dass alles aus Atomen besteht. Woraus bestehen dann die Gedanken und Gefühle? Besteht das Bewusstsein ebenfalls aus Atomen? Wer oder was beobachtet überhaupt die Welt? Ist es das Auge? Das Hirn? Die Gesamtheit der Nerven? Oder ist es eine nicht-materielle Kraft, das immaterielle Selbst? Spätestens bei dieser Frage platzt den meisten Physikern der Kragen. „Was soll diese sinnlose Metaphysik? Diese Spekulationen nützen niemandem etwas. Quanteln wir einfach weiter. Hauptsache die Maschinen und Waffensysteme, die wir konstruieren, funktionieren!.“
Aus „Mysteriöse Materie - Die Endeckung der Quantenphysik“ von Armin Risi


Beitrag im Online-Magazin newslichter von Bettina Sahling: Wood Wide Web mit Bezug auf eine Sendung von TerraX im ZDF. Zu sehen in der Mediathek: "Deutschland von unten"

ZITAT
W. Pauli ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv Author 	Bettina Katzenstein / ETH Zürich Der Laie meint gewöhnlich, wenn er Wirklichkeit sagt, spreche er von etwas Selbstverständlich-Bekanntem; während es mir gerade die wichtigste und überaus schwierige Aufgabe unserer Zeit zu sein scheint, daran zu arbeiten, eine neue Idee der Wirklichkeit auszubauen. Dies ist es auch, was ich meine, wenn ich immer betone, dass Wissenschaft und Religion etwas zu tun haben müssen.“
WOLFGANG PAULI, Pionier der Quantenphysik, Nobelpreisträger 1945

Abbildung: Portrait von Wolfgang Pauli. Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv. Foto: Bettina Katzenstein / ETH Zürich. Permission: OTRS Wikimedia


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Das Buch ist ein lesenswerter kulturkreativer Weltrettungsroman par excellence, der unbedingt Aufmerksamkeit verdient.
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Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.

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