Literatur
Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß 07

Rajani Bala wohnte bei Maeva im Gästehaus. Maeva war überrascht, wie problemlos die ältere Freundin auf ihr tätowiertes Gesicht reagierte. Rajani schob die irritierende Fassade wie einen Vorhang beiseite und schaute direkt in ihre Seele. Das war noch niemandem so gut gelungen. Rauura vielleicht, dem solche Zeichnungen nicht die Sicht versperren konnten.

Die Frauen plauderten und lachten bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen, beim Frühstück auf der Terrasse, äußerte Rajani die Bitte, das Elternhaus sehen zu dürfen, in dem die „regierenden Geschwister”, wie sie Maeva und Omai nannte, aufgewachsen waren. „Außerdem, sagte sie, „hätte ich gerne deinen Lieblingsplatz auf der Insel kennengelernt. Jeder Mensch hat doch einen Lieblingsplatz…”
Maevas Elternhaus lag zwischen zwei auslaufenden Bergrücken oberhalb des Dorfes Papara, das sich an der Südküste Tahiti Nuis befand. Maeva war lange nicht mehr dort gewesen. Zuletzt hatte sie das Haus mit Cording bewohnt, der ihr hier vehement davon abgeraten hatte, von der tahitianischen Provinzbühne auf die Weltbühne zu wechseln. Die URP, zu deren Vorsitzenden sie sich in Sydney wählen lassen wollte, war schon damals mehr als ein rühriger, vom Klimawandel gefährdeter Verbund von pazifischen Inseln und Regionen, die sich radikalökologisch neu ausrichteten. Die URP war auf dem besten Wege zu einer Dachorganisation, die im Interesse der Menschen handelte, anstatt, wie die UNO, dem Diktat und der Finanzkraft weniger multinationaler Konzerne zu gehorchen, die den Planeten bis aufs Blut aussaugten.
Maeva sah dem Besuch des Hauses mit Beklemmung entgegen. Es war ja nicht nur der Gedanke an Cording, der ihr zusetzte, auch der Tod ihrer Eltern kam ihr schmerzlich in Erinnerung, die im Jahre 2019 auf der Überfahrt zu den Marquesas mit der Fähre in einen Zyklon geraten waren.
Das Haus, in dessen Rücken eine dichte Formation hoher Kokospalmen dem herabsteigenden Wildwuchs Einhalt gebot, setzte sich weithin leuchtend von dem schwarz-grünen Hintergrund der Berge ab. Die umlaufende Veranda mit ihrer filigranen Sichtblende, die schmalen, das Dach stützenden Säulen, das Dach selbst, welches das Gebäude in Form einer flachen Pyramide in perfekter Symmetrie unter seine Fittiche nahm, der weiße Anstrich – all das vermittelte den Eindruck, als habe das hölzerne Gebäude auf dem grünen Rasen hier nur kurz und federnd aufgesetzt. Omai war nicht da, er hielt sich wegen der Amtsgeschäfte ohnehin die meiste Zeit in Papeete auf. Einen Schlüssel hatte Maeva nicht, jedenfalls nicht dabei, was durchaus beabsichtigt war. Für Maeva waren die wenigen Minuten, die die „Besichtigung” dauerte, eine Qual, die ihr Rajani allerdings nicht ersparen wollte. Erst als sie wieder im Auto saßen, entkrampfte sie sich.
„Und jetzt zu meinem Lieblingsplatz”, rief sie übertrieben fröhlich. Dabei tippte sie ihrem Leibwächter Teiki scherzhaft auf die Schulter: „Fahrer, zum Lac Vaihiria bitte!”
„Sehr gern, Madame”, antwortete Teiki mit der gespielten Beflissenheit eines unterwürfigen Lakaien. Nach zwanzig Minuten war das Ziel erreicht. Teiki parkte in einiger Entfernung zum See hinter einem Felsen, sodass der Blick auf das atemberaubende Panorama durch nichts getrübt wurde. Der Lac Vaihiria kräuselte sich kurz unterm Hochnebel, als habe er Witterung aufgenommen. Er schien den steil abfallenden, dicht bewaldeten Hängen, die ihn in bizarrer Formation umschlossen, als Auffangbecken zu dienen, in dem ihr schwarz-grüner Grundton in flüssiger Form neu gemischt wurde, um dem stumpfen Gemälde von unten etwas Glanz zu verleihen. Maeva und Rajani näherten sich dem Ufer voller Ehrfurcht, während sich Teiki im Hintergrund hielt. Auf dem schmalen Stück Wiese, dass der See an dieser Stelle für besondere Besucher ausgerollt zu haben schien, hockten sich die beiden Frauen nieder. Rajani entdeckte sich dabei, wie sie ihren Atem zügelte, um in dieser faszinierenden Stille nur ja kein Geräusch aufkommen zu lassen. Wo war er geblieben, der Lärm der Welt? Nicht einmal die Vögel mochten sich äußern. Und der Wind? Er hatte woanders zu tun. So saßen sie eine Weile andächtig nebeneinander, als Maeva plötzlich die Hände zum Trichter formte und einen markerschütternden Schrei von sich gab.
„Aaaaajuuuuuhiiiiloooooo! Aaaaaaaajuuuheeee!”
Rajani zuckte zusammen. Allerdings fiel ihr auf, dass der Schrei keinerlei Echo provozierte – als weigere sich dieser Ort, ihn zur Kenntnis zu nehmen.
„Aaaaajuuuuuhiiiiloooooo! Aaaaaaaajuuuheeee!”
Auch beim zweiten Mal erstarb Maevas Ruf, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Rajani war noch nicht einmal sicher, ob er das nur wenige Meter entfernte Wasser erreicht hatte.
„Und jetzt wir beide!”, rief Maeva lachend. „Eins, zwei drei: AAAAAJUUUUUHIIIILOOOOOO! AAAAAAAAJUUUHEEEE!”
Rajani, die nach Leibeskräften mitgebrüllt hatte, fiel erleichtert zur Seite. Der Bann war gebrochen, sie konnten sich wieder ganz normal unterhalten, ohne das Gefühl zu haben, damit gleich gegen ein heiliges Gesetz zu verstoßen.
„Ich habe mir diesen Ruf als Kind ausgedacht”, sagte Maeva. „Damals hatte es mich immer wieder hierher gezogen. Allerdings wäre ich ein paar Mal fast gestorben vor Angst. Der Lac Vaihiria ist sehr stark in seinem aufdringlichen Schweigen. Aber er respektiert es, wenn man sich seiner eigenen Mittel bedient, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.”
„Was bedeutet der Ruf?”, fragte Rajani.
„Nichts Spezielles. Es ist eher eine Melodie, mit der ich mich den Aalen zu erkennen gebe.”
„Den Aalen?!”
„Ja. Die Tahitianer glauben, dass im Lac Vaihiria eine ganz besondere Spezies zu Hause ist: Aale mit Ohren. Sie hören alles, sie können sogar unsere Gedanken hören. Deshalb ist es gut, wenn man sich ihnen in Freundschaft nähert. Durch einen solchen Ruf zum Beispiel. Dann sind sie positiv gestimmt, dann legen sie deine Gedanken mit Sicherheit nicht falsch aus …”
Rajani betrachtete ihre junge tahitianische Freundin mit Liebe und Bewunderung. Wieder einmal beneidete sie Maeva um die Kultur, in der diese aufwachsen durfte. In dieser Kultur spann man noch Mythen und Legenden, um das Kostbarste zu schützen, was den Menschen ausmacht: seine Unschuld.
„Weißt du, was wir in dieser Zeit am dringlichsten lernen müssen?”, fragte Maeva unvermittelt. „Wir müssen lernen, aus reinstem Vertrauen zu leben, ohne jede Daseinssicherung, aus dem Vertrauen in die immer gegenwärtige Hilfe der geistigen Welt. Deshalb bin ich so froh, dass die Schamanen und Weisen unserer Zeit sich bereit erklärt haben, zu helfen. Schamanen sind Menschen, die wie ein Nadelöhr wirken, durch das man hindurch muss, wenn man hinter die Oberflächenstruktur der Dinge schauen will.
Die URP-Regionen sind größtenteils noch sehr brüchige spirituelle Konstrukte, die es zu stabilisieren gilt, wenn sie nicht in die übliche Barbarei zurückfallen sollen. Der Einsatz der Schamanen wird in den Regionen sehr viele Widerstände provozieren, Rajani, nicht jede Region wird Mitglied der URP bleiben wollen, darauf sollten wir uns einstellen. Die Schamanen werden einen gigantischen Entzugsprozess einleiten, der für die Menschen schwer zu ertragen sein wird.
Es waren die großen Kirchen, die jene lebensfeindliche Moral geschaffen haben, als deren letzte Konsequenz der globale Selbstmord steht. Alles, was uns jetzt noch zu tun bleibt, ist, die URP-Regionen zu vielen kleinen Rettungsbooten auszubauen. Wir müssen die Menschen innerhalb ihrer vertrauten Umgebung zu mehr Mitverantwortung erziehen.”
Maeva barg ihren Kopf zwischen den Händen, als hätten sie die Ausführungen zu sehr angestrengt. „Ein Großteil der Probleme hängt damit zusammen”, sagte sie leise, „dass wir in unserer mobilen Gesellschaft nicht mehr lange genug an einem Platz bleiben, um zu spüren, was dieser Platz wirklich von uns braucht.”
Auf der Fahrt zurück ins Tal teilte sie Rajani mit, dass Steve auf ihren Wunsch hin nach Patagonien unterwegs war, wo er den Multimillionär Malcolm Double U treffen sollte, mit dem sie bereits vor sechs Jahren eine Verabredung hatte, um ihn und seinesgleichen zu bitten, die URP mit der gebündelten Finanzkraft einiger sensibel gewordenen Superreichen zu unterstützen. Rajani nahm die Information erfreut zur Kenntnis, zeigte sie doch, dass Maeva ihre Arbeit wieder entschlossen aufgenommen hatte.
Als sie bei Papara auf die Küstenstraße Richtung Taravao bogen, kreuzten zwei schwangere Frauen lachend ihren Weg. Rajani verzichtete darauf, Maeva von den Ereignissen in Djakarta und Delhi zu berichten, wo es seit Monaten zu Übergriffen auf Schwangere kam, die in den Slums dieser Megametropolen praktisch zu Freiwild erklärt worden waren. Sollte Maeva einverstanden sein, dass Rajani ihre Amtsgeschäfte als URP-Vorsitzende in Zukunft von Tahiti aus betrieb, würde sie es als ihre dringlichste Aufgabe ansehen, die perversen Ausschläge einer verrückt gewordenen Welt so gut wie möglich von ihrer Freundin fernzuhalten. Mochten die Aale ihr davon berichten, sie jedenfalls würde es nicht tun…

Cording wartete in der Lobby des Hotels auf den Fahrer, der ihn zum vereinbarten Treffpunkt bringen sollte. Das DoubleTree-Fort Selby (man hielt den ehemaligen US-Präsidenten und jetzigen Gouverneur der autonomen North West Republic also in Ehren) befand sich auf dem West Lafayette Boulevard nur einige Blocks vom Detroit River entfernt, dessen Mitte die Grenze zu Kanada markierte.
Wie in vielen anderen US-amerikanischen Großstädten wirkten auch die pompösen Hochhäuser des Financial Districts in Downtown Detroit wie ein zusammengeschobener Haufen glitzernder Bauklötze, die der endlosen Einzelhäuserödnis in ihrem Rücken so etwas wie Bedeutung zu geben versuchten. Dabei schien dieser gläserne Maulwurfshügel mit der Stadt nichts zu tun haben zu wollen. Der Fisher Freeway und der Chrysler Freeway schirmten das an den Fluss grenzende Areal vom Rest Detroits hufeisenförmig ab. Geschlossene Gesellschaft. Theater und Opernhaus, der Capital Park, die Universität, das Ford Field und selbstverständlich das Casino – dies alles befand sich in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Verwaltungsgebäude von Ford, Chrysler und General Motors, wobei sich General Motors mit dem Renaissance Center den zusätzlichen Luxus erlaubt hatte, sich in der „geschlossenen Stadt” noch einmal extra abzuschotten. Der von John C. Portman entworfene Gebäudekomplex bestand aus fünf hundertsechzig Meter hohen separaten Türmen, von denen der mittlere mit zweihunderteinundzwanzig Metern noch einmal deutlich heraus ragte. Alle fünf Türme waren in den unteren Etagen durch eine offene Halle verbunden, in denen früher eine ständig wechselnde Ausstellung der neusten GM-Modelle zu besichtigen war.
Portmans Konzept der „City within the City“ war nicht unumstritten. Schon im Vorfeld des Baus war der hermetische Charakter des Entwurfs stark kritisiert worden. In der Bevölkerung wurde er als Versuch interpretiert, eine Trutzburg der Reichen gegen die Armen zu errichten. In gewisser Weise war es also logisch, dass die Stadtverwaltung in den Wirren nach dem Niedergang der Automobilindustrie die zwölfhundertachtundneunzig Zimmer des im Renaissance Center befindlichen Marriot-Hotels den Obdachlosen Detroits kostenlos zur Verfügung stellte.
Der spektakuläre Verwaltungsakt hatte erheblichen Anteil daran, dass sich die explosive Situation in der Stadt beruhigte. Waren in den Jahren zuvor pro Jahr noch siebentausend Gebäude im Großraum Detroit durch willkürlich gelegte Feuer vernichtet worden, sank die Zahl der Brandanschläge in der Folge dramatisch ab. Heute wurden solche Vorfälle kaum noch gemeldet, wie Cording der Broschüre ECO-CITY entnahm, die in jedem Zimmer des Hotels auslag. Detroit und seine verbliebenen dreihunderttausend Einwohner hatten ihren Frieden mit den Ideen ihres umtriebigen Bürgermeisters Richard Coltrane geschlossen, der seine Vision von der „Grünen Stadt” sukzessive und konsequent umsetzte.
Die radikale Ausrichtung, mit der Detroit sich seit einigen Jahren neu erfand, war beispiellos. Nach dem Interview würde er genügend Zeit haben, sich in der Stadt umzusehen, die der Natur auf faszinierende Weise gestattete, inmitten der Gemeinschaft wieder Platz zu greifen.
„Mister Cording? Ich bin Ben, ich soll Sie zum Treffpunkt bringen…”
Cording folgte dem schlaksigen jungen Mann nach draußen, wo ein dreirädriger Kabinenroller mit Elektromotor auf sie wartete, mit dem sie sich leise surrend der nur wenige Blocks entfernten Gratiot Avenue näherten, die sich wie ein diagonaler Messerschnitt durch die schachbrettartigen Vorstädte in nordöstlicher Richtung erstreckte. Der Verkehr war überschaubar. Außer einigen Kleinbussen der städtischen Verkehrsbetriebe waren keine Autos in Amerikas ehemaliger Motorcity unterwegs. Auffallend waren die vielen Fahrradfahrer, die die Schnellstraßen der Stadt erobert hatten und auf die sein Ben in vorbildlicher Weise Rücksicht nahm.
Nach etwa zwanzig Minuten, in denen sie kein einziges Wort gewechselt hatten, bog Ben hinter Roseville in den Rotary Park. Dort stellte er das Gefährt ab und bat Cording, ihm dicht auf den Fersen zu bleiben. Gemeinsam stapften sie einen überwucherten Weg entlang, der sie schließlich zu einem ehemaligen S-Bahn-Depot führte, auf dem sich Cording vorkam, als sei er in eine Traumwelt versetzt worden, in der sich Elfen und Kobolde auf den Trümmern der Zivilisation einen fabelhaften Spielplatz errichtet hatten.
Die Decke der großen Halle, in der die Züge in Reih und Glied vor sich hin rosteten, war von Bäumen gesprengt worden. Auf dem Gelände ließen sich die Gleise kaum noch erahnen. Die dort abgestellten Waggons steckten bis zur Hüfte im frischen Frühlingsgrün, ihre Scheiben waren größtenteils zerborsten. Die kaum noch lesbaren Namen der Endstationen auf der Stirnseite der Triebwagen wirkten wie blanker Hohn. Madison Heights, Royal Oak, Warren, Hamtramck, Harper Woods – lauter Ziele, die nie wieder erreicht würden, nicht von diesen Zügen, deren Stromabnehmer zusammengeklappt auf den von Patina überzogenen Dächern schlummerten. Selbst die schreiend bunten Graffitis waren vor der hereingebrochenen Natur verblasst.
Cording stolperte etwas unbeholfen hinter seinem Begleiter her. Der Untergrund hielt mehr Tücken bereit, als er gedacht hatte. Irgendwann steckte er in einem Distelfeld fest, dem er nur mühsam und mit zerrissener Hose entstieg. Ben, der sich im Gegensatz zu ihm mit traumwandlerischer Sicherheit durchs Gelände bewegt hatte, wartete genervt auf einem hölzernen Steg, über den sie schließlich bis ans Ende eines am äußersten Rand abgestellten Zuges gelangten, dessen Türen sich in dem Moment öffneten, als sie eintrafen.
„Bitte…”, sagte Ben und wies ins Innere des Waggons, „ich warte hier. Ich bring Sie nachher zurück ins Hotel.”
Cording betrat den Wagen. Ein Mann erhob sich von der zerschlissenen Sitzbank. Er trug eine weiße, mit goldenen Ornamenten verzierte Maske, wie sie einst im venezianischen Karneval benutzt wurde. Ein roter Zylinder schmückte seinen Kopf.
„Schön, dass Sie gekommen sind”, sagte der Mann, der sich ihm als Daemon vorstellte. „Nehmen Sie Platz.”
Cording setzte sich. Daemon nahm den Zylinder ab und verbeugte sich, noch ganz der venezianische Edelmann. „Ich bin ein großer Fan von Ihnen”, gestand er, „ich habe Ihre Reportagen immer mit größtem Interesse gelesen.” Seine Worte klangen extrem gedämpft unter der Maske, sodass sich Cording fragte, ob sein Aufnahmegerät sie in vollem Umfang erfassen und in verständliche, lesbare Sätze übertragen konnte. Daemon schien seine Gedanken zu erraten, jedenfalls setzte er die Maske ab und lächelte seinem Gegenüber freundlich zu. „Ich denke, dass wir diese Maskerade nicht nötig haben”, sagte er, „ich vertraue Ihnen.”
Das war mehr, als Cording erwartet hatte. Der Mann war etwa vierzig Jahre alt, er hatte ein freundliches, etwas pummeliges Gesicht, das von schwarzen Locken umrahmt war. Die wachen, hellgrauen Augen unter den buschigen Brauen strahlten Wärme und Zuversicht aus. Einen radikalen Ökokrieger hatte er sich anders vorgestellt, verkniffener, fanatischer.
„Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass Sie unserer Bewegung den entscheidenden Schub verpasst haben?”, fragte Daemon.
Cording blickte irritiert auf.
„Sie erinnern sich doch an die letzte Ausgabe der GO!-Show auf EMERGENCY TV. In ihr ging es um die Ölsandproduktion in Kanada. Natürlich erinnern Sie sich. Der Moderator, wie hieß er doch gleich…?”
„Shark.”
„Genau. Zum Ende der Sendung ist er regelrecht ausgerastet. Die Sätze, die er damals ins Mikrofon brüllte, sind uns noch heute Ansporn: ›Warum rücken wir den Verantwortlichen in den Vorstandsetagen der beteiligten Firmen nicht endlich auf die Pelle? Warum machen wir ihnen und den Politikern, die ihre Schweinereien begünstigen, nicht klar, dass sie Freiwild sind? Wir handeln aus Notwehr. Wir haben jedes Recht dazu!‹ Hatten Sie ihm den Text geschrieben?”
„Ich hatte mit der Sendung nichts zu tun. Der Ausbruch war auch nicht geplant, er ist einfach passiert.”
Daemon kniff die Lippen zusammen. „Ein guter Junge, dieser Shark. Er ist dann später ermordet worden, richtig?”
Cording nickte. Der Anschlag auf dem bolivianischen Salar de Uyuni hatte eigentlich Maeva gegolten. Es tat ihm körperlich weh, daran zu denken. „Ihre Gruppe nennt sich ‚43 a. C.’”, sagte er, um das Thema zu wechseln. „Was hat der Name zu bedeuten?”
„A. C. ist die lateinische Bezeichnung für ›vor Christi‹: ante Christum, vor dem geborenen Christus.”
„Das ist mir bekannt. Aber die Jahreszahl. Wie kommen Sie auf die Jahreszahl?”
„Sie bezieht sich auf die römische Proskription. Sagt Ihnen das was?”
„Nein.”
„43 a. C. hatte die fortdauernde Expansionspolitik des Reiches den Staatshaushalt endgültig gesprengt. Durch die erdrückende Schuldenlast steuerte das Imperium an den Rand des Untergangs. Ein Jahr, nachdem Julius Caesar ermordet worden war, ersann Gaius Octavius eine Lösung des Dilemmas. Da ein freiwilliger Schuldenverzicht eine langwierige und komplizierte Prozedur war, griff er zum Mittel der Proskription, der römischen Variante der Vogelfreiheit, die es jedermann, auch den Sklaven, erlaubte, die in öffentlichen Aushängen benannten Personen straffrei und gegen Belohnung zu töten. ‚Moriturum esse!’, hieß das Motto jener Zeit – ‚Es muss gestorben werden!’
Stolze Senatoren, die einst Konsuln gewesen waren und über unermessliche Provinzen geherrscht hatten, verkleideten sich als Sklaven oder als Latrinenputzer. Sie flehten ihre Bediensteten an, sie nicht zu verraten und versteckten sich in aufgelassenen Gräbern und in Kloaken. Die Gesamtzahl der Ermordeten belief sich auf zweitausenddreihundert Personen, das berühmteste Opfer war Marcus Tullius Cicero, ein römischer Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph, der berühmteste Redner Roms.
Die mörderische Aktion hatte sich am Ende ausgezahlt, im wahrsten Sinne des Wortes, denn es waren die Gläubiger Roms, welche letztlich die Passivposten in der Bilanz des Imperiums tilgten. Mit ihrem Blut. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, zu was Politik fähig ist, wenn sie den Gipfel der Ratlosigkeit erklommen hat.
43 a. C. Der Name ergibt doch Sinn. Ich werde Ihnen nachher eine Liste von hundert Personen übergeben, die sich ab heute ihres Lebens nicht mehr sicher sein können. CEOs, Politiker, Wissenschaftler, Medienleute. Sie werden in genau der Reihenfolge getötet, wie sie auf der Liste vermerkt sind.”
Daemon strich sich eine Locke aus der Stirn: „Die Erde stirbt nicht”, sagte er, „sie wird gemeuchelt. Und die Leute, die sie abschlachten, haben Namen und Adressen. Wir werden und wir müssen unter den Betreibern des Ökozids ein Klima der Angst erzeugen, das dem im alten Rom um nichts nachsteht.”
Es geschah nicht oft, dass Cording die Spucke wegblieb, in diesem Fall aber konnte er nur noch schlucken. Die sanfte Art und Weise, in der Daemon den Massenmord an Entscheidungsträgern der Gesellschaft ankündigte, verblüffte ihn über alle Maßen.
„Wussten Sie, dass sich zwei Drittel des weltweiten Vermögens in den Händen von fünfhundert Oligarchen befinden? Diese Leute werden ihres Lebens nicht mehr glücklich, das garantiere ich Ihnen. Wir sind Aktivisten. Wir sind Computer-Nerds. Wir sind Ingenieure. Wir sind Studenten. Wir sind Bauarbeiter. Wir sind Gentechniker. Wir sind ehemalige Navy-SEALs. Wir sind Sekretärinnen. Wir sind Dolmetscher. Wir sind Saboteure. Wir sind Farmer. Wir sind Anwälte und Krankenschwestern. Wir sind bereit, uns zu wehren. Wir sind Journalisten, nicht wahr…?”
Daemon blickte Cording so durchdringend an, als wollte er ihm sein Credo ins Herz pflanzen. „Unsere Zivilisation hat Dinge zerstört”, sagte er, „die niemals wieder hergestellt werden können. Aber wenn wir es schaffen, sie davon abzuhalten, den Planeten völlig zu ruinieren, bleibt noch viel, das sich selbst heilen wird. Wir müssen nur diejenigen aufhalten, die diese Zerstörung verursachen. Haben Sie vor dem Hintergrund des globalen Holocausts etwas Besseres zu tun, Mister Cording? Dann erklären Sie mir bitte, was es ist.”
Daemon setzte sich wieder den Zylinder aufs Haupt. „Okay, das war’s. Hier ist der Umschlag mit der Todesliste. Moriturum esse!”
„Wollen Sie das Interview lesen, bevor es in Druck geht?”, fragte Cording. „Ich bleib noch ein paar Tage, ich schreib es morgen im Hotel.”
„Nicht nötig. Wir kämpfen auf derselben Seite.”
Irgendwie schon, dachte Cording, nur dass er zu feige war für den Kriegsdienst. Er hatte sich für ein Reporterleben entschieden, auch keine einfach zu ertragende Aufgabe.
Als er den Waggon verlassen wollte, sagte Daemon: „Die Cheyenne verliehen ihren mutigsten Kriegern vor einem Kampf eine als Hundeleine bezeichnete Schärpe aus gegerbten Fellen, an denen ein Weidepflock befestigt war, wie er normalerweise zum Anbinden von Pferden benutzt wurde. Während der Schlacht trieben diese Dog Soldiers, wie man sie nannte, den Pflock in den Boden. Sobald er dort steckte, blieben die Männer an dieses Stück Erde gebunden, das es um jeden Preis zu verteidigen galt, auch um den Preis ihres Lebens. Der Pflock durfte erst entfernt werden, wenn alle anderen Stammesmitglieder in Sicherheit waren.
Die Zeit ist gekommen. Ich habe meinen Pflock in die Erde getrieben. Ich habe meine Position abgesteckt und bin nicht willens, auch nur noch einen Millimeter zurückzuweichen.”
Er schaute Cording an und lachte: „Wenn sie uns nicht träumen lassen, werden wir sie nicht schlafen lassen, so einfach ist das...“

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Die nächste Folge (Feuer am Fuß 08) erscheint am Mittwoch, 18. November 2015.
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Lesen Sie die Einführung von Hans-Juergen Fink: Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß - Reality Fiction pur vom 28.10.2015 (Literatur)


Hintergründe - Bezüge - Wissen

KulturPort.De bietet den Lesern zu jeder Folge Hintergrundwissen in einer "Fact Box" an, die jeweils gemeinsam mit der Autor zusammengestellt wurde. Damit soll Einblick gegeben werden in die Arbeitsweise Dirk C. Flecks sowie seine historischen und aktuellen Bezüge sichtbar gemacht werden, um den realen Kontext besser zu verorten.

Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er bereits schon einmal den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.

YouTube-Video: Prince Ea - Dear future Generation - Sorry. An Apology Letter to Future Generations.

Fachkundige Attentäter, warnte der Darmstädter Staatsrechtler Alexander Roßnagel bereits 1992 im Spiegel, könnten „Katastrophen nationalen Ausmaßes“ auslösen. Man müsse davon ausgehen, dass ganze Wirtschaftszweige ins Chaos gestürzt werden können.
Die Öko-Krieger verstehen sich als die Robin Hoods der Neuzeit. Nach ihrem Verständnis sind die Aktionen Notwehrmaßnahmen gegen eine blindwütige Konsumgesellschaft, die nichts als verbrannte Erde hinterlässt. Einer ihrer Helden ist Paul Watson. ehemaliges Gründungsmitglied von Greenpeace. Die Umweltschutzorganisation aber war ihm zu lau, zu kompromissbereit. Seit einigen Jahren schippert er mit seiner „Sea Shephard“ über die Meere und rammt Walfangschiffe. Watson: „Ich vertrete die Menschen, die noch nicht geboren sind, und die mit Verachtung auf unsere Generation zurückblicken werden.“
Earth First LogoDie radikalste aller Umweltzschutzgruppen ist zweifellos „Earth First!“ Sie entstand 1979 im Südwesten der USA. Inspiriert von Rachel Carsons Silent Spring, Aldo Leopolds Land Ethic und Edward Abbeys The Monkey Wrench Gang, plädiert eine Gruppe von Aktivisten für No Compromise in Defense of Mother Earth! (Kein Kompromiss bei der Verteidigung von Mutter Erde). Entscheidenden Einfluss hatte der US-Umweltaktivist Dave Foreman, der bis dahin Umweltgutachter und aktives Mitglied der Wilderness Society war. Ziel aller Aktionen ist, die Zerstörung der Natur aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen. Die meisten Mitglieder von Earth First! tendieren zu einem dezentralisierten, lokal informierten Aktivismus, der auf einer gemeinschaftlichen Ethik basiert, während Earth First!-Gegner die Gruppen bezichtigen, sich einer Form des Terrorismus zu bedienen.
Earth-First!-Gruppen organisieren Aktionen des zivilen Ungehorsams wie z.B. Baumbesetzungen, Feldbesetzungen, Ankettung an Baufahrzeuge und Straßenblockaden, welche als ecodefense, also der Verteidigung der Natur verstanden wird. Auch Solidaritätsaktionen mit von Lebensraumzerstörung betroffenen Indigenen sind Teil der Earth-First!-Aktionen. Earth First! glaubt nicht, dass über Führer, Regierungen oder Firmen die Natur effektiv geschützt werden kann. Daher ist für sie die direkte Aktion das zentrale Mittel um die Zerstörung der Natur selbst zu bekämpfen.
Abbildung: Logo von Earth First! Worldwide

Hermann Hesse, 1927„Während die Mächtigen, die großen Narren, die Welt in Trümmer schlagen, versuchen wir, die kleinen Narren, den Trümmerhaufen immer wieder mit versöhnlichen Schriftzeichen zu beschreiben und mit Blumensamen zu besähen.”
HERMANN HESSE (1877-1962)

Abbildung: Hermann Hesse, 1927. Foto: Gret Widmann
(gemeinfrei)
Quelle: Wickipedia




Die vierte MachtMACHT-ELITEN AUFGEPASST: DIE IMAGOZELLEN ERGREIFEN BESITZ VON UNS
Eines seiner „Erweckungserlebnisse“ hat Geseko von Lüpke dem philippinischen Soziologen, Umweltaktivisten und Träger des Alternativen Nobelpreises Nicolas Perlas zu verdanken, der ihm am Beispiel einer biologischen Transformation aus dem Tierreich die Augen geöffnet hat für den Umwandlungsprozess, der nun auch von der globalen Zivilgesellschaft Besitz ergriffen hat. „Er hat mir beschrieben, was in einem Raupenkörper passiert, wenn der sich verpuppt. Da tauchen in diesem verpuppten Körper Zellen auf, die die Wissenschaft ‚Imagozellen’ nennt. Das sind Schmetterlingszellen, welche in dem Raupenkörper entstehen und quasi die Zukunft vorausnehmen . Dafür werden sie vom Immunsystem der Raupe als Fremdkörper angegriffen und vernichtet. Aber da sich der Raupenkörper in zunehmender Desintegration befindet, hat es die zweite Generation der Imagozellen schon leichter. Natürlich werden auch sie von dem alten System attackiert, aber die Eindringlinge wissen jetzt, wie man die Immunzellen der Raupe so infiziert, dass sie selber Imagozellen hervorbringt. Irgendwann schließen sich diese bislang isolierten Imagozellen in Clustern zusammen und werden zu so was wie ‚Inseln der Zukunft’. Dann fangen sie an, sich zu vernetzen, und sich durch Zellstraßen zu verbinden. Zeitgleich wird das System des sich auflösenden und nicht mehr gut funktionierenden Raupenkörpers immer instabiler. Irgendwann kommt ein Moment, wo dieses Netzwerk von Zukunftsinseln beginnt zu kapieren, ‚Wir sind keine Raupe mehr, wir sind etwas anderes!’. Von dem Augenblick an geht es rasend schnell. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis aus einem wilden Zellhaufen ein Schmetterling erwächst, der eine völlig andere Realität vorfindet und dem andere Ebenen des Ausdrucks zur Verfügung stehen.“
GESEKO VON LÜPKE in „Die vierte Macht“, Hoffmann und Campe Verlag

Foto: Buchumschlag, Verlag Hoffmann und Campe

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