Das Jüdische Museum München erzählt in diesem Ausstellungsjahr die Geschichten von Osteuropäischen Juden in München.
Die Idee zu dieser zweiteiligen Ausstellungsreihe entstand, als beschlossen wurde, die Geschichte dieser Flüchtlingsgruppe als neuen Sammlungsschwerpunkt des Museums aufzubauen. Doch wie lässt sich Geschichte einfangen? Wie können die Migrationsgeschichten und Schicksale konserviert und sichtbar gemacht werden im Rahmen von museumswürdigen Objekten ausgestellt werden, ohne die Menschen dahinter bloßzustellen als „Juden hinter Glas“?
Im Rahmen der Museumssammlung sollte dies durch filmische Interviews mit den Zeitzeugen geschehen und für die temporäre Ausstellung sollten diese ergänzt werden durch von den Interviewten ausgeliehenen Dingen.
Im ersten Teil Juden 45 (30.11.2011 bis 17.06.2012) ging es um die sogenannten Displaced Persons (DPs), also Osteuropäische Schoa Überlebende, die in und um München in DP-Lagern zusammen gesammelt wurden um im Anschluss in ihre neuen Heimaten auszuwandern. Der zweite Teil der Ausstellungsreihe beleuchtet Geschichte und Kultur der Welle an jüdischen Einwanderern von Russland und seinen Nachfolgestaaten nach München nach dem Fall des eisernen Vorhangs. Die Mehrheit der Juden in Deutschland ist russischer Herkunft.
Im Sommer 1990 breitete sich in Russland ein Gerücht aus Erich Honecker würde Juden aus der Sowjetunion aufnehmen, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Reparationszahlungen an Israel beteiligt hatte. Erste jüdische Flüchtlinge machten sich also auf den Weg. Am 9. Januar 1991 beschloss dann die erste Gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz die Aufnahme russischsprachiger Juden auf Grundlage des „Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge“ als sogenannte Kontingentflüchtlinge. Nach dem Nachweis einer jüdischen Herkunft, bekamen sie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt. Seitdem sind mehr als 200.000 russischsprachige Einwanderer nach Deutschland gekommen. München ist die Stadt mit dem drittgrößten Zuwachs. Fast 28.000 Menschen sind nach Bayern gekommen, davon leben schätzungsweise über 10.000 allein in München.
Kontingentflüchtlinge ist dabei eine merkwürdige Bezeichnung, da es sich tatsächlich weder um Flüchtlinge handelt, noch ein festes Kontingent festgelegt wurde. Bis zu dieser neuen Regelung wanderten osteuropäische Juden hauptsächlich nach Israel aus. Natürlich gab es auch vor 1990 russischsprachige Juden in Deutschland, dank Radio free Europe und Radio Liberty, der in München ansässigen Radiostation, die Nachrichten für unter anderem Osteuropa sendete. Das Ziel war es, Bürgern aus Ländern mit restriktiver Informationspolitik freie Informationen in der eigenen Sprache zur Verfügung zu stellen. So lockte München schon zu Zeiten des Kalten Krieges gut ausgebildete und politisch interessierte Einwanderer nach München.
Die beiden Kuratorinnen der Ausstellung, Jutta Fleckenstein und Piritta Kleinert, standen nun vor einem völlig unbearbeiteten Themenbereich in der neueren jüdischen Geschichte. Migration nach Deutschland in den 1990er-Jahren.
Sie baten Prof. Michael Brenner, Inhaber des Lehrstuhles für Jüdische Geschichte und Kultur des Historischen Seminar der LMU und die Kulturabteilung der jüdischen Kultusgemeinde um Mithilfe und veranstalteten, nach einem deutsch-russischen Aufruf in der russischen Tolstoi-Bibliothek in München sowie der Münchner Kultusgemeinde und russischsprachigen Medien mit dem Titel „Zeigt her Eure Dreidl!- Mitgebrachte jüdische Dinge aus Osteuropa“, einen gemeinsamen „Objektnachmittag“. Die beiden Kuratorinnen wussten nicht, was sie erwarten würde und aus welcher Art Objekt sie ihre Ausstellung zusammenstellen würden. Mit Hilfe von und Studenten, Freiwilligen und Dolmetschern konnten die Erinnerungsstücke aus der alten Heimat gebracht, besprochen und sortiert werden.
Ja und wie sehen sie nun aus, die Objekte welche exemplarisch für die 22 ausgewählten Schicksale stehen? Die meisten kamen mit leeren Koffern, eine Zeitzeugin, deren Geschichte mit aufgenommen wurde, entschied sich deshalb dafür kein Objekt abzuliefern, denn gerade eine leere Vitrine sei exemplarisch für ihre Migrationsgruppe.
So unterschiedlich wie die unterschiedlichen Menschen, sind auch die Erinnerungsstücke, die sie gebracht haben.
Die Ausstellung ist in drei Bereiche gegliedert, durch die verschiedenen Themenbereiche führen eine durchdachte Architektur und verschiedene Farben. Der erste Teil zeigt eine Momentaufnahme des „Jüdisch-Seins“ in Osteuropa und beginnt mit grauen Wandeinbauten und klar strukturierten Vitrinen mit sieben Eingängen. Gezeigt werden Objekte welche je ein Ausreise- und dann ein Einreisemotiv symbolisieren. Dabei handelt es sich zum Beispiel um das Wahlplakat einer rechtsradikalen Partei oder einen Geigerzähler. Letzterer, so erklären die Kuratorinnen sei wie etwa ein Werkzeugkasten als Alltagsgegenstand in russischen Haushalten behandelt worden. Aufgrund der mangelhaften Informationspolitik sahen sich die Bürger gezwungen, Strahlenwerte selbst zu überprüfen. Ein weiter Grund das Land zu verlassen war die schlechte Medizinische Versorgung, symbolisiert durch Medikamenten in einer der Vitrinen. Eine Bar Mizwa Urkunde, ausgestellt in Odessa, soll aufzeigen, wie schwierig es war die Religion in der ukrainischen Heimat in auszuüben.
Es folgt eine rote Wand- die Mauer fällt. Nun wird es in den Ausstellungsräumen immer dunkler, die Flüchtlinge brechen auf in eine unklare Zukunft. In diesem Bereich sind Geburtsurkunden ausgestellt, denn der Nachweis einer jüdischen Mutter war die Grundvoraussetzung, für die Aufnahme im Rahmen der Kontingenzflüchtlingsregelung. In Russland galt das Judentum als Nationalität und nicht als Religion. Mit 15 Jahren mussten sich junge russische Juden entscheiden, welche Staatsbürgerschaft sie führen wollten. Wer die Jüdische gewählt hatte, die im Kommunismus mit so mancher Unannehmlichkeit verbunden war, war nun durch die neue Flüchtlingsregelung im Vorteil. Eine Wand ist geschmückt mit zahlreichen Diplomen und zeigt damit einen interessanten Aspekt auf- nämlich dass 70% der russischsprachigen Einwanderer Akademiker sind. Nach der Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis musste die Eindeutschung des Namens erfolgen, denn handelt es sich ja nicht nur um eine fremde Sprache, sondern auch um eine andere Schrift. Sehr unterhaltsam wird dieser merkwürdige und etwas willkürliche Vorgang in der Ausstellung plakativ mit Hilfe eines „Einrussungs-Computer“ für die Besucher umgekehrt. Einmal in die Tastatur eingegeben verändert das Gerät den Namen lautmalerisch in die russischer Sprache und druckt das Ergebnis dann als kleines Souvenir auf einer Art Kassenbon mit samt des Emigrationsdatum aus.
Im nun weiß getünchten nächsten Raumabschnitt, im Herzen der Ausstellungsetage, sind nun endlich die Zeitzeugen Interviews den Besuchern zugänglich. Im Raum verteilt stehen Bildschirme mit Kopfhörern, die ein leicht abgeschirmtes Anhören der Geschichten mit Blick in die Gesichter der Erzähler ermöglicht. Die umgebenden Wände befassen sich mit der unterschiedlichen Erinnerungskultur der Neuankömmlinge und deren Aufnahme in die bestehende jüdische Gesellschaft in München. Denn die „Neuen“ hatten zumeist im 2. Weltkrieg in der sowjetischen Armee gegen die Deutschen gekämpft und fühlen sich Gegensatz zu den Opfern Nazideutschlandes als Sieger. Die Ausstellung verbildlicht diese Diskrepanz eindrucksvoll und leise indem sie im Raum Scherben der zerstörten Münchner Synagoge einer hochdekorierten Russischen Militäruniform gegenüberstellt. Der Ausstellungsbereich im ersten Stock endet schließlich in einem bayerisch weißblauen Kabinett, an die weiße Wand ist eine blauen Silhouette der Stadt appliziert. In diesem Themenbereich geht es um das Ankommen um das Leben in München. Verbildlicht wird dies mit Hilfe eines großen Stadtplanes in der Mitte des Raumes, in den mit kleinen blauen Fähnchen Lieblingsorte der neuen Bürger der Stadt markiert sind. Neu gegründete Vereine, wie etwa die Merzbacher Gesellschaft, gegründet von jüdischen Alpinisten, die das Andenken an Gottfried Merzbacher, den jüdischen Vermesser des Kaukasus wahren wollen werden hier vorgestellt. Ein charmantes Ausstellungsstück ist ein kleiner Plastik-Weihnachtsbaum. Die an der Ausstellung ebenfalls beteiligte Autorin Lena Gorelik erzählt dazu in der Kurator-Führung, dass sie immer große Freude daran habe, die Feiertage ihrer alten Heimat mit denen der Neuen zu mischen. Nach Chanukka wird der Schmuck an den dann aufgestellten Weihnachtsbaum angebracht und mit Weihnachtsschmuck gemischt um ihn dann anschließend vom kommunistischen Stern krönen zu lassen und Väterchen Frost davor zustellen.
Im zweiten Stock des Museums steht ein kleines Holzhaus, ausgelegt mit Perserteppichen und an innen in die Wände eingebaut kleinen Vitrinen gefüllt mit Dingen, die das jüdische Leben in Russland illustrieren sollen. Da liegt eine Querflöte in einer Vitrine und eine Teetasse, ein letztes gerettetes Stückchen alte Heimat. Außerdem wird ein Video abgespielt, aufgenommen am Objektnachmittag.
An einer Längsseite des Hauses steht eine lange Vitrine, die mit einer reich illustrierten Pergamentrolle bestückt ist auf der das Hohelied dargestellt ist. Dieses Hohelied sowie 43 Grafiken, welche die Wände des großen Raumes schmücken, sind die Überreste der einst üppigen Sammlung des estnischen Kaufmannssohnes und Juristen Julius Genss. Im Jahr 1938/39 stellte dieser eine Wanderausstellung jüdischer Grafik zusammen. Ziel des Sammlers war es, die Existenz zeitgenössischer, jüdischer Kunst zu beweisen und da ihm der Transport von Ölgemälden zu teuer und in diesen Zeiten vor allem zu riskant war, beschloss er nur Papierarbeiten zu zeigen. Unter den Künstlern waren berühmte Namen wie Max Liebermann und Marc Chagall.
Das Jüdische Museum München will mit dem neuen Sammlungsbereich zu einem Erinnerungsraum für Einwandererfamilien werden. Ein kleines Stück Familiengeschichte und Erinnerung in der neuen Heimat damit sie noch besser ankommen können.
Juden 45/90. Von ganz weit weg- Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
Noch zu sehen bis zum 27. Januar 2012
Im Jüdischen Museum München, St.-Jakobs-Platz 16, in 80331 München
Ein Katalog ist erhältlich
Öffnungszeiten: Di-So 10-18 Uhr.
Fotonachweis Galerie:
01. Rauminstallation Juden 45/90
Von ganz weit weg -
Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
Fotos: Franz Kimmel 2012. Copyright: Jüdisches Museum München
02. Bon mit dem Namen der Autorin, wie er aus dem “Einrussungscomputer” kam. Foto: Laura Ingianni 2012
03. und 04. Rauminstallation Juden 45/90
Von ganz weit weg -
Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
Fotos: Franz Kimmel 2012. Copyright: Jüdisches Museum München
05. (Abb. 92) Tasse mit Unterteller hergestellt zum 125-jährigen Jubiläum der Porzellanmanufaktur Kuznecovs: Riga, 1937, Porzellan, D: 12,5 cm (Tasse), D: 15 cm (Unterteller), Leihgeber: Dorita Lipert
06. Hohelied (Schir Ha'Schirim), gestaltet von Julius Genss und Ado Vabbe, Tartu 1932, Elfenbein, Holz, Tempera auf Pergament
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