Kultur, Geschichte & Management

Während in Venedig die 59. Internationale Kunstbiennale ihre Pavillons öffnet, feiert das Deutsche Studienzentrum in Venedig sein 50-jähriges Bestehen. Im Rahmen eines Festakts öffnete der Kapitelsaal der franziskanischen Bruderschaft Scuola Grande di San Rocco mit seinen überdimensionalen, wunderschönen Wandgemälden Tintorettos am 6. Mai seine Pforten.

 

Dagmar Reichardt sprach mit dem Festredner – dem deutschen Philosophen und Erfinder der „Transkulturalität“ Wolfgang Welsch – über Transdisziplinarität sowie die Rolle der Medien, Ökologie, Politik und Kunst in Zeiten der ausklingenden Postmoderne.

 

1 Giovanni Antonio Canal il Canaletto The Feast Day of St Roch

Canaletto (1697-1768), Festtag der Scuola Grande di San Rocco, um 1735, Öl auf Leinwand, 147,7x199,4 cm. National Gallery London (public domain)

 

Aus Berlin ist einer der bereits seit Jahrzehnten – aus ästhetisch-philosophischer, kulturwissenschaftlicher sowie soziokultureller Sicht – innovativsten, prägnantesten und originellsten Gegenwartsphilosophen Deutschlands, Wolfgang Welsch, in die Lagunenstadt gekommen. Auf Einladung und Wunsch der Leiterin des Deutschen Studienzentrums Dr. Marita Liebermann hielt er hier vor über hundert internationalen und venezianischen Gästen einen Festvortrag zum Thema Transdisziplinarität.

 

2 Palazzo Barbarigo della Terrazza C DSZV

Palazzo Barbarigo della Terrazza. Foto © Deutsches Studienzentrum Venedig

 

Nach einer stimmungsvollen Darbietung von Bachs 5. Brandenburgischen Konzert für Flöte, Violine, Solocembalo und Streichorchester seitens des Orchesters der Universität Ca’ Foscari und noch bevor es im Anschluss zum Empfang für geladene Gäste auf die Terrasse in den Palazzo Barbarigo ging, wo das Studienzentrum seinen Sitz hat, weckten Welschs Ausführungen sowohl die Neugier als auch die Geister des Publikums. Einige Aspekte seines Vortrags fließen in das folgende Interview ein, das wir mit dem 1946 im bayrischen Steinenhausen geborenen und heute in Berlin-Dahlem lebenden Autor, Publizisten sowie kunst- und musikaffinen Philosophen tags darauf im Deutschen Studienzentrum geführt haben.

 

Der Abend zuvor war mit einer bühnenreif angeschnittenen und sodann freigiebig servierten Rum-Sahnetorte sowie einem freundlichen Händedruck von Mario Adorf zu später Stunde vor der Institutstür ausgeklungen, bevor sich letzterer in Begleitung seiner französischen Ehefrau Monique Faye zur guten Nacht in die nahgelegene Nobelpension verabschiedete. Tags darauf treffen wir in der repräsentativen, nunmehr von Saxophonklängen, Saal füllenden Redepegeln und allen Überresten des Buffets befreiten und aufgeräumten Empfangshalle des „Centro Tedesco“ einen gut gelaunten, elegant gekleideten, im besten Sinn alerten und sehr aufgeschlossenen Philosophen Welsch an.

 

Dagmar Reichardt (DR): Guten Morgen, Herr Welsch! – Zurzeit läuft die Kunstbiennale in Venedig: Waren Sie schon oder gehen Sie noch...?

 

Wolfgang Welsch (WW): Ja, ich war schon da, getrieben von Neugier und Hoffnung, doch die ist wenig erfüllt worden. Die letzte Biennale fand ich großartig – darüber habe ich auch einen Aufsatz geschrieben („Nach dem Ende des Anthropozäns. Künstlerische Vermutungen von Wolfgang Welsch“, erschienen im „Kunstforum“, Bd. 265, „Digital. Virtuell. Posthuman?“, Jan./Feb. 2020, S. 174-191; sowie unter dem Titel „Nach dem Anthropozän: Künstlerische Vermutungen“ auch in: „Dritte Natur: Technik – Kapital – Umwelt“, Aus. 4 – 2/2021; A.d.R.) – aber dieses Jahr bin ich bei nur wenigen Werken hängengeblieben!

 

DR: Wo sind Sie denn „hängengeblieben“?

 

WW: Beim Schweizer Pavillon, in den ich ohnehin immer große Hoffnungen setze. Das fand ich fantastisch: das sogenannte „Konzert“ ("The Concert“; A.d.R.) der in der Schweiz lebenden Installationskünstlerin marokkanischer Herkunft Latifa Echakhch. Sie präsentiert im Außenbereich angekokelte Holzskulpturen, die in ein paar Monaten durch die Erosion noch stärker verändert sein werden. Innen dann weitere Skulpturen und Lichteffekte. Wir waren lange drinnen und hatten plötzlich die gleiche Assoziation: Das ist Wagner! Diese Künstlerin sollte einmal eine Inszenierung von Wagner machen! Schließlich haben wir uns gefragt: Wieso trägt die Arbeit eigentlich den Titel „Konzert“?

 

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Installationsansichten „Das Konzert“ von Latifa Echakhch, Schweizer Pavillon (59th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, 2022). Courtesy: Künstlerin. Fotos: Samuele Cherubin

 

DR: Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

 

WW: Wir haben uns an eine der freundlichen Personen gewandt, die ein Schild „Please ask me!“ tragen. Ein junger Mann hat uns dann erklärt, dass Echakhch einen Perkussionisten dabeihatte, der Musik komponierte, die sie dann in Lichtimpulse übersetzt hat. Es war also nicht zufällig, dass wir den Eindruck eines Konzerts hatten!

Ebenso einfach wie eindrucksvoll ist auch die erste große Figur draußen, die einerseits wie eine Artischocke aussieht, und andererseits sieht man dann: Das ist ein Menschengesicht. Das eine Auge ist durchbrochen, das andere aber Gott sei Dank nicht. Die künstlerische Gestaltung bleibt ambivalent. Das Ganze war rätselhaft in seinen Andeutungen, man hatte etliche Assoziationen und war emotional stark bewegt. – Das bleibt!

 

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Installationsansichten „Das Konzert“ von Latifa Echakhch, Schweizer Pavillon (59th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, 2022). Courtesy: Künstlerin. Fotos: Samuele Cherubini

 

DR: Und wie kamen Sie auf Wagner?

 

WW: Unsere Assoziation war auch deshalb eindeutig Wagner, weil wir drei Tage vorher in der Frarikirche waren (Basilica di Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig; A.d.R.), wo im Moment die „Assunta“ („Mariä Himmelfahrt“, 1516-1518; A.d.R.) von Tizian (ca. 1488-1576; A.d.R.) leider nur in einer Kopie zu sehen ist – das Bild wird restauriert. Das Gemälde ist für mich aus verschiedenen Gründen eines der fantastischsten Bilder überhaupt. Wie die Madonna vor der Aufnahme in den durchaus nicht freudvoll wirkenden, sondern dunkel drohenden Himmel zurückschreckt! Wagner hat selbst gesagt, er habe dieses Bild in Venedig gesehen und bewundert – damals befand es sich noch in der „Accademia“ (gemeint ist das bedeutende Sammlungen venezianischer Malerei beherbergende Museum „Gallerie dell’Accademia“ am Südufer des Canal Grande; A.d.R.) – und dieses Bild habe ihn zu seinen „Meistersingern“ inspiriert (gemeint ist Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ von 1868; A.d.R.).

Das ist allerdings ein Transfer, den ich überhaupt nicht verstehe: weder vom Eindruck des Bildes noch von der Thematik her. Was soll die (wundervolle) Himmelfahrt Mariens denn mit den (meines Erachtens eher mediokren) „Meistersingern“ zu tun haben? Manchmal sind Transfers gar nicht verständlich. Bei Wagner weiß man ohnehin nie genau – er war ja ein großer Mystagoge –, wie ernst das zu nehmen ist, was er von sich gibt. Wagner war ein großer Selbstvermarkter und Selbstankündiger.

 

DR: Apropos Wagners Reise nach Venedig, der Stadt, die als die „Serenissima“, also als die „heiterste“ oder „entspannteste“ aller Städte beziehungsweise als „eine der schönsten Städte der Welt“, wie gestern Abend im Rahmen Ihres Festvortrags zum Thema „Transdisziplinarität“ gesagt worden ist, gilt. Aber während wir hier sitzen, tobt in Europa ununterbrochen der Ukraine-Krieg. Sie haben 1998 zusammen mit Gianni Vattimo ein Buch zum Thema „Medien – Welten – Wirklichkeiten“ (München: Fink, 1998) herausgegeben. Was können „Medien“ in einer transkulturellen Zeit mit Bezug auf die „Wirklichkeit(en)“ denn nun „wirklich“ bewirken?

 

WW: Ganz wenig, glaube ich! Was die üblichen Medien – sagen wir: die „Berichterstattungsmedien“ – betrifft, so habe ich zunehmend den Eindruck, dass wir nicht wirklich informiert werden. Wir werden allzu einseitig informiert. Es gibt beispielsweise eine simplizistische Sprachregelung, die sich in den deutschen TV-Medien durchgesetzt hat und die uns erklärt, es handle sich um „Putins Angriffskrieg“. Man sagt nicht einfach „der Krieg“, sondern man bringt gleich (in der Berichterstattung!) diese Wertung hinein. Und dann folgen immer die Hinweise (ganz zu Recht), dass die Berichte unbestätigt seien: Das versteht man, denn unter Kriegsumständen ist eine Verifikation natürlich nicht so leicht möglich. Aber ich habe insgesamt den Eindruck, dass wir nicht wirklich im möglichen Maße objektiv informiert werden.

An der Geschichte mit dem „Offenen Brief“ (an Bundeskanzler Olaf Scholz mit der Bitte, keine Waffen an die Ukraine zu liefern, publiziert in der Zeitschrift „Emma“ am 29.4.2022; A.d.R.), den ich nicht unterschrieben habe, war im Nachhinein interessant, dass die Schreiber sagten, die tatsächliche Meinung der Bevölkerung sei eine andere als die mediale. Die mediale unterstütze die Lieferung schwerer Waffen, aber die Schreiber stünden sozusagen auf der Seite der schweigenden Mehrheit der Bevölkerung, die nicht für die Lieferung schwerer Waffen sei. Wenn Letzteres stimmt, dann aus dem Grund, dass die Bevölkerung vermutlich einen Dritten Weltkrieg befürchtet.

 

Die zweite Grenzline, die genannt wurde, war: Liebe Ukrainer, ihr nehmt zu viel auf euch. Ihr nehmt eine Vernichtung von Menschen, eine Zerstörung der Infrastruktur auf euch, die maßlos ist! Das ist ein ganz problematisches Argument: Wenn, dann dürfen die Ukrainer doch bitte selber entscheiden, was sie auf sich nehmen und was nicht. Dieser deutsche Ratschlag hat mir wirklich missfallen. Deshalb habe ich den Brief nicht unterschrieben.

Ohne unsere deutschen Medien mit den russischen auch nur von ferne vergleichen zu wollen, habe ich doch den Eindruck, dass es auch bei uns viel zu viel unisono zugeht: schier überall die gleiche Mainstream-Meinung. Die sogenannten sozialen Netzwerke haben wir dabei noch ganz außen vorgelassen, sie spielen ebenfalls eine große Rolle.

 

DR: Das stimmt: Angesichts dieser durchmischten Informations- und allgemeinen Gefühlslage, die Sie schildern, kommt man aus philosophischer Sicht nicht umhin, sich die Frage zu stellen, wie es unter diesen Umständen um die Zukunft der Menschheitsgeschichte überhaupt bestellt ist. Und – im gleichen Moment, wenn Sie sagen, wir würden nur einseitig informiert – wie es realiter um die Ökologie unseres Planeten steht. Deutschland hat – so hieß es vor wenigen Tagen – bereits jetzt, im Mai, die natürlichen Ressourcen seines Landes im Prinzip aufgebraucht, wenn es nachhaltig wirtschaften würde. Das heißt: Ab sofort leben wir bis Jahresende auf Kosten des Planeten. Steuern wir Ihrer Meinung nach auf das Ende des Anthropozäns in universal-kosmologischen Dimensionen zu?

 

WW: Dazu gibt es einen Aufsatz von mir, der in zwei Büchern publiziert wurde („Wohin treibt das Anthropozän?“, in: „Wer sind wir?“, Wien: New Academic Press, 2018; und: „Im Fluss: Leben in Bewegung“, Berlin: Matthes & Seitz, 2021; A.d.R.): Meine Einschätzung ist grau bis dunkelgrau. Bereits in den 1970er-Jahren hat der Club of Rome alles auf den Tisch gelegt. Der US-amerikanische „Fast“-Präsident Al Gore (Albert Arnold „Al“ Gore Jr., 45. Vizepräsident der Vereinigten Staaten 1993-2001 unter der demokratischen Regierung des Präsidenten Bill Clinton; A.d.R.) hat den Friedensnobelpreis (2007; A.d.R.) für seine Bemühungen um die Ökologie erhalten, und, und, und... Aber nichts hat sich getan! Oder nur das Falsche: Die Verschmutzung der Luft, die Erwärmung der Meere, das Auftauen der Permafrostböden, die Verödung von Landstrichen haben stetig zugenommen. Trotz aller Warnungen wurden die Ventile immer weiter in Richtung Katastrophe aufgedreht.

 

Ich fürchte: Es muss erst ganz, ganz schlimm werden, bevor die Menschheit den Hebel herumreißt. Dass es möglich wäre, daran gibt es keinen Zweifel. Gewiss würde das auch mit sozialen Krisen und Veränderungen der ganzen Ökonomie – weg vom Wachstum – verbunden sein. Es gibt eigentlich nur zwei denkbare Enden des Anthropozäns bzw. zwei Grenzlinien: entweder wir graben uns die Lebensgrundlagen weiter ab und die Menschheit wird verschwinden, oder die Rettung ist eine Fortsetzung des Anthropozäns in dem Sinn, dass wir die Öko-Krise mit Hilfe von intelligenten Technologien bewältigen. Und mit dieser „Rettung“ beziehungsweise „zweiten“ Grenzlinie meine ich die Reduktion von Emissionen – und zwar nicht durch absolute Enthaltung, sondern dadurch, dass man ressourcenschonende Technologien findet, beim Car-Sharing angefangen und so weiter, ohne dass wir zurückgehen zum Status Urwald oder Urmensch; auch eine Reduktion der Lebensansprüche wird nötig sein. Ob das kommt, das weiß niemand – ich am allerwenigsten –, aber meine Einschätzung ist, dass es erst „fünf nach zwölf“ wird sein müssen. Vorher geschieht nichts.

 

Wenn ich mit Leuten meiner Generation spreche, so sind sie meist aufgeschlossen und sehen die Probleme, sie sind diesbezüglich aber schwerfällig: Sie wollen jetzt doch noch diese eine Flugreise machen und sich diesen einen Urlaub am Lebensende gönnen. Die Jüngeren denken viel ökologischer. Das gibt Hoffnung. Aber ob das reicht, das ist die Frage, und vor allem: ob das in den politischen Strukturen durchsetzbar ist... Wer weiß, zum Beispiel, wie sich die Grünen in Zukunft entwickeln werden: Sie haben jetzt einen Switch gemacht von einer Friedens- zur Kriegspartei. Wer weiß, ob sie nicht noch einen Switch machen! Ich habe sie oft und gerne gewählt, aber was mir derzeit wirklich Hoffnung macht, hat eher mit BlackRock Inc. zu tun, der größten Vermögensverwaltungsfirma der Welt. Sie hat vor anderthalb Jahren umgestellt und setzt jetzt nur noch auf nachhaltige Investitionen. Das macht diese Investmentgesellschaft natürlich nicht, um den Planeten zu retten, sondern weil sie weiß, dass sich nur diese Investitionen in Zukunft noch bezahlt machen. Also, dass sich „die Bösen“ umstellen, das ist ein gutes Zeichen!

 

DR: Ja, diese Art von „Switches“, wie Sie sagen, kann sowohl Veränderung bewirken als auch Verbindungen schaffen. Für Ihren Festvortrag haben Sie das Thema Transdisziplinarität gewählt – warum? Warum ist Transdisziplinarität so wichtig, und warum dieses Thema jetzt, in dieser Zeit?

 

WW: Das Thema Interdisziplinarität war angefragt worden, sodass ich dachte, da hätte ich einen weitergehenden Vorschlag, und durchaus im Sinn dessen, was das Deutsche Studienzentrum in Venedig de facto praktiziert. Mein Vorschlag ging auf Ideen zurück, mit denen ich mich schon seit 1975 – Ausgangspunkt war damals ein Seminar über „Philosophische Texte zur Ästhetik“ – beschäftigt habe. Seinerzeit dachte ich: Wenn wir schon über Ästhetik sprechen, dann sollten wir vielleicht einen Kunsthistoriker dazu bitten. Es wäre ja grotesk, wenn wir da nur „im eigenen Saft“ kochen würden...

 

Also haben wir es gemacht, aber von den Philosophen wurde das ganz schief beäugt, dass man da mit Kollegen aus anderen Disziplinen etwas zusammen machte. Später wurde es selbstverständlicher, zum Beispiel mit Architekten etwas zusammen zu diskutieren, aber ganz schwierig wurde es durch den Bologna-Prozess (d.h. die europaweite Hochschulreform zur Anpassung der Studiengänge und -inhalte sowie Etablierung des European Credit Transfer Systems ECTS; A.d.R.): Bei interdisziplinären Lehrveranstaltungen wurde mir das Lehrdeputat bei solchen Kooperationen nur halb angerechnet, und die Studierenden wussten gar nicht mehr, wofür das überhaupt noch anrechenbar war. Das ist grotesk, aber meine Überzeugung war, dass die Studierenden so früh wie möglich erfahren, lernen, praktizieren müssen, dass eine Sache nicht einfach nur „die eine Sache“ ist, sondern dass sie in vielen Verflechtungen steht und dass man die Resonanzen hinzunehmen muss. Der Netzwerkcharakter aller Dinge gebietet, den Verflechtungen nachzugehen. Man schafft das ohnehin nie ganz, aber ein Stück weit! Diese Kruste, diese Grenze einer scheinbar autonomen Disziplin aufzubrechen, das war mir ganz wichtig.

 

Die Kunsthistoriker sind da eher offen gewesen, denn sie hatten längst etwa dank Martin Warnke (1937-2019, ehemaliger Professor für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg; A.d.R.) und anderen die politische Dimension der Ikonographie bedacht. Bei den jungen Zeitgenossen kommt die Idee der Transdisziplinarität viel leichter an als bei den Älteren – für Jüngere ist sie fast spielerisch zugänglich: Sie sind offen dafür, wo die diversen Fäden und Vernetzungen hingehen. Sie sind viel weniger auf einen Inselcharakter fixiert. Kann sein, dass das auch durch den Gebrauch der sozialen Medien befördert ist. Sie sind gewohnt, in viele Richtungen zu schauen, viele Fäden zu verfolgen.

 

In meinen letzten Universitätsjahren habe ich dann vom BMBF viel Geld bekommen, um mit anderen Wissenschaftlern, mit Psychologen, Neurologen, Soziologen etc. etwas auf die Beine zu stellen. Leider wurde das dann doch nicht zu einem transdisziplinären, sondern nur zu einem interdisziplinären Unternehmen. Wir saßen in verschiedenen Städten und trafen uns alle drei Monate, aber wir kamen nie wirklich zusammen. Alle hatten ihren Beitrag vorbereitet und saßen darauf fest, und erst als wir die Schlusspublikation planten, sagte ein amerikanischer Freund – Michael Forster –, der das von außen mitverfolgt hatte: Ich schreibe euch jetzt den verbindenden Text. Da hat man noch einmal gemerkt, wie hart es ist, mit Leuten, die bei Max-Planck-Instituten und anderen renommierten Institutionen arbeiten, auf einen Nenner zu kommen. Mit jüngeren Leuten wäre das wohl leichter möglich gewesen.

 

DR: Was macht denn Transdisziplinarität im Kern aus? Was kann sie auch außerhalb universitärer Einrichtungen leisten angesichts der Missstände, die unsere Zeitenwende kennzeichnen und derer es im Moment so viele zu geben scheint? Denkt man nur an die „Kommunikationsprobleme“ in der Politik – wenn wir sie (von Trump über Putin bis hin zu Scholz) so nennen wollen –, dann drängt sich einem doch förmlich der Gedanke auf, den Sie gestern in der Scuola Grande di San Rocco – ein „Lieblingsort“ von Ihnen schon seit fünfzig Jahren, zu dem Sie „bei jedem Venedigbesuch“ pilgern, wie Sie in Ihrer Rede erwähnten – unterstrichen haben. Es geht um Ihre Vision der transdisziplinären Durchdringung eben nicht autarker, sondern miteinander „verschwisterter“ (wie Sie sagten) Querverbindungen „zwischen“ Kunst und Wissenschaft und den Disziplinen, das heißt um den „Gedanken“ der „Kooperation“ (ebenfalls Ihre Worte) – aber wie?

 

WW: Transdisziplinarität ist harte Arbeit. In besagtem Buch „Interdisciplinary Anthropology: Continuing Evolution of Man“ (herausgegeben von Wolfgang Welsch, Wolf J. Singer und André Wunder, Heidelberg: Springer, 2011; A.d.R.), für das ich zusammen mit Michael Forster schließlich jenen rettenden, übergeordneten verbindenden Text verfassen konnte, habe ich gemerkt, wie sehr letztlich jeder Autor seiner Disziplin verhaftet bleibt. Wenn Sie je das Pech hatten, in Fakultätsratssitzungen oder Senatssitzungen zu sein, kennen Sie das: Jeder kämpft für sein Fach und denkt, wenn es um eine Stelle geht, da dürfen wir keine freigeben, denn dann ist dies und jenes in meinem Bereich nicht mehr möglich. Und das trifft allein schon innerhalb einer einzigen Fakultät zu, etwa der philosophischen Fakultät, wo doch alle an einem Strang ziehen sollten. Die Fächer stehen da doch alle einander sehr nahe und würden davon profitieren, wenn neue, interessante Leute kommen. Die faktische Borniertheit war schrecklich in meinen letzten Universitätsjahren!

 

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Buchcover, Springer Verlag / New Academic Press (nap)

 

DR: Warum ist das so? Woran liegt diese unvermeidliche Zersplitterung Ihrer philosophischen Meinung nach? Ist es denn nach der Covid-19-Pandemie-Erfahrung und der derzeitigen Kriegssituation, die in einen Weltkrieg zu kippen droht, nicht möglich, ja notwendig, in den Menschen etwas Altruismus und Gefühl für das Miteinander auch außerhalb des akademischen und universitären Einflussbereichs wachzurufen?

 

WW: Statt Zweckfreiheit dominiert das Pfründenwesen. Jeder will sein Reich haben und schützen. Mein Eindruck ist, dass es im Moment einfach in eine andere Richtung geht. Man kapriziert sich wieder auf das „Eigene gegen das Fremde“ – das erlebt man nicht nur generell in der Kultur, sondern eben auch in den akademischen Kulturen –, und dieser Trend verstärkt sich in Bedrohungssituationen. Derzeit erleben wir ein Zusammenrücken innerhalb Europas, auch mit den USA. Man verbündet sich, aber man tut das doch nur mit Blick auf eine Bedrohung von außen. Es handelt sich um ein ganz zweckbegründetes und zweckgezieltes Zusammenrücken – nicht mehr.

 

DR: Eigentlich ist Transkulturalität ja nur ein Aspekt Ihres philosophischen Ansatzes. Sie haben sich auch sehr intensiv mit Ästhetik beschäftigt. Wie verhält sich der theoretische Zusammenhang von Kunst, Ästhetik und Transkulturalität? Wie kamen Sie überhaupt „zur Kunst“?

 

WW: Das wird eine lange Antwort...! – Die Kunst war meine große Liebe, seit ich das Glück hatte, aus der (oberfränkischen; A.d.R.) Provinz in eine wirkliche Kulturstadt zu kommen – das war München. Da war ich siebzehn. Ich bin in einer kulturell schrecklichen Provinz aufgewachsen. Es gab da zwar ein Theater, aber dort fanden nur Dia-Vorträge statt. Irgendwann dachte dann mein Lateinlehrer – der verehrte Edgard Früchtel – der Welsch müsse einmal Kultur kennenlernen, und so hat er mir eine Theaterkarte geschenkt für das Theater in Bayreuth. Das war für mich die erste kulturelle Offenbarung: Dürrenmatt, „Die Physiker“! Ich war hin und weg. Und dann kam ich nach München: Dort gab es eine Ausstellung im Haus der Kunst über französische Malerei des 19. Jahrhunderts. Da fing ich an zu malen und bin dann in alle Galerien – von Beuys bis Warhol – gegangen. Nach dem Abitur hatte ich schließlich eine schwierige Entscheidung zu treffen: Kunst oder Philosophie? Meine Kunsterzieher meinten, ich sei eminent begabt, ich müsse unbedingt auf die Akademie gehen. Aber ich traute mir das nicht wirklich zu, die Philosophie hingegen ein bisschen mehr. Die Liebe zur Kunst aber blieb. Ich habe all die Jahre – vornehmlich auf Reisen – wenigstens gezeichnet, und ich hatte immer vor, dass ich dann, wenn ich mit Philosophie fertig sein würde, zu malen anfangen würde. Das habe ich dann auch getan – und tue es bis heute mit größter Freude. Vielleicht findet sich mal jemand, der meine Bilder ausstellen möchte.

 

Weil mich die Kunst stets fasziniert hat, habe ich neben der Philosophie auch Archäologie und Kunstgeschichte studiert. Archäologie sozusagen aus Versehen, denn ich bin in keine Studienberatung gegangen und dachte, Kunstgeschichte könne man nicht studieren, wenn man nicht Archäologie studiert hat. Also habe ich das getan. Nach sechs Semestern hat mir dann jemand gesagt, Archäologie sei für ein Kunstgeschichtestudium nicht erforderlich. Ich fand das doof. Ich war und bin bis heute heilfroh, griechische und ägyptische Kunst sehr genau kennengelernt zu haben.

 

Während des gesamten Studiums war meine eigentliche Freude und Begeisterung aufseiten der Kunst. Ich bin in alle möglichen Ausstellungen und Filme (insbesondere von Godard) gegangen. Die akademische Philosophie fand ich eher langweilig, sehr enttäuschend, ich war kurz davor, das Philosophiestudium abzubrechen. Aber dann geriet ich eines Abends in die Abendvorlesung von Max Müller (1906-1994; A.d.R.) – da war plötzlich und endlich der große Atem der Philosophie zu spüren. So blieb ich bei der Stange.

 

Die Kunst aber war eigentlich stets mein Lebensmittel. Ich habe schon früh mit Künstlern Kontakt aufgenommen und Texte für Kunstkataloge geschrieben. Ich wandte mich intensiv der Ästhetik zu, weil sie das Verbindungsglied zwischen Philosophie und Kunst darstellt.

Meine Bemühungen in der Ästhetik waren auch bald ziemlich erfolgreich: Mein Buch „Ästhetisches Denken“ (Stuttgart: Reclam, 1990; A.d.R.) ist vor gut dreißig Jahren erschienen und hat inzwischen acht oder neun Auflagen erlebt. Das ist bis heute mein meistverkauftes Buch. Das Buch zur Postmoderne, das mich bekannt gemacht hat, hat hingegen nur sieben Auflagen erreicht (Unsere postmoderne Moderne, Berlin: Akademie Verlag, 1987; A.d.R.). Also: Die Verbindung von Philosophie und Kunst – in Gestalt der Ästhetik – war für mich essenziell. Sie hat mich auch zur Transdisziplinarität motiviert. Man musste die Theorien der Kunst ja auch an ihrem Gegenstand, der Kunst selbst, überprüfen, und die eigentlichen Experten dafür waren eben die Kunstwissenschaftler. Später habe ich das auch auf die Musik ausgedehnt, also auch mit Musikwissenschaftlern zusammengearbeitet.

 

DR: Würden Sie sagen, dass es eine besondere Beziehung gibt, die die Kunst mit der Transkulturalität verbindet? Haben Sie dieses Thema konzis verfolgt?

 

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Giovanni Bellini, 1488, Triptychon, Öl auf Holz. Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig. (public domain)

 

WW: Oh ja. Die Kunst war meines Erachtens stets besonders transkulturalitätsaffin. Nehmen wir zum Beispiel Dürer, von dem man – im 20. Jahrhundert und vor allem in der Nazi-Zeit – gesagt hat, er sei „der“ deutsche Künstler par excellence. Aber Dürer, der in Nürnberg bei Michael Wolgemut eine gute Malerausbildung genossen hatte, fühlte schon bald das Bedürfnis, auf Reisen zu gehen, um seinen Horizont zu erweitern. So ging er 1496 in die Niederlande, ins Elsass und nach Basel. Und kaum war er zurück in Nürnberg, brach er – zack! – auf nach Italien: nach Venedig! Dort war er dann sehr erfolgreich – auch im transdisziplinären Sinn, wie ich gestern berichtet habe. Nach seiner Rückkehr nach Nürnberg malte Dürer dann die „Haller Madonna“ (die man so nennt, weil die ersten Besitzer die Hallers waren). Sie ist ganz offensichtlich der Mitteltafel von Giovanni Bellinis (berühmter venezianischer Renaissancemaler, 1437-1516; A.d.R.) Triptychon („Thronende Madonna mit Kind und vier Heiligen“, 1488; A.d.R.) in der Frarikirche nachempfunden – so sehr, dass sie lange Zeit als ein Werk von Bellini angesehen wurde – so sehr hat Dürer dessen italienischen Stil imitiert oder aufgenommen. Und zehn Jahre später hörte Dürer vom Maler und Kupferstecher Jacopo de’ Barbari (ca. 1460/1470-ca. 1516; A.d.R.), dass man in Venedig eine Möglichkeit gefunden habe, den menschlichen Körper perfekt zu proportionieren. Das sei dem Mathematiker Luca Pacioli (1445-1514 oder 1517; A.d.R.) gelungen. Prompt machte Dürer sich erneut auf den Weg nach Venedig, wo er zwei Jahre blieb. – Dürer ist also durch den Austausch mit Venedig nicht der kleine Nürnberger geblieben, der er anfänglich war, sondern der große europäische Künstler geworden, als den wir ihn kennen und schätzen.

 

7 Mecklenburg Brandenburg

Jacopo de' Barbari (1460/1470 - vor 1516): Links: Portrait Herzog Heinrich V. (1479-1552) von Mecklenburg (der Friedliche), 1507, Öl auf Holz, 59,3x37,5 cm. Mauritshuis, Den Haag.
Rechts: Albrecht of Brandenburg, 1508, Öl auf Holz, 68,3 x 53,3 cm. Kulturstiftung Dessau (public domain)

 

Übrigens haben auch die berühmten „Vier Apostel“ in der Alten Pinakothek in München die Seitentafeln von Bellinis Triptychon in der Frarikirche zum Vorbild. Auch das zeigt, wie viel Italien, wie viel Bellini in Dürer eingegangen ist. Erst durch diesen transkulturellen Push ist er ein großer Künstler von europäischem – nicht bloß deutschem – Rang geworden. Damals waren die Künstler ohnehin nicht national, sondern europäisch. Dürers Kollege Veit Stoß (1447-1533; A.d.R.) hat sein wichtigstes Werk in Krakau geschaffen. Dergleichen war damals gang und gäbe.

 

Diese Transkulturalität in der Kunst habe ich immer genau verfolgt (dazu gibt es einen längeren Essay: „Transkulturalität in der Geschichte – gezeigt an Beispielen der Kunst“, in: „Transkulturalität: Realität – Geschichte – Aufgabe“, Wien: New Academic Press, 2017; A.d.R.). Auch hier, auf der Biennale, galt mein Augenmerk solch transkulturellen Transfers. Und tatsächlich: Transkulturalität ist bei den heutigen Künstlern allgegenwärtig. Im amerikanischen Pavillon der Biennale beispielsweise hat Simone Leigh – eine schwarze amerikanische Künstlerin – schwarze Frauen in würdevollen Formen präsentiert („Sovereignty“; A.d.R.). Was mir eminent gefallen hat, ist eine Arbeit, wo eine schwarze Frau als Sphinx dargestellt wird: üppige Rundungen und zugleich eine Sphinx – eine wundervolle Verschmelzung der starken schwarzen Frau mit der ägyptischen Macht- und Kraftfigur. Das ist ästhetisch sehr gelungen und zugleich von der Idee her überzeugend. Simone Leigh hat zu Recht den Goldenen Löwen der Biennale erhalten. – Gerade im künstlerischen Bereich, denke ich, ist Transkulturalität heutzutage geradezu selbstverständlich. Die KünstlerInnen kümmern sich nicht mehr um nationale Schemata, sondern beziehen ihre Inspirationen von überall her, aus der europäischen Kunstgeschichte ebenso wie aus Asien oder Japan. Und der Austausch ist wechselseitig.

 

DR: Vielen Dank für diese Ausführungen zur Kunst! – Dabei stellt sich mir die Frage, welche Leitbilder Sie eigentlich haben: An welchen Persönlichkeiten oder Figuren orientiert sich Ihre Philosophie der Kunst – oder Kunst der Philosophie? Sind es Künstler? Oder doch eher Philosophen – beispielsweise Wittgenstein?

 

WW: Jein...! Meine großen „philosophischen Heiligen“ sind letztlich doch nicht Künstler, und auch nicht mehr Wittgenstein – der freilich zeitweise für mich sehr wichtig war, um mich von der pompösen deutschen metaphysischen Philosophie zu befreien. Wittgenstein empfahl dankenswerterweise nicht den großen (aber großartig nur scheinenden) Gestus, sondern die genaue Analyse. „Denk nicht, sondern schau“ war eine seiner wichtigsten Empfehlungen (so in den „Philosophischen Untersuchungen“, posthum 1953 erschienen; A.d.R.). Aber meine bleibenden Götter sind Aristoteles und Hegel, daneben auch Heraklit (von dem allerdings nur wenig und Unsicheres überliefert ist). Über Aristoteles habe ich meine Habilitationsschrift verfasst („Aisthesis: Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre“, Stuttgart: Klett-Cotta, 1987; A.d.R.). Dem verdanke ich das Allermeiste. Ich habe damals als Habilitationsprojekt eine Geschichte der Sinnlichkeit schreiben wollen, blieb aber bei Aristoteles hängen. Ich hatte den Eindruck: verdammt, ich verstehe ihn nicht wirklich, aber da liegt ein Schatz vergraben. Aber warum ahnte ich das nur und verstand es nicht? Weil ich auf Übersetzungen angewiesen war: auf deutsche, englische, französische, italienische Übersetzungen. Ich konnte damals eben noch nicht Griechisch. So kam ich zu dem Schluss, dass ich (im fortgeschrittenen Alter) Griechisch lernen müsste! Das tat ich, und da ging mir ein Licht auf. Plötzlich verstand ich Aristoteles (übertrieben gesagt), wie wenn ich das alles selber geschrieben hätte – kongenial.

 

Und ein großartiger Nebeneffekt war: Von nun an fühlte ich mich sicher in der Philosophie. Ich hatte fortan den Eindruck, dass mir keiner mehr etwas vormachen kann. Damals war die Philosophie (zumindest in München) von Heidegger-Epigonen geprägt, und das bedeutete: „Je unverständlicher, desto philosophischer“. Das konnte ich nicht glauben, es hat mich geradezu angewidert. Später – auch durch meine Lehrtätigkeit in Stanford – wurde mir klar: Wenn man etwas wirklich verstanden hat, kann man es ganz einfach und klar sagen. Ich fand die deutsche Geheimniskrämerei und Wolkenschieberei fürchterlich. Gottseidank bin ich heute damit nicht mehr allein. Damals, vor über vierzig Jahren, bot Aristoteles die Erlösung. Bei ihm wird alles in Klarheit überführt. Fortan konnten mir die Nebelschwaden-Produzenten (die leider noch immer in Gestalt etwa von Sloterdijk oder Agamben und Konsorten Konjunktur haben) nichts mehr vormachen. Fortan fühlte ich mich im Metier der Philosophie sicher.

 

DR: Und was sagen Sie Kritikern, die Sie für einen Idealisten halten? Oder: Wieviel Utopie steckt in Ihrer Vision von Transkulturalität (bzw. in der Transdisziplinarität)? Wenn das Motto der diesjährigen Kunstbiennale von Venedig – „The Milk of Dreams“ – nicht einwandfrei umgesetzt worden ist, wie Sie zu Anfang konstatieren mussten: Welche Art von Hoffnung, Absicht oder „Traum“ – um im Bild zu bleiben – würden Sie diesen Stimmen am Ende unseres Gesprächs entgegensetzen wollen?

 

WW: Als „Idealisten“ lasse ich mich gerne bezeichnen. Nicht nur wegen der großen und höchst ehrenvollen Tradition des Ausdrucks, sondern – jenseits aller Eitelkeit – aus höchst realistischen Gründen. Die Wirklichkeit von morgen wird die Übertreibung von heute, wird die Entfaltung der heutigen Zukunftskeime sein. Idealisten sind, so möchte ich den Ausdruck verstehen, Visionäre des Morgen und Übermorgen. Aber nicht, weil sie verblasene Ideen propagieren, sondern weil sie die Keime erkennen, die morgen und übermorgen zum Wachsen und zur Blüte kommen werden.

Wenn Sie mir dazu abschließend noch eine persönliche Bemerkung gestatten: Für das Konzept der Transkulturalität, das ich vor über dreißig Jahren propagiert habe, musste ich die heftigsten Prügel einstecken: höchst erwünschte Berufungen wurden seinetwegen verweigert. Von persönlichen Angriffen, Beleidigungen und Bedrohungen ganz zu schweigen. Aber heute spricht jedermann wie selbstverständlich von „Transkulturalität“. Manchmal sind Idealisten wohl doch die wahren Realisten.

 

DR: Danke, lieber Herr Welsch, für dieses spannende, so lebendige, „realistische“ (im Sinn von realitätsnahe) und „idealistische“ (im Sinn von philosophisch erfüllende) Gespräch!

 

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Wolfgang Welsch am 7.5.2022 im Deutschen Studienzentrum Venedig. Foto: © Claus Friede


Wolfgang Welsch

 

Zur Person:

Prof. Dr. Wolfgang Welsch, geboren 1946, ist ein deutscher Philosoph, der u.a. an der FU sowie an der Humboldt-Universität zu Berlin, an den Universitäten Bamberg und Jena sowie an der Stanford University und der Emory University gelehrt hat. 1992 erhielt er den Max-Planck-Forschungspreis und 2016 den Premio Internazionale d’Estetica. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Anthropologie und Epistemologie sowie philosophische Ästhetik. Welsch veröffentlichte zahlreiche Bücher und lebt in Berlin.

 

Aufsatz-, Reden- und Buchhinweise (Auswahl zum Interview):

Wolfgang Welsch: „Nach dem Ende des Anthropozäns. Künstlerische Vermutungen von Wolfgang Welsch“, in: „Kunstforum“, Bd. 265 („Digital. Virtuell. Posthuman?“), Jan./Feb. 2020, S. 174-191; (Weitere Informationen)

oder:

Wolfgang Welsch: „Nach dem Anthropozän: Künstlerische Vermutungen“, in: „Dritte Natur: Technik – Kapital – Umwelt“, Ausgabe 4, 2/2021, (online nur als Teaser bzw. Textausschnitt).

 

Zum Thema Anthropozän zu Zeiten von Corona gibt es online eine Rede von Wolfgang Welsch auf Video:

Wolfgang Welsch: „Das Anthropozän: Eine Problemdiagnose“, mit einem anschließenden Gespräch moderiert von Cornelia Jentzsch, in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, Urania Berlin, 23.6.2021.(Weitere Informationen)

 

Zur Einführung in die Philosophiegeschichte:

Wolfgang Welsch: „Glanzmomente der Philosophie: von Heraklit bis Julia Kristeva“, Beck Verlag, München, 2021. (Weitere Informationen)

 

Bücher von Wolfgang Welsch beim Verlag Matthes & Seitz, Berlin:

Wahrnehmung und Welt: Warum unsere Wahrnehmungen weltrichtig sein können“, (Fröhliche Wissenschaft, Bd. 137), 2018; (Weitere Informationen)

Im Fluss: Leben in Bewegung“, (Fröhliche Wissenschaft, Bd. 179), 2021; (Weitere Informationen)

Umdenken: Miniaturen zu Hegel“, (Fröhliche Wissenschaft, Bd. 205), 2022. (Weitere Informationen)

 

Bücher von Wolfgang Welsch beim Verlag New Academic Press, Wien:

Transkulturalität: Realität – Geschichte – Aufgabe“, 2017; (Weitere Informationen)

Wer sind wir?“, 2018. (Weitere Informationen)

 

YouTube-Videos zur Biennale in Venedig:
- Latifa Echakhch "The Concert" – Swiss Pavilion at Venice Biennial 2022 (5:25 Min.)

- Simone Leigh: Sovereignty / Pavilion of the USA at Venice Art Biennale 2022 (5:36Min.)

- Simone Leigh - Sovereignty (USA) - Venice Art Biennale 2022 (2:22 Min.)

 

Zur Homepage: Deutsches Studienzentrum Venedig

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