"Literacy as Freedom" - Eine Fotografieausstellung zum Thema Analphabetismus
- Geschrieben von Claus Friede -
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„Litaracy as Freedom“ ist der Titel einer Ausstellung des in Berlin lebenden Fotografen Holger Jacobs.
Der Titel umschreibt nicht nur die Ausstellung in der Hamburger „aplanat Galerie für Fotografie“, sondern auch eine Kampagne der UNESCO, auf die sich der Fotograf bezieht. Außerdem ist dieser für ein „Kunst im öffentlichen Raum“-Projekt des Fotografen in Hamburg übernommen worden, in der HafenCity, präzise, im Überseequartier sollen die Kunstwerke zukünftig entlang des Arkadenwegs an der Osakaallee entstehen.
Bevor man sich den Werken zuwenden sollte, ist es allerdings notwendig Begriffsklärungen vorzunehmen.
Mit dem englischen Begriff "Literacy" (Literalität) der übrigens auch als Fachbegriff in der Pädagogik verwendet wird, werden zunächst die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bezeichnet. Der Fachbegriff der Pädagogik ist von der OECD übernommen worden und umschreibt noch weiteres: Dieser definiert auch Text- und Sinnverständnis, Erfahrungen mit der Lese- und Erzählkultur der jeweiligen Gesellschaft, Vertrautheit mit Literatur und anderen schriftbezogenen Medien (inklusive dem Internet) sowie Kompetenzen im Umgang mit der Schriftsprache.
Bleibt man zunächst bei der einfachen Konnotation, der Fähigkeit Lesen und Schreiben zu können, dann ist im Titel „Literacy“ verknüpft mit dem Begriff „Freedom“, Freiheit. Die Fähigkeit Lesen und Schreiben zu können ist also eine Bedingung von Freiheit. Gemeint ist damit, dass der Mensch erst durch den Erwerb der Schreib- und Lesekompetenz individuelle Freiheit und Entwicklungsmöglichkeit erhält: Es geht um das Reduzieren des Analphabetismus’. Für uns hier auf der Nordhalbkugel der Erde ist dies fast schon eine Selbstverständlichkeit, wir lernen bereits im Kindesalter Lesen und Schreiben im Kindergarten, in der Vorschule und in der Grundschule. Ein albanisches Sprichwort besagt: „Wer lesen und schreiben kann hat vier Augen“. Mit anderen Worten erweitert sich der Horizont der Menschen schlagartig, sie verdoppeln ihren Erfahrungsschatz, entdecken neue Welten und erleben ungeahnte Möglichkeiten. Sie lernen Zeichen, Zahlen, Worte und Zusammenhänge. Wer lesen und schreiben kann sieht mit vier Augen: nicht nur seine Umwelt in einem neuen Licht, sondern auch die Bestimmung unseres Lebens, die wir nur dann erfahren, wenn wir mit einem zweiten Augenpaar hinter die Dinge zu schauen lernen.
800 Millionen Menschen auf dieser Erde sind laut Aussage der Vereinten Nationen (UNESCO) Analphabeten. Eine erschreckend hohe Zahl. Das sind zehnmal mehr Menschen, als in Deutschland leben! Schaut man sich die Weltkarte des Analphabetismus an, so sind insbesondere Länder in Afrika, Asien und Zentral- sowie in Südamerika betroffen. Aber auch bei uns in Europa leben viele Menschen ohne die Fähigkeit richtig Lesen und Schreiben zu können.
Selbst in Deutschland gibt es Analphabeten und Semi-Analphabeten – immerhin geschätzte 4 Millionen Menschen sind es in dieser Republik.
Holger Jacobs hat sich jedenfalls seit Jahren diesem Thema fotografisch angenommen. Er begleitet quasi die Dekaden-Kampagne der UNESCO, die 2003 startete und zunächst bis 2012 dafür sorgen soll, dass immer weniger Menschen auf die Grundfähigkeiten jedweder Bildung verzichten müssen.
Es ist durchaus ungewöhnlich, dass sich ein Künstler von einer gesellschaftlichen, politischen Kampagne der Weltgemeinschaft inspirieren lässt. Künstler arbeiten frei und unabhängig, sie sind nach unserem Verständnis keiner politischen Instanz verpflichtet. Wenn ein Künstler sich dennoch einer solchen thematischen Vorgabe anschließt, dann hat das auch immer gute künstlerische Gründe.
Seit Jahrzehnten fordern Teile der Bevölkerung ein öffentliches Engagement von Intellektuellen und Künstlern bei politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen und damit verbunden, eine moralisch klare Haltung. Einige bildende Künstler der heutigen Generation thematisieren durchaus gesellschaftlich relevante Themen, aber fast immer sind es selbstgesuchte und nur selten externe, herangetragene. Dabei engagieren sich Kulturschaffende immens für Belange des menschlichen Miteinanders und wirken als integrative Persönlichkeiten mit an der sogenannten besseren Welt.
Holger Jacobs engagiert sich mit seinen fotografischen Mitteln. Er ändert weder seinen fotografischen Stil, den er als „Poesie und Abstraktion“ bezeichnet, noch seinen ästhetischen Duktus für das Projekt, sondern er arbeitet so, wie er das bereits zuvor gemacht hat. Für „Literacy as Fredom“ fotografiert der Künstler Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Schauspieler, Politiker, Regisseure, Musiker, Sportler und Schriftsteller, also genau jene, von denen die Gesellschaft das zuvor erwähnte Engagement für eine „gute Sache“ erwartet und bekommt. Die auf hochwertigem Papier gedruckten Portraits sind digital verfremdet, eigentlich sind sie vereinfacht worden im besten Sinne des Wortes, denn sie zeigen die wichtigen, konturbetonten Züge der abgelichteten Personen und verweisen nicht mehr auf die jeweilige eigentliche „Urszene“ des fotografierten Moments und des im Zusammenhang damit stehenden Ortes. Diese behutsame Abstraktion, die dennoch Kenntlichkeit zulässt, ist insofern eine richtige künstlerische Entscheidung, weil sie sich dadurch deutlich von Fotografien von Führungspersonal und Management für Jahresberichte großer Unternehmen unterscheiden. Die Verfremdung ist also eine Distanzierung zur fotografierten Person. Ohne diese wären die Werke vom jeweiligen Bildausschnitt durchaus vergleichbar mit den Portraitfotografien amerikanischer Präsidenten, wie man sie in einigen US-Universitätsbibliotheken findet: Häufig direkt über die Buchregale als Fries gehängt. Mit der entsprechenden Lesart kann man diese nämlich so interpretieren, als seinen die politischen Führer des Landes auch gleichzeitig die Herren über das Wissen und über das kulturelle Gedächtnis per se. Sie wären also mit ihrem Portraitfoto Teil der Geschichte.
Bei Holger Jacobs können eben keine derartigen Verwechslungen oder Missverständnisse entstehen, denn es handelt sich eben nicht um dokumentarische, reportageartige oder journalistische Fotografie. Wie in Roland Barthes „La Message Photographique“ treffend beschrieben, ist die „Referenzkonnotation“ ausschlaggebend, die besagt, es geht hier nicht um Selbstdarstellung und lediglich um ein Individuum, sondern vielmehr um die Referenz zum weltumspannenden Problem des Analphabetismus.
Und noch weitere Gründe sind entscheidend in diesem Zusammenhang: Der Fotograf kommt den Fotografierten beim Fotografieren sehr nahe. Dann distanziert er sich wieder durch den Akt der digitalen Verfremdung. Anschließend aber kommt er den Abgelichteten wieder sehr nahe, denn er bittet die Protagonisten um eine Schriftprobe, um einen von ihnen selbst ausgewählten Text. Holger Jacobs überreicht ein etwa DIN A 4 großes Blatt Büttenpapier und erhält handschriftlich geschriebene Zitate oder eigene Gedanken.
Das Portrait verbindet sich dadurch mit einer Handlung. Wie ein Requisit, das erst eine Bedeutung in seiner Beziehung zu etwas anderem aufnimmt, verhalten sich die zwei Elemente der ausgestellten Jacobschen Arbeiten. Verfremdetes Portrait und handlungsbezogener Text, diese Kombination macht erst die Arbeit zum Werk.
Die einzelnen handgeschriebenen Texte unterscheiden sich eklatant voneinander. Während einige der Protagonisten ein persönliches Statement schrieben, verwendeten andere Zitate. So beschränkt sich der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer auf das Goethe-Zitat „Mehr Licht...“, Martin Walser schreibt über das „Leben als Stimmung“, Bundeshandballtrainer Heiner Brand zitiert André Maurois und der geadelte Rockmusiker Bob Geldorf bringt die Sache schließlich wieder ins rechte Licht, weil er schreibt: „...only the educated are free...“
Holger Jacobs wurde 1956 in Hamburg geboren, studierte von 1976 bis 1979 an der Universität in München Rechtswissenschaften. Parallel dazu arbeitete er 1976 bis 1980 bei der Münchner Bavaria Filmgesellschaft. Danach schloss er ein Fotografiestudium in der bayerischen Landeshauptstadt an. 1985 zog er in die Seinemetropole nach Paris und arbeitete als Assistent für so namhafte Fotografen wie Peter Lindbergh, dem Werbe- und Modefotografen Uwe Ommer sowie Dick Balarian. Seit 1989 arbeitet er selbstständig als Freier Fotojournalist und Korrespondent. 2004 zog er nach Berlin, wo er bis heute lebt und arbeitet.
Holger Jacobs: “Literacy as Freedom”
aplanat Galerie für Fotografie, Lippmannstr. 69 – 71, 22769 Hamburg
Laufzeit: 14. August – 12. September 2009
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