„Utopie auf Platte“ heißt eine Ausstellung im Schaudepot der Kunsthalle Rostock, die uns scheinbar mit Collagen, Fotos, Wandbildern, Zeichnungen und einer digitalen Diaschau an etwas aus DDR-Zeiten erinnern soll.
Sicherlich spielt das Element der lokalen Erinnerung eine bedeutsame Rolle, doch es wäre viel zu kurz gegriffen, sich darauf zu beschränken.
Schon der Titel ist eine Collage – eine Gedankliche – denn das „auf Platte“ hat gleich mehrere Bedeutungsebenen: Plattenbau einer Großsiedlung, auf Platte leben, also obdachlos sein, etwas auf (eine Schall-) Platte produzieren oder, wie es hier naheliegt, auf einer Fotoplatte festgehalten zu haben.
„Mein Vater war Fotograf. Er hat mir sein Archiv hinterlassen: zehn Umzugskartons mit Abzügen und Negativen. Monatelang habe ich es gesichert und sortiert. Dabei bin ich auf ein mir unbekanntes Konvolut gestoßen, das die Entstehung der Neubaugebiete im Rostocker Nordwesten in den 1970er und 80er Jahren dokumentiert und mich auf merkwürdige Weise berührt hat“, beginnt die Fotografin Wenke Seemann einen Text über die Genese ihres Projekts, das gleichzeitig auf Spurensuche geht, sich in Erinnerungen beheimatet, fragmentarisch kontextualisiert, thematisch neu gliedert und über einen lokalen, zeitlich begrenzten Horizont hinausblickt und es schafft, eine allgemein gültige Wirklichkeit zu kreieren. Im ersten Moment mag man meinen, die Ausstellung sei etwas rein Regionales, doch das stimmt in keiner Weise. Das künstlerisch bearbeitete Archiv wird so eingesetzt, dass seine Inhalte übertragbar sind.
Obwohl es persönliche Verwicklungen gibt, wird das Interesse nicht privat, keine Beschau des Innenlebens von Vater oder Tochter, sondern eine unverwechselbare Analyse mit notwendiger Distanz zu sich selbst und zum Vater. Keine überlagerte Sentimentalität.
Wenke Seemann – ihr Vater Detlef Seemann war Berufsfotograf, arbeitete für das Ostseestudio Rostock und beim VEB Schiffskommerz, später, nach der Wende beim NDR als Kameramann – ist nämlich in diesen Plattenbausiedlungen aufgewachsen: Lichtenhagen und Groß Klein. Daneben gab es Evershagen und Lütten-Klein.
Diese Neubauviertel stehen im Fokus der Ausstellung und Künstlerin sowie Kuratorin Franziska Schmidt gliedern das Beziehungswerk in acht Einheiten, die an manchen Stellen miteinander verschmelzen: „Lichttisch“, „Plattenbaugeschichten“, „Becoming“ (der Entstehungsprozess der Großbausiedlungen), „Wohnstrukturen“, „Musterwohnung“, „Fassaden“, „Deconstructing Plattenbau“ (eine konstruktivistische und gleichzeitig postmoderne dekonstruktivistische Annäherung), sowie „Revisiting Rituals And Gestures“ (politische Rituale und Inszenierungen der DDR).
Die Collage ist dabei eine zentrale Technik, wird aus Fotografie, Zeichnung, Grundrissplänen, Mustertapeten kombiniert, mal schwarz-weiß mal farbig. Vieles bleibt gewollt fragmentarisch, wie durch einen Katalysator gezogen – am Ende bleibt die Essenz energiegeladen bestehen.
Die einstige Utopie eines charaktervollen, unverwechselbaren, lebenswerten Wohnens mit funktionalen Annehmlichkeiten und einem winzigen Raum der vorgefertigten Ästhetik von der Stange, steht eine dystopische Welt gegenüber. Das Scheitern der Ansprüche ist auch ein Scheitern der Sehnsüchte. Man merkt die (gute) Absicht, ist aber dennoch verstimmt. Dem ehemaligen Fortschrittsglauben, verbunden mit Versprechungen auf ein besseres angenehmes Leben und den damit einhergehenden Hoffnungen, führte in seiner jahrzehntelangen Verwandlung, u.a. durch Fortzug in den heutigen sozialen Abstieg. Es bleibt Ernüchterung.
Und dennoch, durch die scheinbare Unfertigkeit und das Fragmentarische sowie durch die Ausstellungschoreographie bekommt die Präsentation etwas durchaus Sinnliches, das ist ein Verdienst der Künstlerin. Auch in der narrativen Videoschau, die sich an die Kapitel hält und die sich die Besucher:innen auf einem Flatscreen anschauen können, wird das Prinzip einer gemeinsamen „Erkundungsreise“ (Seemann) durchgehalten. Die Erzählung erzählt sich selbst und uns zugleich. Alle Bruchstücke verbinden sich am Ende zu einem Ganzen – zu einer Fragestellung nach einer „Utopie auf Platte“.
„Utopie auf Platte“
Wenke Seemann: Utopie auf Platte
Zu sehen bis 28. August 2022 im Schaudepot der Kunsthalle Rostock, 1. OG, Hamburger Straße 40, in 18069 Rostock
Die Ausstellung kuratierte Franziska Schmidt, Berlin.
Öffnungszeiten: Di. bis So. 11-18 Uhr, Mo. geschlossen
- Weitere Informationen (Homepage Kunsthalle Rostock)
- Weitere Informationen (Homepage Wenke Seemann)
Es ist zur Ausstellung eine Begleitbroschüre in Form einer Zeitung erschienen, ermöglicht durch die Leinemann-Stiftung für Bildung und Kunst.
Programm
- Lesung: Freitag, 5. August 2022, 19.30 Uhr
Die Autorin Grit Lemke liest aus „Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror“, Suhrkamp Verlag, zu Fotografien aus Hoyerswerda von Gerd Fügert.
- Künstlerinnenführung / Gespräch in der Ausstellung: Samstag, 6. August 2022, 14 Uhr.
Wenke Seemann führt durch Ihre aktuelle Ausstellung "Utopie auf Platte" im Schaudepot der Kunsthalle Rostock. Die Führung ist im Eintritt inklusive.
- Gespräch: Mittwoch, 24. August 2022, 19 Uhr
Soziologe und Autor Steffen Mau im Gespräch mit Wenke Seemann und Dr. Uwe Neumann
- Finissage: Sonntag, 28. August 2022, ab 14 Uhr
14.00 Uhr – Kuratorinführung mit Künstlerinnengespräch
15.30 Uhr – Im Gespräch, Städteplaner und Architekt Michael Bräuer
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