Ohne diese Menschen wäre das deutsche Wirtschaftswunder kaum möglich gewesen. Der Istanbuler Fotojournalist Ergun Çağatay (1937-2018) dokumentierte 1990 in einer großangelegten Bildreportage das Leben sogenannter Gastarbeiter*innen in Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg.
Mit „Wir sind von hier“ erinnert nach dem Ruhrt Museum in Essen (2021) nun auch das Museum für Hamburgische Geschichte nicht nur an das Anwerbeabkommen vor gut 60 Jahren zwischen Bonn und Ankara – das Haus am Holstenwall versteht die Ausstellung auch als ein Bekenntnis zur multikulturellen Gesellschaft.
Ein Gabelstapler-Fahrer vor den Hamburger Großmarkthallen, Flohmarkt an der Großen Elbstraße, ein Obst- und Gemüsegeschäft in St. Georg. Frauen in der Polsterfertigung bei Ford in Köln, Gläubige in einer Kölner Moschee, Bergleute unter Tage in Duisburg und Bergarbeiterfamilien zu Hause. Es sind keine spektakulären Bilder, die Ergun Çağatay auf seiner Reise quer durch Deutschland aufnahm - sie zeigen vielmehr den ganz normalen Alltag, die Arbeitswelt und das Privatleben der ersten und zweiten Generation all jener türkischen Mitbürger, die nach dem zwischen Bonn und Ankara geschlossenen Anwerbeabkommens 1961 nach Deutschland geholt wurden, „um die Drecksarbeit zu machen“, wie die deutsche Journalistin und Autorin Ferda Ataman in ihrem sehr lesenswerten Katalog-Aufsatz schreibt.
Rund 900 000 Menschen kamen damals nach Deutschland. Gastarbeiter*innen, die kein Wort Deutsch sprachen, in Wohnungen wohnten, die die Deutschen nicht mehr haben wollten und Arbeiten verrichteten, die die Deutschen nicht mehr machen wollten. Allein nach Hamburg kamen bis zum Anwerbestopp 1973 rund 70 000 Türk*innen, viele im festen Vorsatz, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen, um dann „in der Heimat“ ein besseres Leben zu führen. Wie man weiß, kam es anders: Heute leben mehr als drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Viele von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und fühlen sich hier längst zuhause.
Ferda Ataman, 1979 in Stuttgart geboren, ist so ein „Gastarbeiter-Kind“. Ihre Eltern haben am Fließband geschuftet, damit sie zur Schule gehen und später Politikwissenschaften studieren konnte. Ataman ist zornig über den einseitigen Blick auf das „Nicht-Gelingen der Integration der Gastarbeiter“, wie Angela Merkel 2017 bedauernd feststellte. Einen Blick, den nicht nur die Journalistin als verfälschend empfindet. Zur ganzen Wahrheit gehören nämlich nicht nur „radikalisierte migrantische Jugendliche“, zur Wahrheit gehören auch „weiße Deutsche…, die die Integration ins Einwanderungsland Deutschland verweigern und am liebsten allein unter Weißen wären“, wie sie schreibt.
Die Ausstellung „Wir sind von hier“ ist deshalb auch vielmehr als ein Panorama türkisch-deutscher Lebenswelt im wiedervereinten Deutschland oder eine Zwischenbilanz auf dem Weg zur multikulturellen Gesellschaft. Sie darf als Auftakt eines neuen öffentlichen Diskurses zum Thema türkische Migration und Integration gelten, die vielleicht auch Lücken in unserer Stadtgeschichte schließen wird. Das zeigen nicht nur die vielen Rahmen-Veranstaltungen und das Symposium „zur Migrationsgeschichte im Museum“ (7.4.22, 14-19 Uhr). Das zeigen auch die konzentrierten Videointerviews von acht Persönlichkeiten, die extra zu dieser Ausstellung geführt wurden. Soziologin Necla Kelek ist ebenso dabei, wie Sterne- und TV-Koch Ali Güngörmüs, die ehemalige Fußballerin Tugba Tekkal, die Sängerin und Musikerin Derya Yilidrim, der Schriftsteller Yuksel Pazarkaya, sowie Günter Wallraff, der Mann, der sich als Türke verkleidete (Sein Buch „Ganz unten“ wurde 1985 ein Bestseller). Alle acht Persönlichkeiten haben in Deutschland in irgendeiner Form Ausgrenzung und Rassismus erfahren, doch ihr Optimismus ist ermutigend. Der Mensch der Zukunft wird in sich die besten Eigenschaften aus verschiedenen Kulturen vereinen, sagt beispielsweise Wallraff. Man kann es nur hoffen, denn diese Zukunft ist bedrohter denn je.
„Wir sind von hier“, Türkisch-deutsches Leben 1990
Biz Buralıyız. Türk-Alman Yaşamı 1990.
Fotografien von Ergun Çağatay
Zu sehen bis 6. Juni 2022, im Museum für Hamburgische Geschichte, Holstenwall 24, 20355 Hamburg.
Katalog zur Ausstellung
Das von Dr. Peter Stepan herausgegebene Katalogbuch „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay“ präsentiert nahezu 190 der eindrucksvollsten Bilder von Ergun Çağatay. Es ist zweisprachig Deutsch und Türkisch. Ein einführender Essay zeichnet die damalige Reise des Fotografen ausführlich nach. In verschiedenen Themenbeiträgen kommen insbesondere auch türkeistämmige Autor*innen der jüngeren und älteren Generation zu Wort. Sie teilen mit den Leser*innen ihre persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Familiengeschichten. So öffnen Çağatays Fotografien den Raum für unterschiedlichste Betrachtungen und Interpretationen. Eine umfangreiche Chronologie ruft Schlüsseldaten aus Politik, Gesellschaft und Kultur zur Einwanderung aus der Türkei und Präsenz Türkeistämmiger in Erinnerung.
Der 304 Seiten starke Katalog mit 190 Abbildungen kostet 29,95 € und erschien in der Edition Braus Verlag. ISBN-Nummer 978-3-86228-224-1.
YouTube-Video:
Ausstellung: Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay (11:57 Min.)
Eigens für dieses Projekt entstanden im Frühjahr 2021 dokumentarische Video-Interviews. Darin kommen in Deutschland lebende Persönlichkeiten verschiedener Generationen zu Wort, die in besonderer Weise den öffentlichen Diskurs zum Thema türkische Migration geprägt haben. Dies ist der Trailer zu den Video-Interviews, die auch in der Ausstellung zu sehen waren.
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