Ein ambitioniertes Projekt des promovierten Fotohistorikers Jan Zimmermann widmet sich dem Lebenswerk von Hans Kripgans, der über Jahrzehnte hinweg den Wiederaufbau und die Veränderungen der Hansestadt Lübeck dokumentierte.
Jan Zimmermann hat in den letzten Jahren eine Reihe von Fotobüchern herausgegeben, auch zur Geschichte Hamburgs („Hamburg in frühen Fotografien“, 2019). Jetzt hat er sich wieder Lübeck zugewandt. Es ist das Wirken des langjährigen Fotoreporters Hans Kripgans (1910-1996), das er chronologisch geordnet in diesem Band und in zwei späteren Nachfolgebänden vorstellen will. In Machart und Umfang entspricht dieses Buch exakt seiner Edition des Lebenswerkes von Karl Braune (1896-1971), einer Lübecker Fotografenlegende, und auch deshalb geht es gar nicht anders: man muss beide Fotografen miteinander vergleichen.
Kripgans war ein Reporter, Braune, hauptberuflich Justizbeamter, besaß künstlerischen Ehrgeiz, und es ging ihm keinesfalls um die Tagesaktualität, auch nicht um Ereignisse oder Geschichten, sondern um Bilder. Anders als Kripgans war er ein Amateur, der sein Stativ mit sich schleppte und sich Zeit für seine Bilder nahm. So sind auf vielen seiner Fotos keine Menschen zu sehen – auf den nächtlichen wegen der langen Belichtungszeiten ohnehin –, und wenn doch, dann sind sie meist nur Staffage. Alle Bilder wirken deshalb außerordentlich ruhig, fast wie Gemälde, auch dank ihres kontrastarmen und warmen Schwarzweiß („chamois“).
Kripgans dagegen war rastlos im Auftrag der Zeitung unterwegs, ein Mann, der die Menschen suchte, das Gedrängel, die Hektik, manchmal natürlich auch die Prominenten wie den Bundespräsidenten Heuss auf Besuch in Lübeck, die junge Hildegard Knef oder Katia und Thomas Mann. Er porträtierte Hafenarbeiter, auf der Straße spielende Kinder oder Sportler – Sportfotografie war offensichtlich seine Passion, und ältere Lübecker können sich erinnern, wie er hinter dem Tor von VfB oder Phönix hockte. In diesem Band findet sich auch eine Reportage aus Hannover, wo 1954 ein gewisser Uwe Seeler mit noch jugendlich vollem Haar sein erstes Länderspiel bestritt.
Dynamik war eigentlich Kripgans‘ starke Seite, zum Beispiel, wenn er Tänzer abbildete, die sich, von der Zeitung fassungs- und verständnislos kommentiert, wilden Bewegungen hingaben. Zu fast allen Bildern gehört ein knapper Kommentar des Herausgebers sowie ein Satz aus der jeweiligen Nummer der Zeitung: „Gestalten sind dabei, dass einem die Tränen kommen… Und alles ist Jitterbug-dressed: Die Mädchen in halblangen Hosen und Nicki. Und die hohlbrüstigen Knaben werden von grausam schillernden Waikiki-Hemden umschlottert.“ Es ist merkwürdig (und sollte nicht vorkommen…), dass die beigefügten Zitate aus den Lübecker Nachrichten, die sonst sehr schön den Geist der Zeit beschwören, sich der reformierten Rechtschreibung befleißigen. Und: Man sieht, anders, als es uns der Kommentar weismachen will, gar keine Knaben, sondern junge Männer, die aber keineswegs hohlbrüstig wirken. Die Zeitung (das vorgeblich neutrale „Medium“) sagt uns also nicht, was wir tatsächlich sehen, sondern was wir sehen sollen.
Bei anderen Gelegenheiten fotografierte Kripgans „Wettrollern und Schweinebaumeln“, also kindliche, wahrscheinlich längst vergessene Spiele, aber auch ein Radrennen auf dem „Buni“ (dem Sportplatz Buniamshof), oder er zeigte Schüler des Städtischen Johanneums zu Lübeck, die zu Beginn der Sommerferien aus der Schule stürmen – wie sehr viele andere Fotos ganz offensichtlich ein gestelltes Bild. Daneben ist, wie in dieser Zeit – wir befinden uns in den fünfziger Jahren – nicht anders zu erwarten, der Wiederaufbau ein wichtiges Thema: Neubausiedlungen, Baustellen mit altertümlichen Holzgerüsten, die noch nicht wieder errichteten Lübecker Kirchen (die Marienkirche mit ihren Turmstümpfen), furchtbare Ruinen…
Am interessantesten sind die Straßenszenen, weil sie den gewaltigen Abstand zwischen damals und heute anschaulich machen. Man denke nur an „Schutzmänner“ in weißen Gummimänteln, die auf Kreuzungen den Verkehr regeln. Sonst sind es die viel zu breiten, von öder Nachkriegsarchitektur gesäumten Vorstadtstraßen, die schon mit dem weitsichtigen Blick auf die steigende Autoflut gebaut wurden, aber vorerst nur tote leere Flächen zwischen den Fußwegen bieten. An dieser Stelle gefällt mir Zimmermanns Kommentar nicht, der uns euphemistisch ein eindrucksvolles Bild des von Ruinen gesäumten Kohlmarktes erklärt: „Nach den Zerstörungen des Krieges wird die Chance genutzt, dem Verkehr in der Mitte der Altstadt mehr Fläche zu geben.“ Heute ist man sich eigentlich darüber einig, dass eben diese Verbreiterung der Straßen, diese neutrale Chance, „dem Verkehr mehr Fläche zu geben“, das Bild der Lübecker Innenstadt nachhaltig und endgültig zerstört hat – sie setzte das Werk der Bomben fort.
Auch Braunes Bilder besitzen dokumentarische Qualitäten, aber diese sind viel weniger ausgeprägt, und natürlich fehlt ihnen jede Dynamik; es ist sogar eine große Ruhe und oft auch eine nächtliche Stille, die sie auszeichnet. Dafür besitzen seine Bilder im Vergleich zu Kripgans‘ Fotos eine viel größere räumliche Weite und Tiefe. Sie findet sich auf vielen Fotos des schönen Bandes – so gleich auf dem Einband, der den Blick vom Kohlmarkt zum Klingenberg zeigt, ein anderes Mal, als der Fotograf den Kanal auf der Höhe der heutigen Rehderbrücke ablichtete. Wenn das Wetter nicht klar ist, sondern ein wenig diesig, so dass der Blick zwar dem davonlaufenden Ufer folgen kann, sich aber nach einer Weile in der Ferne verliert, dann stellt sich diese Tiefe ein, die den Betrachter von sich selbst fortführt und die Karl Braune so liebte.
Noch etwas anderes zeichnet Braunes Bilder aus – während Kripgans die Gelegenheiten energisch beim Schopf ergriff, folgen Braunes Fotos einer eher bedächtigen Logik des Bildaufbaus, zu der oft ein interner Rahmen gehört, der das Hauptmotiv noch einmal einfasst und heraushebt. Manchmal sind es Bäume, manchmal Straßenlaternen, die Bögen der Rathausarkaden oder der heute leider fast ganz verschwundenen Stadtmauer. Oder es sind andere Gegenstände, die das Bild gliedern. Auf jeden Fall sind alle seine Bilder strukturiert und durchdacht, und sie leben vom Gegensatz von Vorder- und Hintergrund. Dazu liebte Braune schwierige Lichtverhältnisse, also Gegenlicht oder nasses Kopfsteinpflaster, das im Schein einer Laterne glänzt.
Wenn ich Kripgans vor mir sehe, dann reißt er – allzeit bereit! – seine Kamera hoch; Braune dagegen geht hin und her und versucht mal diese, mal jene Perspektive.
Wie Kripgans nach dem Krieg für die Zeitung, so hat auch Braune das von Bomben verwüstete Lübeck fotografiert. Aber seine Bilder fertigte er in offiziellem Auftrag nach der Bombennacht von 1942 an – es waren Bilder, die eigentlich der Propaganda dienen sollten und dieser vielleicht auch wirklich dienten. Heute sehen wir derartige Trümmer, wenn die Tagesschau aus dem Nahen Osten berichtet, aber bei Braunes Bildern denken wir vielleicht trotzdem weniger an die Bomber, als dass wir die Ästhetik der hohläugigen Ruinen mit ihren scharfen Schatten im Sonnenlicht bewundern. Und gleich darauf erschrecken wir beim Anblick einer alptraumhaften Stadtlandschaft, in der das Leben für Jahre sehr, sehr schwer gewesen ist.
Umgekehrt sind auch Kripgans manchmal Bilder gelungen, die von Braune sein könnten – außerordentlich schön und stimmungsvoll ist ein doppelseitiger Blick von einem Gasometer auf die verschneite, von den verstümmelten Kirchen überragte Altstadtinsel. Gelungen ist auch ein Treppenaufgang in der Nähe des Burgtores, wenngleich das sehr ähnliche Foto Braunes von der nächtlichen Teufelstreppe am Dom viel eindrucksvoller geraten ist.
Braunes Bild der Teufelstreppe ist schon wegen seiner Stille besonders schön. Auf den Stufen rechts und links und auf dem Handlauf liegt noch Schnee, ebenso wie auf den Mauerbögen, und weiter oben sieht man den Schein einer von einem Mauerbogen verdeckten Laterne auf den dunklen Ziegeln der Kirche. Es ist ein ganz schlichtes und sehr ruhiges Bild, das von dem Kontrast zwischen Schnee und dunklem Stein bestimmt ist, aber den Betrachter in seine Tiefe hineinzieht, denn er sieht sich selbst die Treppe hinaufsteigen und durch den knirschenden Schnee davongehen.
Auffallend im Kripgans-Band ist die Dominanz des Autos. Es handelt sich ja um eine Dokumentation, und so bilden die Fotos getreu dieses Bandes den Fanatismus ab, mit dem in der jungen Bundesrepublik dem Auto gehuldigt und die Zerstörung der Städte vorbereitet wurde. Es werden neue Modelle vorgeführt und die fehlenden Parkplätze beklagt, es wird vom Seifenkistenrennen berichtet und der Bau des riesigen Parkhauses an der Seite von St. Petri dokumentiert, und schließlich kann man am Ende des Bandes, der ja nur die fünfziger Jahre vorführt, die letzte Straßenbahn betrauern. Noch heute sind ihre Gleise an vielen Stellen zu sehen, obwohl es sie schon seit gut sechzig Jahren nicht mehr gibt. Und dabei ist sie heute das Verkehrsmittel der Stunde – aber leider nur woanders. Es war ein schrecklicher und nicht wiedergutzumachender Fehler, sich gegen sie und für die absolute Dominanz des Autos zu entscheiden.
Laut dem Vorwort des Herausgebers hat Kripgans 500.000 Fotos hinterlassen, aus denen er eine Auswahl treffen musste, um sie anschließend für diesen Band – den ersten von drei geplanten – zu bearbeiten. An der Qualität der einzelnen Bilder gibt es absolut nichts zu meckern, auch wenn einige der vergrößerten Fotos unscharfe Teile enthalten – der Grund ist zweifellos das Ausgangsmaterial. Das Ergebnis dieser großen und langjährigen Mühe ist ein schönes Buch, das vielleicht keinen wirklich großen Fotografen vorstellt, wohl aber einen wachen und aufmerksamen Bildreporter, dessen Arbeiten uns die gewaltigen Veränderungen der Stadt Lübeck in der Nachkriegszeit vor Augen führen.
Jan Zimmermann (Hrsg.): Hans Kripgans: Das Auge der Lübecker Nachrichten. Fotografien 1950-1959.
Junius Verlag Hamburg
240 Seiten
ISBN: 978-3960605300
Jan Zimmermann (Hrsg.): Karl Braune. Lübeck und Travemünde. Fotografien 1930-1965
Junius Verlag Hamburg
240 Seiten
ISBN: 978-3-88506-773-3
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