Unter diesem sehr sachlich pragmatischen Titel zeigen die „Berliner Festspiele“ im Rahmen des „European Month of Photography 2016“ im Martin-Gropius-Bau eine von Anne Morin kuratierte Ausstellung der US-amerikanischen Fotografin Berenice Abbott (1898-1991).
Die rund 80 Schwarz-Weiß-Werke, eine vergleichbar verschwindend kleine Menge aus dem Nachlass Abbotts, sind ebenso pragmatisch in den Räumen im obersten Stock präsentiert, nämlich nach Themen und Lebensstationen geordnet und aufgereiht. Einige wenige zusätzliche Dokumente, Briefe, ein Film, Bücher und Schriften vertiefen leider nur punktuell.
Abbott ist für das, was sie der Allgemeinheit hinterlassen hat, erstaunlich unbekannt, dabei gehört sie zu den wichtigsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre berufliche Entwicklung und ihre Interessen gehen dabei im Grunde genommen Wege, die für Kulturschaffende damals wie heute nicht so außergewöhnlich waren, aber dennoch besonders sind.
Geboren in Springfield, Ohio studiert sie zunächst an der Ohio State University in Columbus, mit dem Ziel einmal journalistisch zu arbeiten, zieht dann aber 1918 nach New York City, um Bildhauerei zu studieren. Sie wohnt mit der Schriftstellerin Djuna Barnes zusammen, lernt die Künstler Marcel Duchamp und Man Ray kennen, die sie davon überzeugen können in das damalige Weltzentrum der Kunst zu ziehen – nach Paris. 1921 siedelt sie in die französische Hauptstadt und studiert weiter Bildhauerei. Letztlich ist es der fehlende kulturelle Geist der Stadt New York, der Abbott darin bestärkt, zu gehen. Die amerikanische Metropole basiert direkt nach dem Ersten Weltkrieg auf dem unerschütterlichen Glauben an den Kapital- und Monetarismus, da hat Kultur wenig bis keinen Platz, was sich auch in den Möglichkeiten Unterstützung zu erhalten widerspiegelt. Paris hingegen gilt als der Ort für Künstler. Das andere Land, die andere Sprache und eine andere Kultur sind zwar einerseits für sie spannend und inspirierend, doch sie kommt in wirtschaftliche Bedrängnis. Für ein knappes Jahr zieht sie 1923 nach Berlin in die Charlottenstraße, aber auch hier ist das Leben teuer. Sie mag Berlin und schreibt in einem Brief sinngemäß, dass die Frauen zwar schlechter gekleidet wären als in Paris, aber sie seien dafür unabhängiger und freier im Geiste. Das entspricht auch ihrem Ideal.
Erneut ist es Man Ray, der ihr hilft und ihr einen Job als Assistentin in seinem Pariser Portraitstudio anbietet. Sie lernt schnell und gut, arbeitet gewissenhaft in der Dunkelkammer und die Idee, selbst fotografisch tätig zu werden, liegt alsbald auf der Hand. Ray fördert ihr Talent bis zu einem gewissen Maß. Außerdem lernt Berenice Abbott über Man Ray die Fotografien von Eugène Atget kennen und schätzen – später wird sie zunächst einige Bilder und dann, nach dessen Tod 1927, seinen Nachlass kaufen. Atget wird zu einem Vorbild der jungen Fotografin. 1925 eröffnet sie mit finanzieller Hilfe von Peggy Guggenheim ihr eigenes Atelier in Paris und ist damit erfolgreich. Sie gehört zu jenen Fotografen der 1920er-Jahre, die von der Fotografie ein deutliches Zeichen verlangen, nämlich sich von der Malerei und der Kunst im Generellen abzusetzen, in dem sie sich dokumentarisch behauptet. Nur so sei ihr ein eigenständiger und autonomer Platz unter den Künsten zukünftig möglich. Diese Haltung zieht sich durch ihr gesamtes Lebenswerk. Die Frage der bildkünstlerischen Reflexion stellt sich bei ihr selbst nicht, höchstens viel später als Reflex auf die Werke von Bernd und Hilla Becher und deren Schüler.
Abbott – und das ist auch äußerlich sichtbar, in ihrer Kleidung, ihrem Haarschnitt, Stil und Auftreten – ist in ihrer Haltung nun unabhängig. Sie erhält 1926 ihre erste Einzelausstellung in der Galerie „Le Sacre du Printemps“ und präsentiert Portraits von Künstlern, Musikern und Literaten. Distanziert und doch einfühlsam zugleich wie das Portrait des fast erblindeten James Joyce, des in sich zusammengesunkenen uralten Fotografen Eugène Atget, den Schriftsteller André Gide mit Pierrot-Maske neben sich im Bett sowie dem einsam in einem archaischen Raum thronenden Maler Edward Hopper stehen dafür.
1929 reist sie nach New York, um einen Verleger für ein Buch über das Werk von Atget zu finden. Die Stadt hat sich komplett verändert, die Weltwirtschaftskrise (1929-32) im Schlepptau spürt sie dennoch Dynamik und Veränderung in der Stadt. Gegen den Rat vieler ihrer Freunde zieht sie zurück nach New York und beginnt Anfang der 1930er-Jahre, gemäß ihres Vorbilds, Atget, der 30 Jahre zuvor das alte Paris dokumentierte, die Veränderungen New Yorks abzulichten. Es beginnt das Projekt, an dem sie jahrelang und staatlich gefördert arbeitet: „Changing New York“. Die Transformation zwischen Abbruch und Neubau steht nun im Fokus und im Zentrum ihrer Teilhabe. Dabei folgt sie auch hier einer – ihrer – Philosophie: „Die Vergangenheit genießen“, sagt sie in einem filmischen Interview „heißt die Zukunft definieren zu können“.
„If you photograph a city, you photograph people“, sagt sie weiter und zeigt damit eine grundsätzliche Haltung, denn ihr kommt es nicht darauf an, sich selbst als fotografische Autorin sichtbar zu machen und gar ins Zentrum zu rücken, sondern alle und alles andere. Ihr Credo heißt Direktheit („directness“), ungeschönt, unkommentiert. Die Leistung liegt natürlich in der Auswahl des Motivs, aber auch hier hat sie eigenen Vorstellungen: „The way it looked – I loved. No composition needed“.
Das gilt auch später für die Ausweitung des New Yorker Projekts auf den gesamten westlichen Teil der USA. Sie reist mehrfach entlang der U.S. Route 1, von Nord nach Süd, von Maine bis Florida: „America shall understand itself through photography!“, sagt sie.
Anfang der 1940er-Jahre ändert sich ihr Interesse erneut. Nun stehen physikalische Phänomene im Vordergrund, sie arbeitet für das „Physical Science Study Committee“ am „Massachusetts Institute of Technology (MIT)“ und als Bildredakteurin für das Fachmagazin „Science illustrated“. Sie ist nach wie vor davon überzeugt, dass sich die Visionen, Geschehnisse und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts wahrhaftig und objektiv nur durch die Fotografie erfassen lassen.
Sie fotografiert nun Parabolspiegel, Elektrizität, Magnetismus, Bewegungs- und Strömungs-physikalische Versuche. Wie im New York der früher 30ger liebt sie nach dem Stadtraum nun die Dynamik der Physik und der Wissenschaften. Sie entwickelt für sich fotographische Hardware und Hilfsmittel: Stative, Kamerabefestigungen und sogar einen eigenen Arbeitsmantel mit 24 Taschen, um im Gelände alles dabei zu haben.
1962 zieht sie ins ländliche Maine, wo sie 1991 stirbt. Zeitlebens bleibt sie unverheiratet und widmet sich vollständig und ausschließlich ihrem Beruf. Die amerikanische Kunstwelt entdeckt sie in den 1980er-Jahren und lädt sie zu Ausstellungen und Interviews ein.
Ihr Vermächtnis ist neben einer Menge an dokumentarischen Bildern, Portraits ihrer Zeit, die Stärke weiblicher Unabhängigkeit und einer klaren fotografischen Sprache auch das Theorem der Moderne, das stetige Veränderung, Entwicklung und Erkenntnis fordert.
Berenice Abbott: Fotografien
Berliner FestspieleZu sehen bis 3. Oktober 2016 im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
Weitere Informationen
YouTube-Video:
Berenice Abbott: A View of the 20th Century (A
Berenice Abbott by Frederick Oberg
Es ist ein Katalog erschienen:
Berenice Abbott – Topographien
Steidl Verlag, Deutsch, Fester Einband, 23 x 30 cm, 104 Seiten, 70 Abbildungen
Buchhandelsausgabe: € 15, Museumsausgabe: € 12
ISBN 978-3-95829-245-1
Abbildungsnachweis:
Header: Berenice Abbott, Gunsmith and Police Department 6 Centre Market Place and 240 Centre Street, Manhattan, 1937. © Berenice Abbott/ Commerce Graphics, courtesy Howard Greenberg Gallery, NY.
Galerie:
01. Man Ray, Portrait of Berenice Abbott, 1925 © Man Ray Trust / VG Bild-Kunst, Bonn 2016
02. Berenice Abbott: Flatiron Building (gebaut 1902), 1938. © Berenice Abbott/Commerce Graphics, courtesy Howard Greenberg Gallery, New York
03. Berenice Abbott: Blossom Restaurant; 103 Bowery. Oct. 3, 1935; from her "Changing New York" Works Progress Administration/Federal Art Project
04. Berenice Abbott, James Joyce, 1928. © Berenice Abbott/ Commerce Graphics, courtesy Howard Greenberg Gallery, NY.
05. Berenice Abbott, City Arabesque, 1938. © Berenice Abbott/ Commerce Graphics, courtesy Howard Greenberg Gallery, NY.
06. Berenice Abbott, Floating Oyster Houses, South Street and Pike Slip, 1931-32. © Berenice Abbott/ Commerce Graphics, courtesy Howard Greenberg Gallery, NY.
07. Berenice Abbott, Interference Pattern, 1958-61. © Berenice Abbott/ Commerce Graphics, courtesy Howard Greenberg Gallery, NY.
08. This photograph of Berenice Abbott was taken by Hank O'Neal at his Downtown Sound Studio in New York City, 18 November 1979. Quelle: Wikipedia CC BY-SA 3.0.
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