Film
Die unerschütterliche Liebe der Suzanne

Ein ergreifendes Drama: kompromisslos, fesselnd, von seltsam fragiler Schönheit genau wie seine Protagonistin.
25 Jahre Familienleben inszeniert Katell Quillévéré als ungewöhnlichen Mix aus realistischer Chronik und romantischer Fiktion. Ein verstörender Film extremer Gegensätze, lakonisch, doch wenig später schon erbarmungslos emotional, abgründig ohne jeden Pathos, vor allem virtuos erzählt. Ein Puzzle voller Lücken: Unerwartet in fremde Schicksale verstrickt, sieht sich der Zuschauer immer wieder gezwungen, die Handlung weiterzuspinnen, Jahre zu überbrücken, Zusammenhänge zwischen den einzelnen Episoden selber herzustellen.
Phantasie ist hier nicht mehr allein Privileg des Autors sondern willkommene Pflicht des Betrachters. Die französische Regisseurin beherrscht die Kunst der elliptischen Auslassungen. Der Kinobesucher avanciert unbewusst zum aktiven Teilnehmer, der seine eigenen Erfahrungen mit einbringt oder neu überdenkt. Irgendwo erinnert das an Richard Linklaters „Boyhood”, ist aber genau das Gegenteil, trotzdem nicht weniger faszinierend

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Seit dem frühen Tod der Mutter sind die Schwestern Suzanne (Apollonia Luisetti) und Maria (Fanie Zanini) unzertrennlich, halten zusammen wie Pech und Schwefel. Nicolas, ihr Vater (Francois Damiens) ist Fernfahrer, schmeißt den Haushalt, so gut er kann. Liebevoll linkisch beaufsichtigt er die Hausaufgaben der Älteren, während er die Jüngere daran erinnert, kein Inline Skating in der Küche. Dies wird nie eine ambitionierte mittelständische Patchwork Familie wie bei Linklater. Proletarischer Alltag, geprägt durch Verantwortung und Loyalität. Ihre Welt ist überschaubar, ärmlich, scheinbar sich selbst genug: die Besuche am Grab der Mutter, mit Papa im Laster fahren. Die Mädchen sind albern, glücklich, ausgelassen, sie kichern ständig, können wundervoll nervig sein jetzt und auch später als Teenager. Doch in der Eingangsszene bei einer Schulaufführung sehen wir Suzanne auf der Bühne, ein Pummelchen in roten Pailletten mit Federboa, strahlend, stolz, der Vater lächelt ihr anerkennend zu, die Schwester applaudiert begeistert, plötzlich verändert sich Suzannes Gesichtsausdruck, wird ernst, traurig, der Blick geht ins Leere. Die Mutter, sie fehlt. Genau deshalb ist in dieser Familie der Zusammenhalt so stark, weil hier immer einer fehlt, den es zu ersetzen gilt. Mit 17 wird Suzanne (Sara Forestier) schwanger. Von wem, wir werden es nie erfahren. Nicolas ist für einen Moment erstarrt, dann gibt es eine Ohrfeige. Er kann seine Tochter nicht begreifen, aber er wird für den Enkel sorgen wie einst für sie. Wir sehen die Protagonistin hochschwanger allein auf einem Klettergerüst in einem tristen Neubauviertel. Sie wirkt verloren. In der nächsten Szene ist ihr Sohn Charlie drei Jahre alt. Marie (Adèle Haenel) arbeitet als Näherin in der Fabrik, die Schwester jobbt in einer Spedition. Nun sind sie zu viert, geändert hat sich wenig, noch ist alles auf seine Art idyllisch. Doch dann begegnet Suzanne auf der Pferderennbahn Julien (Paul Hamy), einem kleinen Gangster, verliebt sich unsterblich in ihn. „Un poison fort, c’ èst ca l`amour,” singt Serge Gainsbourg, „Ein starkes Gift ist die Liebe, das einen verbrennt.” Suzanne verschwindet ohne Abschied, auf dem Tisch nur ein Umschlag mit ein paar Geldscheinen für den Sohn, den sie zurücklässt. Von nun ist sie auf der Flucht vor der Polizei, Jean setzt sich ab nach Nordafrika, Suzanne gibt auf, wird festgenommen, als Komplizin verurteilt. Nicolas weint im Gerichtssaal, seine Tochter kommt für viele Jahre ins Gefängnis, er wird sie dort nie besuchen. Charlie muss in eine Pflegefamilie.

Inspiriert zu dem Thema wurde Katell Quillévéré durch die Biographien der Frauen legendärer Verbrecher wie Jacques Mesrine oder Michel Vaujour. „Warum stolperten sie über diese Männer, verliebten sich so sehr in sie, dass sie ihr Schicksal komplett mit dem der Männer verknüpften und für sie Sprengstoff ins Gefängnis schmuggelten oder lernten einen Heliokopter zu fliegen, um ihnen beim Ausbruch zu helfen?” fragte sich die 34 jährige Regisseurin. Obsession, Selbstaufgabe, totale Unterwerfung, Suzanne kann im wahrsten Sinne des Wortes ohne Jean nicht leben. Sie versucht es, kämpft mit aller Kraft dagegen an, vergeblich. Eine Gangsterbraut wider Willen. Zaghaft, verzweifelt, versucht sie eine Beziehung zu ihrem Sohn aufzubauen. Es zerreißt einem fast das Herz zu sehen, wie sie sich quält. Im Gefängnis genau wie in der sogenannten Freiheit. Unerschütterlich ist nicht nur die Liebe der Protagonistin, unerschütterlich ist auch die Liebe des Vaters, und vor allem die ihrer Schwester. Sie, die Jüngere, die so gerne die Nächte durchtanzt, muss immer wieder die Rolle der Mutter, der Beschützerin übernehmen, ständig die Vernünftige sein, nie an sich denken, so wie es zuvor der Vater getan hat. Verzicht als Lebensentwurf, Liebe als unabwendbares Schicksal. Das Grab der Mutter bleibt für die Familie über die Jahrzehnte hinweg der gemeinsame Bezugspunkt, ein ritueller Ort, der am Ende für die unglückliche Heldin zum entscheidenden Wendepunkt wird. Die brutalen Lücken im Handlungsverlauf setzt die Regisseurin ganz bewusst ein, sie werden zur Metapher, signalisieren Umbruch, Verlust, Tod, Flucht. Suzannes Abwesenheit prägt das Leben von Nicolas, Maria und Charlie. Und vielleicht grade deshalb wird die Bindung untereinander nie wirklich zerstört. Genau wie jene Liebe zu Jean. Es gibt kein Entkommen. Dieses Mal folgt Suzanne ihm nach Nordafrika, falsche Pässe, eine neue Existenz. Der Preis ist hoch. Kein Kontakt zur Schwester, zum Vater, zum Sohn. Sie schickt nur irgendwann ein Foto ihrer kleinen Tochter, die in der Fremde zur Welt kam.

Autobahnraststätten, Tankstellen, Parkplätze, Hafenkais, im Auto oder auf dem Schiff, Suzanne scheint immer auf der Durchreise, ohne wirkliches Ziel, alles ist nur ein Zwischenstopp, provisorisch. Dagegen völlig statisch, streng komponiert, die enge Wohnung des Vaters, das Zimmer der Schwester, für die Protagonistin nur ein anderes Gefängnis, aus dem sie ausbricht, ohne wirklich zu wissen, wohin. Diese Takes sind fast wie Dokumentaraufnahmen, erinnern an die amerikanische Fotographie der Sechziger Jahre, William Eggleston oder Stephan Shore. Der soziale Bezug zum Arbeitermilieu immer präsent. „Suzanne takes you down to her place near the river [...] And you know, she’s half crazy. It’s why you want to be there...”, Nina Simones Version des Leonard Cohen Songs aus den Sechzigern wird erst im Abspann eingespielt, ist aber wie ein Leitmotiv, nichts könnte den Film, seine Protagonistin besser beschreiben. Jenes geheimnisvolle, unerklärliche Leuchten, das Suzanne umgibt, ihre unaufdringliche Schönheit, die seltsame faszinierende Attraktivität trotz dünner blonder Haare, zerschlissener weiter Jeans, ein wunderschöner trotziger Teenager. Noch mit 17 wirkt sie wie ein Kind, das sich verirrt hat. Katell Quillévéré, die seit „Love like Poison” als eine der vielversprechendsten Talente Frankreich gilt, gelingt es einer Szene, den Konflikt, die widersprüchlichen Gefühle ihrer verzweifelten Heldin zu komprimieren. Eine Totale: Suzanne und Jean haben sich grade verabschiedet, da dreht sie sich wieder um, läuft ihm nach, wirft sich in seine Arme, klammert sich an den Geliebten wie eine Ertrinkende. Wahnsinn und Passion lassen sich von diesem Augenblick an nicht mehr trennen. Sara Forestier verkörpert mit großer Subtilität alle Facetten dieser verhängnisvollen Liebe, die Suzanne zur tragischen Heldin werden lässt, sie bis zum Suizid treibt, aber sie auch manchmal unendlich glücklich macht. Es kommt der Tag, der alles verändert.

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Originaltitel: Suzanne
Regie/Drehbuch: Katell Quillévéré
Darsteller: Sara Forestier, Adèle Haenel, Francois Damiens, Paul Hamy
Produktionsland: Frankreich, Belgien 2013 Länge: 94 Min.
Filmverleih: Arsenal
Kinostart: 19. Juni 2014

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