Film

Der Norweger Halfdan Ullmann Tøndel ist der Enkel des legendären Regisseurs Ingmar Bergman und der Schauspielikone Liv Ullmann. Vielleicht wollte er grade deshalb eigentlich nie zum Film.

 

Sein beklemmendes satirisches Psychodrama „Armand“ expandiert zur surrealen Choreographie, einem frappierenden Labyrinth aus Lügen und Intrigen. In Cannes wurde der facettenreiche Debütfilm als Gewinner der Sektion Un Certain Regard ausgezeichnet, in Deutschland leider noch ein Geheimtipp.

 

Der sechsjährige Armand soll sich in der Schultoilette an seinem Mitschüler Jon sexuell vergangen haben. Wie damit umgehen? Das Klassenzimmer wird zum Gerichtssaal: Empörte Eltern, ein besorgt taktierender weißhaariger Schuldirektor, die junge Lehrerin eher unsicher, um so forscher eine psychologisch ambitionierte Schulsekretärin mit ständigem Nasenbluten, -sie alle bilden zusammen eine geschlossene Front. Elisabeth, Armands alleinerziehende Mutter, (überragend Renate Reinsve) ist Schauspielerin, schön, berühmt, ahnt nicht, was sie erwartet. Ein skeptisches Lächeln folgt dem Moment erster Verblüffung, gekonnt wehrt sie sich mit ironischer Präzision gegen die Anschuldigungen. Die Situation eskaliert: Ein Strudel von Ressentiments, Eifersucht, Vorurteilen, Hass, Begierde, Eitelkeiten und Rachegefühlen reißt die Beteiligten mit sich. 

 

Elisabeth beginnt zu lachen, es bricht aus ihr hervor, hysterisch, laut, bitter, sarkastisch, voller Verachtung über eine zutiefst verlogene Gesellschaft, die sie so unter Druck setzt. Das Lachen ist nahe der Verzweiflung und doch triumphierend, dauert fast fünf Minuten. Es ging nie wirklich um die Kinder (sie tauchen im Film nicht auf), es geht um die Eltern, und ob Kinder ihr Verhalten widerspiegeln oder eben nicht. Der norwegische Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel jongliert mit den Konventionen von Melodram und Thriller, wechselt ohne Vorwarnung ins surrealistisch Expressive, eine Choreographie am Rande des Abgrunds. Elisabeth tanzt sich heraus aus der Bösartigkeit, den Verleumdungen, der Ohnmacht gegenüber dem Selbstmord ihres Ehemanns.

 

Während haltlose Anschuldigungen wie Fakten verhandelt werden, erkundet Ullmann Tøndel die Magie der liminal spaces, jener Schwellenräume, die plötzlich still und verlassen eine seltsam traumartige Atmosphäre entwickeln. Die Schulkorridore kurz vor den Ferien mutieren zum beklemmenden Labyrinth, verschachtelt wie die Handlung, ein fast unlösbares Puzzle voll wundervoller schwarzer Komik. Ohne Anspruch auf Logik. In der Tradition seines berühmten Vorfahren thematisiert der Autorenfilmer die Spielarten der Lüge. Wahrheit und Aufrichtigkeit waren schon bei Ingmar Bergman moralische Vorstellungen, an denen die meisten scheitern.

 

 

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Renate Reinsve begeisterte 2021 Publikum und Kritiker als schräge Mittdreißigerin auf der erfolglosen Suche nach sich selbst in Lars von Triers verspielter Charakterstudie „Der schlimmste Mensch der Welt“. Sie wurde dafür in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet. Reinsve war von Anfang an der Entstehung von Ullman Tøndels Projekt beteiligt, lange bevor ihr Charakter überhaupt einen Namen hatte und der Regisseur wusste, in welchem Universum der Film spielen würde.  2016 dann der erste Drehbuchentwurf, es folgten viele Jahre, in denen eine Produktionsförderung vom Norwegischen Filminstituts abgelehnt wurde. Ullman Tøndel sah kaum noch eine Chance, wollte schon aufgeben, aber in der Nacht, als Renate Reinsve in Cannes als beste Schauspielerin gefeiert wurde, schickte sie ihm eine SMS mit den Worten „Denk daran, wie großartig das für unseren Film ist“. Die Tatsache, dass sie in den wichtigsten Stunden ihrer Karriere das gemeinsame Projekt wie selbstverständlich mit einbezog, beweist, wie viel ihr dieser Film bedeutet. In ihrer Rolle überschneiden sich die verschiedensten Handlungsstränge, Reinsve muss zugleich Objekt der Begierde und des Hasses sein, fragil, stark, zurückhaltend und aggressiv. Sie bewegt sich innerhalb und außerhalb der Gesellschaft, verkörpert im wahrsten Sinne des Wortes, was wir nicht sehen, den Schrecken einer Beziehung, die sie nicht beeinflussen konnte, und doch genau das wirft ihr indirekt die Schwägerin vor, den Bruder in den Tod getrieben zu haben. Schon die Tatsache ihrer Berühmtheit macht sie für die Anwesenden suspekt. Und so avancierte der sechsjährige Armand in der Schule zu einer Art Stellvertreter und Zielscheibe ungefilterter Emotionen und Vorwürfe.

 

Der Regisseur über den Film

Ullman Tøndel arbeitete mehrere Jahre an einer Grundschule: „Ich erlebte, wie sich Verhaltensweisen der Eltern in den Kindern spiegeln können, und wie jedes Verhalten ob von Kindern oder ihren Eltern, das auch nur ein bisschen außerhalb der Norm lag, fast schon verpönt war und sehr genau beobachtet wurde. Einer der Schulleiter, mit denen ich gesprochen habe, sagte während unserer Recherchen: „Doktorspiele lassen wir im Kindergarten“. Diese Zeile habe ich in den Film geschrieben. Aber was ist mit Erstklässlern, die grade erst den Kindergarten verlassen haben? Es muss für ein Kind verwirrend sein, wenn in einem Monat etwas natürlich ist, wofür im nächsten Monat die Polizei auf die Eltern angesetzt werden kann. Für mich war das die perfekte Ausgangssituation für die Auslotung jener Grenzen, die in unserer heutigen Gesellschaft sehr präsent sind. In fast allen Szenen des Films geht es um diffuse Grenzen und schwierige Grauzonen: Wahrheit oder Lüge? Opfer oder Täter? Schuldig oder unschuldig? Spiel oder Gewalt? Haben wir jemals so unklare Grenzen gehabt zwischen dem, was richtig und was falsch ist, wenn die widersprüchlichen Vorstellungen davon so nah beieinander lagen?

 

Heute haben wir einen stärkeren und wenig gefilterten Zugang zu Personen des öffentlichen Lebens. Ich glaube, dass diese Menschen das Epizentrum dieses polarisierten „moralischen“ Erdbebens sind, das wir erleben. Deshalb habe ich die Figur der Elisabeth zu einer öffentlichen Person gemacht. Dann habe ich einen Vorfall zwischen Jon und Armand konstruiert, der völlig unschuldig oder sehr ernst sein kann - je nachdem, wie man ihn betrachtet und wie man ihn in den Kontext einordnet. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf sah ich, dass es in diesem Film viel mehr darum gehen könnte, wie wir als Erwachsene unsere eigenen Realitäten konstruieren, damit sie mit der Wahrnehmung unserer Identität und unseres Lebens übereinstimmen.

 

…ich habe schon immer Filme gemocht, die nur an einem Ort spielen. Das erzeugt eine ganz besondere Art fast schon klaustrophobischer Spannung. Es gibt nur wenige Gebäude, in denen der Kontrast zwischen Tag und Nacht so groß ist wie die Schule. Tagsüber, wenn es hell ist, gibt es dort Leben und Spiele und herumlaufende Kinder. Nach Schulschluss erscheint alles nur noch wie ein Echo. Diese spezielle Energie, die Emotionen bleiben in den Wänden. Ich wollte ein visuell lebendiges Kammerspiel schaffen. Die Zuschauer sollten nicht gezwungen sein, die Geografie der Schule nachvollziehen zu können und an eine Logik der Räume zu denken. Alles in der Schule sollte frei und fast verträumt sein. Wenn die Schule vorbei ist, gibt es keine Regeln mehr- das war mein Gedanke. Nachdem wir unseren realen Schul-Standort gefunden hatten, mussten wir alle meine Ideen von einer Schule, die ich in meinem Film vor mir sah, auf etwas ganz Konkretes übertragen. Denn jene Schule, die ich mir vorstellte, war wie ein Ding aus einem Traum, nicht logisch, nicht mit „vier Ecken konzipiert. Ich war gezwungen, jede Treppe, jede Ecke, jede Tür, jede Lampe, jedes Fenster in meine realen Drehplanungen mit einzubeziehen. Kurz vor den Dreharbeiten begann ich schließlich, mir den Film in der Schule vorzustellen, in der wir dann tatsächlich drehten- und nicht in meiner imaginären Schule. Zu Glück. 

 

Meine Lieblingsfiguren in Filmen sind immer die egoistischen. Ich liebe es, ihnen dabei zuzusehen, wie sie alle möglichen Taktiken ausprobieren, um das zu bekommen, was sie wollen. Für mich hat das etwas Pathetisches und immer auch etwas sehr Wahrhaftiges, vor allem in unseren privilegierten westlichen Gesellschaften. Einige sind selbstlos, aber der Zyniker in mir ist selbst von ihnen und ihren Motiven nicht besonders überzeugt. Ich glaube, hinter jeder Handlung steckt fast immer auch etwas Egoistisches- und sei es noch so klein. Ich verurteile das nicht, ich stelle es nur gerne im Film dar. Und ich tue es mit Liebe. Egoistische Motive machen niemanden automatisch zu einem schlechten Menschen. Vielleicht habe alle einfach nur Angst davor, was passieren könnte, wenn sie die Kontrolle verlieren."

 

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Armand

Regie & Drehbuch: Halfdan Ullmann Tøndel

Darsteller: Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Thea Lambrechts Vaulen

Produktionsland: Norwegen, Niederlande, Deutschland, Schweden

Länge: 117 Min

Kinostart: 16. Januar 2025

Verleih: Pandora Film Verleih

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © Eye Eye Pictures / Pandora Film Verleih

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