Die Dirtbiker-Gangs der Peripherie von Bordeaux sind eine abgeschottete Macho-Domäne. Julia (grandios Julie Ledru), die Fremde, der Eindringling, stellt diese Welt auf den Kopf, infiziert uns mit ihrer skrupellosen Obsession für Maschinen, Asphalt und Geschwindigkeit, für sie einzig akzeptables Symbol von Freiheit und Gleichberechtigung.
„Rodeo“, Debüt-Film der französischen Regisseurin und Drehbuchautorin Lola Quivoron, besitzt seine ganz eigene raue Art von Poesie, Sinnlichkeit und verzweifelter Aggression. Das Aufheulen der Motoren gleicht einer Kampfansage an die bürgerliche Gesellschaft, am Ende perforiert Surreal-Spirituelles die Wirklichkeit. Das feministische Außenseiter-Epos wurde 2022 in Cannes mit dem Coup de Cœur der Reihe Un Certain Regard ausgezeichnet.
„Rodeo“ beginnt mit einem Wutausbruch und wird als Porträt einer jungen Frau in Flammen enden. Ihr Bike ist weg, Julia rastet aus, natürlich leiht ihr niemand seins, wohl wissend, dass er es nie wiedersehen würde. In diesen ersten Minuten outet sich Julia als Systemsprenger in punkto Familie, Emotionen teilt sie wie Faustschläge aus, ihr Leben ist längst ein tückischer Mehrfronten-Krieg. So befremdend ihr Verhalten scheinen mag, die Furchtlosigkeit, die verbalen Provokationen, der völlige Verzicht auf weiblichen Charme und jede Art von Kompromiss ist entwaffnend. Die Kamera agiert zu diesem Zeitpunkt genauso unberechenbar wie unsere Protagonistin. Der gelingt bald schon dank ihres virtuosen kriminellen Geschicks, ein Bike zu stehlen. Wenn sie dann vor Begeisterung jubelnd die Straße entlang rast mit Höchstgeschwindigkeit, das schwarze lange Haar im Fahrtwind flattert, reißt sie uns mit, ihr Triumph, das Glück, die Rache sind fast körperlich spürbar.
„Avoir un coup de cœur pour quelqu’un“ – sein Herz an jemanden verlieren. Das trans-feministische Heist-Movie ist irgendwo im Verborgenen auch eine Liebesgeschichte. Ähnlich Julia Ducournaus Fantasy-Drama „Titane“ (2021), erzeugt auch „Rodeo" eine Eruption von Sehnsucht, Begierde, Rebellion, durchbricht die Grenzen der Genres und Geschlechterrollen, zerstört mit betörender Radikalität Normen, Strukturen, Logik, Erwartungen. Nur wählt Lola Quivoron einen konträren Ansatz, bleibt der Wirklichkeit mehr verbunden. Die Rennen der Dirtbiker-Gangs sind in Frankreich illegal, die Regisseurin kennt sie seit ihrer Kindheit. Im Sommer 2015, als sie an der Nationalen Filmhochschule La Fémis studierte, stieß Quivoron in den sozialen Medien auf eine Gruppe, die sich „Dirty Riderz Crew" nannte. Sie kontaktierte den Anführer, der sie einlud, einige Zeit mit ihnen auf der Trainingsstrecke in einem Vorort von Paris zu verbringen. „Von diesem Tag an war ich wirklich angefixt“, erklärt die Autorenfilmerin, „es war eine physische Begegnung. Die Motoren sind sehr stark, was die Biker tun, ist ziemlich gefährlich und sehr beeindruckend. Auf engen Straßen fahren sie extrem schnell und sehr nah beieinander“. Quivoron freundete sich mit den Mitgliedern an, wollte ihre Welt, deren Regeln und Philosophie verstehen lernen. Die Kids kommen aus dem Banlieue, dem sozialen Abseits Frankreichs, das Schicksal hat ihnen miese Karten zugespielt, die Bikes sind ihre Art der Rache an einer ungerechten Gesellschaft, einer Gesellschaft, von der sie sich verraten fühlen. Wenigstens der Krach der Maschinen verschafft ihnen Gehör.
„Rodeo“ entstand über einen Zeitraum von fast fünf Jahren und basiert auf einer Mischung von Fiktion und Realität. Unterwegs mit der „Dirty Riderz Crew“ war Quivoron meist das einzige Mädchen. Die wenigen anderen saßen entweder hinten auf den Motorrädern oder standen am Straßenrand, Geliebte oder bewundernder Fan, reduziert zu bloßem Dekor, kaum eine von ihnen fuhr selber. „Das war auch der Grund, warum ich die Figur der Julia erfunden habe: Sie entsprach einem ziemlich intimen Wunsch, diesen Traum von einer Gemeinschaft für mich zu verwirklichen.“ Schon in ihren Kurzfilmen „Au Loin Baltimore“ und „Stand“ erkundete Quivoron in sich geschlossene Universen, von der normalen Welt abgeschnitten, weitgehend vom männlichen Blicken und Körpern dominiert. Es ist ihre Motivation des Schreibens und Regieführens, durch Fiktion die Realität der Geschlechterstereotypen in Frage zu stellen. „Ich liebe es, in ein System einzudringen, es von innen zu betrachten, um zu begreifen, wie es funktioniert, um es dann zu dekonstruieren.“ Das Drehbuch schrieb die Autorenfilmerin zusammen mit Antonia Buresi, sie hatte immer schon davon geträumt, eine weibliche Gangsterfigur zu kreieren, sie mag Mafiafilme, Kriegsfilme, eben Filme mit viel Gewalt. Frauen spielen dort aber nur selten die entscheidende Rolle. Dann entdeckte sie auf Instagram den Account „Inconnu du 95“, ihr echter Name Julie Ledru, sie ist Bikerin. Für die heute 34jährige Filmemacherin war es "wie ein Wunder“, die Protagonistin, von der sie geträumt hatte, existierte wirklich. Mit ihr vor Augen begann Quivoron das Drehbuch umzuschreiben. Julie Ledru begriff schnell die Komplexität der Figur, die gleichzeitig gestört, gewalttätig und manipulativ ist.
Wundervoll und für uns nicht ohne Komik, wie Julia reiche, selbstgefällige Männer abzockt. Ihre kriminellen Qualitäten ermöglichen den Einstieg in die Biker Clique der Wings, auch wenn sie dort wenig willkommen ist. Diese Jungs lassen sich nicht so schnell um den Finger wickeln, reagieren aggressiv, feindselig. Julia bettelt, fleht, sie braucht unbedingt Sprit, Kaïs (Yannis Lafki) scheint amüsiert von ihrer Unverschämtheit, er verlangt ein Lächeln als Dank, genau wissend, mehr als ein Fluch kriegt er von der widerborstigen Mittzwanzigern nicht, und genau das bewundert er. Hauptquartier der Gang eine Garage, hier werden Maschinen repariert, frisiert, verscherbelt, ein Paradies für Julia, sie nistet sich ein, erledigt Botengänge für Domino, den inhaftierten Boss der Clique, avanciert zur Expertin für riskante Diebstähle. Das Klauen ist mehr noch als das Bike ihre Art der Daseinsberechtigung, der Motor, der sie antreibt, ihr Kraft gibt. Zu Geld hat sie ein gespaltenes Verhältnis, sie nimmt sich ungefragt, was immer sie braucht. Bezahlt werden klingt nach Unterlegenheit, Ausbeutung und doch könnte es den Weg in die Unabhängigkeit bedeuten. Ophélia (Antonia Buresi), die Frau des Boss und ihr kleiner Sohn leben wie Gefangene in ihrer Wohnung, sie dürfen nie raus, die Biker bringen ihr, was sie zum Leben braucht. Das Kind quengelt, weiß nicht wohin mit seiner Energie. Julia überredet Ophélia zu einer Fahrt auf ihrem Bike. Es ist einer der wenigen ungetrübten Momente des Glücks im Film und der Beginn einer Katastrophe.
Über ihre Protagonistin sagt die Regisseurin im Interview: „Sie überrascht uns, weil sie sich der Fixierung auf eine einzige, einheitliche Darstellung entzieht. Ihr Gesicht verändert sich ständig, ihr Outfit, ihre Züge. Sie verkörpert mehrere Figuren, bewegt sich zwischen Genres, Codes, sozialen Umfeldern. Zu Beginn des Films ist es schwierig, ihr zu folgen... Sie flieht, entzieht sich einem statischen Bild. Sie ist getrieben von einer Leidenschaft, dem unbändigen Wunsch, anders und anderswo zu leben, Horizonte neu zu ziehen… Julie, Julia und ich sind nicht-binäre Menschen… Julia ist ein Chamäleon, das sich ständig verwandelt. Man hat das Gefühl, dass ihr Körper nur eine Art Hülle ist...Und ihr Spiel mit den Äußerlichkeiten macht ihre Fluidität überzeugend. Es ist, als ob ihr Körper existiert und nicht existiert“. Darin liegt Julias Kraft, in der Nicht-Zugehörigkeit. Sie rebelliert gegen die Sexualisierung, jene Stereotypen des Begehrens und Begehrt-Werdens. Die Regisseurin sieht ihre Heldin als Medusa, die denjenigen in Stücke sprengt, der sie anzusehen wagt. Die einzigen Blicke, die sie erträgt, sind von Kaïs und Ophélia. Unermüdlich kämpft sie gegen jeder Formen der Ausbeutung, Unterdrückung oder fehlgeleiteten Verlangens.
„Rodeo“ ist mehr als eine Milieu- oder Charakterstudie, die Protagonistin sensibilisiert uns, eröffnet einen differenzierteren Blick auf die politischen Unruhen in Frankreich und nicht nur dort. Der Zorn bleibt nicht abstrakt, wir spüren ihn, genau wie den Fahrtwind, die Geschwindigkeit, den Kick der Gefahr, jene Koketterie mit dem Tod als einziger Luxus derer, die am Rande der Gesellschaft leben, nicht bereit sind, sich weiter ausbeuten zu lassen. Das epische und zugleich hyper-naturalistische Biker-Drama entwickelt sich zum Cinemascope-Western der Peripherie. Lola Quivoron und ihr Kameramann Raphaël Vandenbussche kennen keine Berührungsangst mit der Gewalt, aber nie verhält sich Julia ohne Grund brutal, dahinter steckt immer Scham, Frustration, die bloße Notwendigkeit, sich verteidigen zu müssen.
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Regie: Lola Quivoron
Drehbuch: Lola Quivoron, Antonia Buresi
Darsteller: Julie Ledru,Yannis Lafki, Antonia Buresi, Ahmed Hamdi
Produktionsland: Frankreich, 2022
Länge: 105 Minuten
Kinostart: 13. Juli 2023
Verleih: Plaion Pictures
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Plaion Pictures
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