„High-Rise”. Eine verführerische Utopie aus Beton
- Geschrieben von Anna Grillet -
Science-Fiction im Retro-Stil der Siebziger Jahre: grotesk, bildgewaltig, erschreckend aber unwiderstehlich.
J.G. Ballards brillanter dystopischer Roman „High-Rise” erschien 1975 und galt jahrzehntelang als unverfilmbar. Nun hat ihn der britische Regisseur Ben Wheatley mit waghalsiger Bravour als elegant ironische Parabel auf Kapitalismus und Klassenkampf inszeniert. Das Hochhaus ist hier nicht nur Metapher für unsere Gesellschaft, sondern auch ganz im Sinne des Autors Spiegelbild der menschlichen Seele und ihrer Abgründe.
London 1975. Der einst so luxuriöse Wolkenkratzer gleicht einem Kriegsschauplatz kurz nach dem Bombenangriff. Korridore und Treppen sind kaum noch passierbar, Müll, Schutt, dazwischen Leichen. Das Swimmingpool eine gelbgrünlich widerliche Brühe, der Supermarkt leer, verwüstet. Doch keine fremde Macht hat diese Zerstörung angerichtet, es ist das Werk seiner Bewohner. Film wie auch Roman beginnen damit, wie Dr. Robert Laing (Tom Hiddleston) sich über dem Grill das Hinterbein eines Hundes röstet. Der Facharzt für Physiologie verspürt „trotz all der Unannehmlichkeiten”, wie er es formuliert, Zufriedenheit mit dem Leben im Hochhaus. Schnitt. Drei Monate zuvor: Nach dem unerwarteten Tod seiner Schwester Alice zieht der attraktive Junggeselle in den 25. Stock der exklusiven Wohnanlage, wohl auf der Suche nach Anonymität und Ordnung.
Laing sonnt sich grade nackt auf dem Balkon, als neben ihm eine Champagnerflasche zersplittert. Sie gehört Charlotte (Sienna Miller), der Nachbarin zwei Stockwerke höher, die ihm fröhlich zuwinkt. Die mysteriöse Schöne und alleinerziehende Mutter eines altklugen Jungen geizt nicht mit ironischen Komplimenten („Sie sind ja ein wirkliches Prachtexemplar”) aber mit emotionaler Zuwendung. Beim Sex fragt sie ihn kaltschnäuzig über den Tod seiner Schwester aus. Der surreale eigenwillige Thriller macht Doppeldeutigkeit zum Programm. Sympathisch ist hier eigentlich niemand, das begreift der Zuschauer bald, und ohne zu murren, denn Nihilismus war selten zuvor derart unterhaltsam oder faszinierend. Das Hochhaus im Stil des Brutalismus ist einer von fünf markanten Betonklötzen, die anderen warten noch auf ihre Vollendung. Als Schmelztiegel gesellschaftlicher Veränderung hatte sie Architekt Anthony Royal (Jeremy Irons) geplant. Zumindest behauptet er das gegenüber Laing. In Wirklichkeit signalisieren die Stockwerke unmissverständlich die Klassenzugehörigkeit jedes Einzelnen in diesem Gebäude.
Wie ein König im Reich des Betons residiert Royal in den obersten Etagen, seine Frau Ann (Keely Hawes) mag sich nicht unterordnen, sie übertrifft alle an Exzentrik, Hochmut und Menschenverachtung. Die auserwählten Gäste in ihren Kostümen und Perücken aus der Zeit Marie Antoinettes erinnern an die stürmischen Feste des Ancien Régimes am Vorabend der Revolution und sollen doch wohl nur die Charaktere aus Kinderreimen darstellen. Ein klassisches Streichquartett intoniert den Abba-Hit SOS. Die düstere Portishead Conversion wird später zum heimlichen Titelsong des Films. Ungestört suhlt sich die Hautevolee in Orgien, Drogen, Alkohol und dem eigenem Snobismus. Laing ist ohne Kostümierung höchst deplaciert, man lässt es ihn spüren, und er rächt sich dafür. Der schlossparkähnliche Dachgarten und das weiße Reitpferd verleihen dem Anwesen in luftiger Höhe zusätzliche Noblesse wie auch wundervolle Komik. Ben Wheatley („Kill List”, „A Field in England”) betont im Gegensatz zu Ballard den politischen Aspekt von „High Rise”. Amy Jump, die Ehefrau des Regisseurs, schrieb das Drehbuch, wahrlich kein einfaches Unterfangen, aber die beiden sind seit langem ein exzellent eingespieltes Team.
Der aggressive leidenschaftliche Richard Wilder (Luke Evans), von Beruf Dokumentarfilmer, gehört zur niedrigsten Einkommensklasse und haust in einem der unteren Geschosse zusammen mit seiner hochschwangeren, oft zutiefst deprimierten Frau Helen (Elisabeth Moss). Der muskulöse Macho und Weiberheld wird bald schon Laings Kumpel aber auch Rivale. Der Mediziner mag Helen, die mit dem Schicksal hadert, weil ihr das Geld fehlt, die soziale Erfolgsleiter zu erklimmen und weiter nach oben zu ziehen. Der politisch engagierte Wilder ist als Repräsentant der Unterdrückten, eine Mischung aus Märtyrer und Monster. Er grollt dem System ob der Ungleichheit zwischen den Stockwerken. Abgesehen vom Hausmeister und Royals Putzfrau existiert in „High-Rise” kein wirkliches Proletariat. Jeden Morgen setzt sich ein Heer adrett gekleideter Akademiker Richtung Arbeitsplatz und Zentrum in Bewegung. Die frühere Mittelschicht wird zur Unterschicht degradiert. Ballards präapokalyptische Fiktion zeigt ein untrügerisches Gespür für die kommenden sozial-ökonomischen Entwicklungen. Dabei waren die Betonkolosse der Siebziger Jahre einst Hoffnungsträger einer neuen demokratischen Ära in der Tradition von Corbusier. Sie sollten die Hochburgen der Kreativen werden. Architekten wie Royal sahen sich als Eroberer der Moderne und der Utopien.
„Ihr Mann ist scheinbar fest entschlossen, den Himmel zu besiedeln. Und wie kann ich es ihm verübeln, wenn man bedenkt, was sich da unten abspielt auf Straßenniveau”, sagt Laing zu Ann. Aber Royals Experiment missglückt und so facettenreich die Akteure sind, die faszinierendste Kreatur des Films ist das Gebäude selbst. Die Konflikte zwischen Arm und Reich eskalieren. Es brodelt, gärt im Hochhaus selbst und in den Menschen. Die Air Condition bricht zusammen, Fahrstühle funktionieren nicht. Während Kinderwindeln die Müllschlucker verstopfen, geht die Vernunft zu Bruch. Der Abfall wächst zu immensen Bergen. Die wenigen verbliebenen Ressourcen wollen die oberen Etagen nicht mit den unteren teilen. Die Folge: Vandalismus, Krawalle, Überfälle, Plünderungen, Vergewaltigungen. Auf den unteren Stockwerken formieren sich Gangs, ein bacchantisches Massaker beginnt. Treppen und Aufzüge werden zu Kampfzonen, Feuer bricht aus. In Slow Motion stürzt ein Mann kopfüber aus dem 39. Stockwerk. Kein Streifenwagen trifft ein. Der Staat als Ordnungshüter bleibt unsichtbar. Es ist Wahnsinn pur, der Zuschauer kann sich nur treiben lassen. So grausam das Spektakel ist, man möchte keinen Moment des Zerfalls missen und verfolgt besorgt staunend das Scheitern der Zivilisation wie eine finstere Prophezeiung. Konsum, Besitzgier, Machtstreben sind Vorboten der Apokalypse. Der Fortschritt, so wohl Ballards Überzeugung, führte dazu, dass der Instinkt, gemeinsam für das Überleben zu kämpfen, verloren ging.
Eine Lobotomie soll den Rädelsführer zum folgsamen Bürger machen. Wheatley inszeniert auch die extremsten Exzesse mit kultiviert ironischer Zurückhaltung. Der dystopische Thriller gewinnt mit wachsender Zerstörung an Stilsicherheit. Wie in einem Kaleidoskop verliert sich das Einzelwesen, wird immer wieder mit dem eigenen Spiegelbild konfrontiert. Gewalt und Grausamkeit geschehen außerhalb des Bildes, wir hören höchstens das Geräusch der splitternden Knochen, sehen nur das Blutbad danach, müssen aber nicht Zeuge sein. Alles ist in Auflösung begriffen, da beginnt der Protagonist seine Wände zu streichen, die Umzugskartons hatte er nie ausgepackt. Kameramann Laurie Rose übersetzt den Zynismus und die Phantasien Ballards in ästhetisch virtuose albtraumhafte Visionen von unglaublicher Eleganz. Die Akteure starren ungeniert in die Kamera, erwarten sie eine Reaktion von uns? Leichtes Unwohlsein überfällt den Zuschauer, als könnte „High-Rise” ihn infizieren, sich im nächsten Moment schon zur Pandemie ausweiten. Ob blutige Brutalität und dekadente Orgien, sie werden gleichermaßen zu schrecklich schönen Szenen voll schwarzen Humors. Ungerührt walzen Laing und Helen durch die Ruinen seines Appartements. Das Ende der Menschheit kann so schlimm nicht sein. Jene bissige Ironie erinnert an den sozialkritischen englischen Maler William Hogarth (1697-1764) und „Der Würgeengel” (1962) von Luis Buñuel.
Tom Hiddleston brilliert in der Rolle des modernen Jedermann. Er ist zurückhaltend, auf eine sehr reservierte Art charmant, die ideale Projektionsfläche. Seine Kälte hat etwas überaus Attraktives, genau wie dieses unselige Haus zieht er den Zuschauer in seinen Bann. Aber identifizieren kann man sich nicht mit ihm, unser Mitgefühl würde Laing auch höchstens irritieren, ihn interessiert High-Rise als wissenschaftliches Experiment, er nennt es “eine Investition in die Zukunft”. Er bleibt immer nur Beobachter, Zaungast, indifferent, einer der sich treiben lässt, nie Position bezieht, doch dem Wahnsinn kann auch er sich nicht entziehen. Mit dem Töten und dem Tod hat er keinerlei Probleme, sein Lächeln ist tragisch und unheimlich zugleich. „Die wirklich gefährlichen sind diese verschlossenen Typen wie Du”, sagt sein Gegner. „Vielleicht hast Du Recht”, erwidert Laing. Zentrales Thema bei J.G Ballard (1930-2009) ist eine Zivilisation, die sich laut Freud nach der eigenen Selbstzerstörung sehnt. Eine übersättigte Konsumgesellschaft, die durch Gewalt versucht, aus ihrer Starre auszubrechen. Am Ende des Films die Lobeshymnen Margaret Thatchers über die Vorzüge der freien Marktwirtschaft. Der Schriftsteller war angeblich ein Bewunderer von ihr. Schwer nachvollziehbar, aber ihre Idee, das britische Königsreich zu amerikanisieren, soll er begrüßt haben.
Zum Background: Ballards Vater leitete vor dem zweiten Weltkrieg die Niederlassung einer britischen Textilfirma in Shanghai. Der Junge verbrachte seine frühe Kindheit in der dortigen internationalen Siedlung. Nach dem Angriff auf Pearl Harbour besetzen die Japaner die Siedlung und begannen im Frühjahr 1943 alliierte Zivilisten zu internieren. Zwei Jahre wurden James und seine Familie in dem Gefangenenlager von Longhua festgehalten. Auf den Erlebnissen jener Zeit beruht seine Semi-Autobiographie „Das Reich der Sonne” (1984), die Steven Spielberg 1987 verfilmte. Der Schriftsteller war weniger interessiert an den politischen oder wirtschaftlichen Fragen, die das 20. Jahrhundert dominierten. Seine dystopischen Romane wie „Crash” (1996) spielten an Plätzen, wo dergleichen längst seine Bedeutung verloren hat. Ihm ging es um den Zerfall sozialer Strukturen oder Bindungen, wie das Individuum auf Katastrophen reagiert. Surrealismus und Psychoanalyse bezeichnete Ballard als seine eigentlichen Einflüsse. Für ihn waren Begriffe wie Kapitalismus und Sozialismus austauschbar, maskierten gleichermaßen die Unterdrückung der Schwachen.
Kolossalbauten können für beides stehen, Armut oder unglaublichen Wohlstand, Trellick Tower, die 31stöckige Wohnanlage im Londoner Stadtteil North Kensington, entwarf der ungarisch-britische Architekt Ernő Goldfinger (1902-1987). Sie wurde schon bald nach Fertigstellung Anfang der Siebziger Jahre zum sozialen Brennpunkt. Vergewaltigungen in den Aufzügen, Kinder wurden von Drogenabhängigen angegriffen, Weihnachten 1972 öffneten Vandalen einen Hydranten im 12. Stock und überschwemmten den Aufzugschacht. Strom und Heizung fielen für mehrere Tage aus. Die Regenbogenpresse bezeichnete das Appartementhaus als „The Tower of Terror”. Vom verhassten Betonklotz im Stil des Brutalismus avancierte es später zu einem Wahrzeichen und Kultobjekt, Monument neu belebter Moderne. Die Kaufpreise für die Wohnung stiegen dementsprechend. Wohntürme stehen nun meist für Fortschritt, Reichtum, es gilt einander zu übertrumpfen, ob in Dubai oder London wie The Shard, der 310 Meter hohe Wolkenkratzer Renzo Pianos. Er gehört zum Immobilienportfolio der Familie Al Thani und zerstört die Silhouette der Stadt. Ballard faszinierten sterile Einkaufszentren, Airport Terminals, Autobahnen, riesige Piazzas, ohne den Ballast von Vergangenheit und Erwartungen. Hier konnten die Menschen freier sein als irgendwo sonst. Sein Lieblingsgebäude soll das Hilton Hotel am Heathrow Airport gewesen sei, entworfen von Michael Manser. Der Autor beschrieb es in einem Interview als “ Kreuzung einer Klinik für Gehirnchirurgie und einer Weltraumstation.”
Originaltitel: High-Rise
Regie: Ben Wheatley
Darsteller: Tom Hiddleston, Jeremy Irons, Sienna Miller, Luke Evans, Elisabeth Moss
Produktionsland: Großbritannien, 2015
Länge: 119 Minuten
Verleih: DCM Filmdistribution
Kinostart: 30. Juni 2016
Fotos & Trailer: Copyright DCM Filmdistribution
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