Film
Die Tribute von Panem

„Wenn wir brennen, dann brennen Sie mit uns.” Vom dystopischen Actionspektakel zum erschreckend aktuellen Revolutionsdrama.
Eine mutige Entscheidung von Regisseur Francis Lawrence. Hinreißend: Jennifer Lawrence als Katniss Everdeen und Rebellin wider Willen. Die Produzenten des Kino-Franchise haben sich bei Suzanne Collins Romantrilogie an das erprobte Prozedere von „Harry Potter” und „Twilight” gehalten. Sie splitten die Handlung des letzten Bandes in zwei Filme- mit verblüffendem Resultat: „Mockingjay Teil 1” entwickelt eine solch düstere, emotionale Wucht wie sie weder „Tödliche Spiele” noch „Catching Fire” je erreichten. Vielleicht auch gar nicht erreichen sollten. Manche Kritiker in den USA empfinden den so untypischen Fantasy-Blockbuster als langatmigen Lückenbüßer, für andere ist er eine Offenbarung.

 
Film
Mommy

Das Mutter-Sohn-Drama von Regisseur Xavier Dolan ist leidenschaftlich, vulgär, anrührend, schräge, komisch und genial.
„Liebe hat damit nichts zu tun. Unglücklicherweise,” erklärt die Leiterin des Heims für schwer erziehbare Jugendliche. Sie hat viele Kids hier drinnen erlebt, „...ein paar von denen fangen wir auf, die Anderen müssen wir leider aufgeben.“ Doch Diane (Anne Dorval) weigert sich zu akzeptieren, dass ihr halbwüchsiger Sohn ein hoffnungsloser Fall sein soll. Sie wird um ihn kämpfen. Mit aller Kraft. Steve (Antoine-Olivier Pilon) leidet unter einer extremen Form von ADHS, er neigt zu Wut- und Gewaltausbrüchen, hat grade die Cafeteria des Internats abgefackelt, einen anderen Jungen schwer verletzt. Hier darf er deshalb nicht bleiben.

 
Film

Grandios: Timothy Spall als exzentrischer Rebell und Visionär.
Dem 71jährigen Regisseur Mike Leigh gelingt das eigentlich Unmögliche, ein Porträt des berühmtesten britischen Malers Joseph Mallord William Turner (1775-1851) und seiner Epoche. Entstanden ist ein bildgewaltiges Filmepos, dramatisch, überbordend, visuell virtuos, poetisch, opulent, delikat, derb, tragisch, humorvoll, leidenschaftlich, von ungeheurem Drive, atemberaubender Schönheit.

 
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Zwei Tage, eine Nacht

Ein fesselndes Sozialdrama. Atemberaubend: Marion Cotillard als Arbeiterin, die verzweifelt um ihren Job kämpft.
Heulen könnte man manchmal vor Wut, Hilflosigkeit, dem Gefühl der Ohnmacht genau wie irgendwann später vor Erleichterung oder Rührung. Jean-Pierre und Luc Dardenne verstehen sich auf das Erzählen der kleinen traurigen Geschichten im Zeitalter des modernen Kapitalismus. Ein Happy End gibt es nicht aber Hoffnung. Die belgischen Regisseure wurden in Cannes schon zweimal mit der Goldenen Palme ausgezeichnet für “Rosetta” und “Das Kind”. Dieser Film ist noch erschütternder, vielleicht, weil es sich überall auf der Welt in diesem Moment genau so zutragen kann.

 
Film
„Am Sonntag bist du tot”. Oder die Einsamkeit des Erlösers im 21. Jahrhundert

Irland nach Wirtschaftskrise und Missbrauchsskandalen: John Michael McDonagh inszeniert seinen provokanten postmodernen Thriller als hintergründige Tragikomödie, die sich aber bald schon zum finster melancholischen Drama entwickelt.

Wie jeden Sonntag nimmt Father James (Brendan Gleeson) die Beichte ab. „Ich war sieben Jahre alt, als ich das erste Mal Sperma schmeckte”, der Mann, der da spricht, scheint kein reuiger Sünder, er will nicht Vergebung sondern Vergeltung. Fünf endlos lange Jahre hindurch wurde er von einem katholischen Geistlichen vergewaltigt. Wieder und wieder. Das Trauma hat er nie verwunden.

 
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20.000 Days on Earth. Das unwiderstehliche Universum des Nick Cave

Ein Dokumentarfilm getarnt als bunt schillernder Neo-Noir. Oder umgekehrt?
Wahrlich ein Meisterwerk, in dem Wirklichkeit und Fiktion ständig die Rollen tauschen.

Es ist der 20.000ste Tag im Leben des legendären Rockpoeten: Er beginnt mit dem Wecker-Klingeln und endet mitten in seiner Seele. Die Regisseure Iain Forsyth und Jane Pollard entführen den Zuschauer auf eine atemberaubende audiovisuelle Exkursion durch Zeit und Raum. Unerbittlich tippt der australische Musiker auf seiner kleinen strahlend blauen Schreibmaschine vor sich hin.

 
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„The Riot Club”. Willkommen bei den bornierten Rowdys der britischen Oberschicht

Satire oder Realität? Das ironisch amüsante Gesellschaftsdrama lehrt uns das Fürchten und die Unmöglichkeit des Traums einer klassenlosen Gesellschaft.
Vorbild für den Film der dänischen Regisseurin, Lone Scherfig, ist die exklusive Studentenverbindung des 1870 gegründeten Bullingdon Clubs an der Universität von Oxford. Zu den illustren Mitgliedern der geheimen Dining Society zählten viele, die später Macht und Einfluss hatten: König Edward VII und Edward VIII, Banker, Wirtschaftsführer, prominente Adlige, Politiker wie der englische Premierminister David Cameron, Schatzkanzler George Osborne und Londons Bürgermeister Boris Johnson. Weniger ruhmreiches Mitglied: Gottfried Alexander Leopold Graf von Bismarck-Schönhausen.

 
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„Phoenix” – Vertigo im Nachkriegsdeutschland

Wenn die Wahrheit für Opfer wie Täter unerträglich wird: Christian Petzold inszeniert seine provokante vielschichtige Parabel über Identität, Schuld und Liebe als Film Noir.

Juni 1945, die jüdische Sängerin Nelly Sachs (Nina Hoss) hat Auschwitz überlebt. Ihr Gesicht ist völlig zerstört, sie selbst schwer traumatisiert. Lene (Nina Kunzendorf), Mitarbeiterin der Jewish Agency, bringt die Freundin zurück nach Berlin. Nach einer operativen Gesichtsrekonstruktion macht sich Nelly auf die Suche nach Jonny (Ronald Zehrfeld), ihrer großen Liebe. Die Ehe mit dem Pianisten hat sie während des Nationalsozialismus lange vor der Deportation geschützt.

 
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Am Ende nur ein Aufschrei der Verzweiflung – „A Most Wanted Man”

Philip Seymour Hoffman starb am 2. Februar 2014 an den Folgen einer Überdosis Drogen.
Der glücklose Kampf des einsamen Agenten Günther Bachmann war seine letzte große Rolle und auch seine persönlichste.

Anton Corbijn inszeniert den melancholisch abgründigen Spionagethriller nach dem gleichnamigen Roman von John le Carré als zorniges Melodram. Ein ästhetisch virtuoser Film und erschreckendes Porträt unserer Gesellschaft: Hamburg 2012, ein mysteriöser Fremder (Grgory Dobrygin) irrt durch die Straßen der Hansestadt: ausgemergelt, traumatisiert, obdachlos. Was den muslimischen Tschetschenen von anderen Illegalen unterscheidet, ist ein dubioses Millionenerbe auf dem Schwarzgeldkonto einer renommierten Privatbank.

 
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„Diplomatie”. Schwer erkämpfter Ungehorsam

Ein packendes vielschichtiges Psychodrama. Grandios fotografiert. Volker Schlöndorffs stärkster Film seit “Die Blechtrommel”.
„Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen,” so lautet der Befehl Adolf Hitlers und General Dietrich von Choltitz (Niels Arestrup) ist fest entschlossen, ihn am Morgen auszuführen.

Es ist die Nacht vom 24. auf den 25. August 1944. Die Alliierten sind nach ihrer Landung in der Normandie auf dem Vormarsch. Die Zweite Französische Panzerdivision steht vor den Toren der Stadt. Das Oberkommando der Wehrmacht hat sein Quartier im luxuriösen Hotel Meurice an der Rue de Rivoli mit Blick auf den Jardin des Tuileries.

 
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„Die langen hellen Tage” – eine Pistole wird zum Zeichen tiefer Zuneigung

Ein hinreißender fesselnder Film von verstörender Eindringlichkeit mit magischen wunderschönen Bildern.

Tiflis, Georgien, Sommer 1992. Eka (Lika Babuluani) und Natia (Mariam Bokeria) sind 14 Jahre alt und beste Freundinnen. Der Abchasien Konflikt droht zu eskalieren. Das Land leidet unter dem Bürgerkrieg. Armut, Gewalt, heruntergekommene Plattenbauten, überall nur bröckelnden schäbige Fassaden. Alles scheint in Auflösung begriffen: Traditionen, Beziehungen, Autoritäten. Eine postsowjetische Gesellschaft in Trümmern, das ist die Welt der beiden Mädchen und ihrer Schulfreundinnen. Wie will man da glücklich, unbeschwert sein?

 
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„Jimmy’s Hall” – Oder die Swing Rhythmen des Antichristen

Dies soll sein letzter Film sein, hatte Ken Loach verkündet, aber so ganz glaubt er selbst nicht daran.
Ein Rebell wie er geht nie in den Ruhestand. Der britische Regisseur und bekennende Sozialist ist 78 Jahre alt. Seinen Überzeugungen treu inszeniert er das historische Politdrama: leidenschaftlich, ästhetisch virtuos, zuweilen mit fast beschwingter, ungewohnter Leichtigkeit. Aber nichts täuscht darüber hinweg, worum es geht: Ausbeutung, Unfreiheit, damals wie heute.

Irland 1932. Nach zehn Jahren im amerikanischen Exil kehrt Jimmy Gralton (Barry Ward) zurück in sein Heimatdorf. Der Bruder ist gestorben, er will sich um die Mutter und den winzigen Hof kümmern. Eine Landschaft von überwältigender, herber Schönheit, die politischen Verhältnisse dagegen sind erschreckend. Kirche und Obrigkeit paktieren, die reichen Großgrundbesitzer vertreiben die kleinen Pächter von deren Farmen.

 
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Mut zur Utopie, ein Relikt der Vergangenheit? – „Die Geliebten Schwestern”

In Dominik Grafs unkonventionellem Historiendrama wird Dichterrebell Friedrich Schiller nicht zu unserem Zeitgenossen sondern wir zu seinem.
Die wahren Revolutionäre der Leidenschaft sind aber Frauen.

Im Sommer 1788, im thüringischen Rudolstadt beginnt die anrührende Ménage-à- trois zwischen dem Autor der “Räuber” (Florian Stetter) und den Schwestern Caroline von Beulwitz (Hannah Herzsprung) und Charlotte von Lengefeld (Henriette Confurius).

 
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„Feuerwerk am helllichten Tage” – Konkurrenz für Philip Marlowe

Diao Yinan inszeniert seinen makabren düsteren Thriller als bildgewaltige Allegorie auf die heutige Gesellschaft Chinas.
Eine abgehackte Hand zwischen schwarzer Kohle auf einem Förderband, ein menschliches Auge in der Nudelsuppe eines Schnellimbiss’, an den verschiedensten Orten tauchen weitere Leichenteile auf. Im tristen Norden des Landes sind bizarre Verbrechen keine Seltenheit. Die Ermittler glauben dem Mörder auf der Spur zu sein, doch die Festnahme endet als blutiges Fiasko. Zwei Polizisten werden erschossen, der leitende Kommissar, Zhang Zili (Liao Fan) kommt nur knapp mit dem Leben davon, muss seinen Dienst quittieren. Der Fall bleibt unaufgeklärt. Noch kurz zuvor sah der Zuschauer den glücklosen Detektiv auf einem Hotelbett zwischen Spielkarten und wutdurchtränkter Leidenschaft mit seiner Frau: das Abschiedsritual einer zerstörten Ehe. Am Bahnhof die letzte Umarmung, sie gleicht einem tödlichen Angriff und Zhang mehr einem Täter als dem Vertreter von Recht oder Ordnung. Ein Film Noir von abgründiger Schönheit.