„20.000 Days on Earth”. Das unwiderstehliche Universum des Nick Cave“
- Geschrieben von Anna Grillet -
Ein Dokumentarfilm getarnt als bunt schillernder Neo-Noir. Oder umgekehrt?
Wahrlich ein Meisterwerk, in dem Wirklichkeit und Fiktion ständig die Rollen tauschen.
Es ist der 20.000ste Tag im Leben des legendären Rockpoeten: Er beginnt mit dem Wecker-Klingeln und endet mitten in seiner Seele. Die Regisseure Iain Forsyth und Jane Pollard entführen den Zuschauer auf eine atemberaubende audiovisuelle Exkursion durch Zeit und Raum. Unerbittlich tippt der australische Musiker auf seiner kleinen strahlend blauen Schreibmaschine vor sich hin.
Brighton wurde die Wahlheimat des gefeierten Singer-Songwriters, Komponisten, Schriftstellers und Drehbuchautors. Der ewige Regen ließ ihn anfangs fast verzweifeln. Und so begann er ein Wettertagebuch zu führen, das versöhnte ihn nicht nur mit dem englischen Klima, das regnerische Grau gibt auch dem Dokudrama einen besonderen Zauber und dem neuen Album sein Thema: „Push the Sky Away”. Nick Cave spielt Nick Cave. Nur jemand wie er kann Woche für Woche, Jahr für Jahr, Wolken und Sturm jene melancholisch skurrilen Weisheiten entlocken. Die Eintragungen wurden lediglich durch die Geburt seiner Zwillinge für eine Weile unterbrochen.
Der Frontmann von The Bad Seeds gilt als extrem kamerascheu, davon ist hier nichts zu spüren. Nick Cave in der Praxis des renommierten Psychoanalytikers Darian Leader steht Rede und Antwort, erzählt von Kindheit und Jugend, dem frühen Tod des Vaters. Die Liebe zu Vladimir Nabokov hat er ganz offensichtlich von ihm geerbt. Ob er das Gefühl hat ein Außenseiter zu sein? Frühste Erinnerungen an einen weiblichen Körper? Die sind sympathisch unspektakulär. Später ein kurzer Ausflug als Teenager in Mädchenkleidern. Seine größte Angst? „Nicht mehr tun können, was ich tue,” das erfüllt ihn weniger mit Furcht, aber der Verlust des Gedächtnis. Der Analytiker hakt nach. „Erinnerungen sind das, was wir sind, unsere Seele, der eigentliche Grund unserer Existenz,” erklärt der Protagonist. Sich selbst bezeichnet er als „Kannibalen”, will heißen einer, der sein Leben ausschlachtet und auch das seiner Frau. Vielleicht ist es das Geheimnis jenes unerschöpflichen betörenden Talents: Was immer Cave erlebt, er muss es umsetzen in Kompositionen, Texte, Performance. „20.000 Days on Earth” ist weniger Porträt als Meditation über die Kunst des Erzählens.
Nicht ohne Grund verweist der heute 57jährige Rockpoet den Zuschauer auf das Zitat Pablo Picassos: „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lässt”. Und so fährt er mit seinem alten schwarzen Jaguar über regennasse Straßen, manchmal allein, meist aber sitzt einer seiner früheren Weggefährten neben oder hinter ihm. Sie tauchen auf wie Visionen, Tagträume, um sich dann wieder aufzulösen ähnlich einer Halluzination: Blixa Bargeld war 20 Jahre lang Gitarrist in Nicks Band The Bad Seeds. Der Frontmann von Einstürzende Neubauten gesteht ihm hier zum ersten Mal, warum er damals 2003 plötzlich ausgestiegen ist. Gleichzeitig eine Ehe führen und in zwei Bands spielen, ging über seine Kräfte. Der britische Schauspieler Ray Winstone war der Captain in John Hillcoats Anti-Western „The Proposition” (2006), für den Cave das Drehbuch schrieb. Die beiden sprechen über das Älterwerden, was es bedeutet auf der Bühne zu stehen. Unglaublich schön die Szene mit Kylie Minogue, wenn der Wagen durch die Nacht gleitet. Blickkontakt nur über die den Vorderspiegel, beide verdanken einander viel. Die leidenschaftlich-düstre Ballade „Where the Wild Roses Grow“ (1995) wurde Caves einziger Mainstreamhit und veränderte das Image der jungen australischen Sängerin, die nun auch von Musikkritikern ernst genommen wurde.
„20.000 Days on Earth” ist ein faszinierendes Kaleidoskop ästhetisch virtuoser Momentaufnahmen, Entdeckungen, Reflektionen, Einsichten und Songs. Mit herkömmlichen Biopics oder Musikdokus hat das kaum etwas gemeinsam, eher besteht eine geistige Verwandtschaft zu David Cronenbergs „Cosmopolis” (2012) oder zu Jim Jarmusch’ leicht autobiographischem Vampir-Epos „Only Lovers Left Alive” (2013). Auch dort geht es um Kreativität und Ausnahmetalente. Nur Nick Cave ist keiner, der sich im Dunkel verkriecht, die Bühne, Licht, Scheinwerfer waren immer schon sein Leben: „Die Momente, wenn das Herz einen Gang höher schaltet”. Er inszeniert sich selbst, aber mit einer so frappierenden Lässigkeit, dass es trotzdem als authentisch überkommt. Er ist das Bindeglied zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Seiner genialen skurrilen Ironie können wir uns kaum verweigern, auch wenn wir kein Fan von ihm wären. Seine poetischen Metaphern prägen den Film so wie sonst seine Songs. Die Bilder von Iain Forsyth und Jane Pollard nehmen die melancholisch spirituellen Texte in sich auf, ihr Rhythmus verschmilzt mit dem der Musik, um dann wieder wie in Wellenbewegungen zur (scheinbaren) Realität zurückzukehren. Da sitzt Nick Cave vor dem Fernseher mit seinen beiden Söhnen, isst Pizza aus der Schachtel und schaut „Scarface”. Auf den eventuellen Vorwurf der Eitelkeit scheint er gefasst: „I was always a kind of ostentatious bastard” („Ich war immer eine Art prahlerischer Mistkerl”). Schon seit Jahren arbeitet er mit dem berühmten Künstlerduo Iain & Jane zusammen. Ihre experimentellen Kreationen sind Nachstellungen, Neuinszenierungen einst realer Events. Sie verbinden Elemente aus der Performance Art mit Musik. Forsyth und Pollard etablierten das „Reenactment” als Stilmittel innerhalb der zeitgenössischen Kunstszene. Ihren internationalen Durchbruch hatten sie mit der akribischen „Live-Re-Creation” von David Bowies finalem Auftritt als Ziggy Stardust.
Dieser magische fiktive Tag wird für Protagonist und Zuschauer zur detektivischen Spurensuche nach dem Geheimnis der Kreativität. Tiefgründig Philosophisches übers Songwriting vermischt sich mit amüsant Anekdotischem. Nick Cave, der immer Rastlose, diskutiert am Küchentisch mit seinem langjährigen Bandkollegen Warren Ellis über legendäre Gigs, wie Nina Simone ihr Kaugummi auf die Bühne klebte und dann plötzlich aus sich herauskam, das Publikum zum Rasen brachte. „Mit Dir habe ich öfter zusammen gegessen als mit meiner Frau”, verkündet Cave, der Freund steht derweil am Herd und kocht. Die Proben zu dem Album „Push the Sky away” ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den Film. Es ist das Kinodebüt von Forsyth und Pollard. Mit liebevoller Präzision und untrügerischem Stilgefühl filmen sie die kleinen schrulligen Kuriosa und alten Fotos aus dem Universum des Rockpoeten. Jedes Stück hat nicht nur wundervollen Vintage Charme sondern auch seine ganz eigene Geschichte. Kameramann Erik Wilson lässt Himmel und Meer als atmosphärischen Spiegel des Innenlebens von Nick Cave am Ende zu einer universellen Schöpfungsgeschichte werden. Ob am Klavier oder der Schreibmaschine, als Gesprächspartner oder Voice-Over, im Aufnahmestudio oder bei seiner elektrisierende Live-Performance in der Sydney Opera Hall, die Energie des Musikers scheint unerschöpflich. Sein Charisma ist bestechend und jene dunkle Stimme immer wieder seltsam betörend: „I’m transforming, I’m vibrating, I’m glowing, I’m flying, look at me.”
Originaltitel: 20.000 Days on Earth
Regie: Iain Forsyth, Jane Pollard
Buch: Iain Forsyth, Jane Pollard, Nick Cave
Protagonisten: Nick Cave, Warren Ellis, Darian Leader, Ray Winstone, Blixa Bargeld, Kylie Minogue, Susie Blick
Produktionsland: Großbritannien, 2014 Länge: 96 Min.
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 16. Oktober 2014
Fotos & Trailer: Copyright 20.000 Days on Earth
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