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Die 14. Ausgabe des Festivals für zeitgenössische Kunst Survival Kit in Lettlands Hauptstadt Riga lädt zu einem „Markt zur Integration“ ein – und erinnert in vielen Bereichen an die Zeit afrikanischer Gaststudenten in der Sowjetunion.

„Kunst nur um ihrer selbst Willen – das ist nicht mein Anspruch“ meint Solvita Krese. Die Kulturmanagerin glaubt daran, dass Kunst etwas in der Gesellschaft bewegen kann und muss „und wenn es nur bei einem Einzelnen ist“.

 

Die ‚integrative Gesellschaft‘ ist Thema der 14. Ausgabe des von ihr gegründeten Festivals mit dem diesjährigen Untertitel Long-Distance Friendships, also Fernbeziehungen. Thema des letztjährigen Festivals war noch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Obwohl dieser nach wie vor das relevanteste Thema der Region ist, kommt er diesmal nur am Rande vor.

 

Der Festivalort ist diesmal ein heimlicher Star der Hauptausstellung. Der eklektizistische Milchpavillon des Livland Marktes (Vidzemes/ Matısa Tirgus), ein Werk des damaligen Stadtbaumeisters Reinhold Schmäling aus dem Jahr 1902, wirkt selbst leergeräumt schon wie eine Kunstinstallation. Der Markt ist der älteste in Riga.

 

Vidzemes tirgus F Hofmanis

Vidzeme Tirgus, Details des Ausstellungsortes. Foto: Reinis Hofmanis. Courtesy: Latvian Centre for Contemporary Art

 

„Einer unserer schönsten Orte, aber auch gefährlich, denn da muss sich die Kunst erst behaupten, um mehr als dekoratives Beiwerk zu sein“ weiß Solvita Krese.

 

Den Einstieg in das Thema Fernbeziehungen und Integration bietet ein Rückblick auf die afrikanischen Gaststudenten seit den 1960er Jahren an ausgewählten Lehrstühlen des Ostblocks, darunter dem Institut für Luftfahrt in Riga. Kontakte mit der Bevölkerung waren untersagt. So blieben die afrikanischen Studenten für die meisten Letten mysteriöse Fremde. Umso spannender sind für lettische, aber auch internationale Besucher Einblicke in die Lebenswelt der damaligen Gaststudenten.

 

Die lettische Fotografin Inga Erdmane traf zufällig bei einer Reise nach Sansibar einen dieser ehemaligen Gaststudenten, der ihr seine schwarz-weiß-Fotografien aus der Rigaer Zeit überließ, die jetzt auf die Keramikfliesen eines Marktstandes geklebt sind. Ein Raum ist einem der Aufenthaltsräume der damaligen Unterkünfte nachgeahmt. In Dauerschleife laufen alte private Video-Aufnahmen der einzigen Band der Gaststudenten, „Los Amigos“, die auch lettische Lieder mit upbeat-Synkopen des Ska und Reggae partytauglich für ihre Parties machten. Nach dem Ende der Sowjetunion fanden sich die Gaststudenten plötzlich im luftleeren Raum. Die meisten kehrten in den Wirren nach Hause zurück, geblieben sind aber deren lettische Partnerinnen mit den gemeinsamen Kindern. „Sie müssen sich immer wieder anhören, dass sie keine echten Letten sind“ beklagt Solvita Krese, „selbst wenn sie hier geboren sind, lettische Philologie studiert haben und einem lettischen Chor singen“.

 

Inga Erdmane F Florian Maass

Inga Erdmane. Foto: Florian Maaß

 

Der alles überschattende Umgang mit dem russischsprachigen Viertel der Gesellschaft lässt im öffentlichen Bewusstsein wenig Raum für die Anliegen weiterer Minderheiten. Survival Kit weist den Weg zu einer gelungenen, emphatischen Integration. Aktuell kommen die Einwanderer, meist auch als Studenten, eher aus Indien. Anders als damals die afrikanischen Studenten sehen etliche ihre Zukunft in Lettland.

Die eigene historische Erfahrung könnte der Anknüpfpunkt einer gelungenen Integration sein. Die Letten sind bis heute selber Auswanderer und waren über Jahrhunderte kolonialisiert: von deutschen Kreuzrittern, Dänen und Schweden und immer wieder Russen.

 

Die Erinnerung an die Sowjetzeit, in der gefühlt aus jeder lettischen Familie ein Angehöriger nach Sibirien verschleppt wurde, prägt nach wie vor das historische Bewusstsein. Vom Goethe-Institut gefördert, erkundete im Sommer das LCCA-Team mit einer bunt gemischten Reisegruppe, darunter etwa der Sozialwissenschaftler Martins Kaprans, der seit Meinungsumfragen in der russischsprachigen Community durchführt, die Stimmung in der lettisch-belarussische Grenzstadt Piedruja. Am 23. September diskutiert Kaprans mit anderen Teilnehmern die Eindrücke und den Stand des ‚lettisch-russischen Zusammenlebens‘.

 

Kuenstler und Kuratorin F Florian Maass

Künstler und Kuratorinnen. Foto: Florian Maaß

 

Besonders gut entfalten sich hängende Kunstwerke in der hohen Halle des Marktbaus mit den weißen Kacheln. Etwa die luftigen Batik-Stoffbahnen mit weiblichen Fruchtbarkeitszeichnungen von Adéla Součková. Oder die kopfüber hängenden verschlissenen Stühle von Jeanne Kamptchouang. Sie warten darauf, in der Werkstatt daneben recycelt zu werden. „Die Stühle, das sind wir“ meint der Künstler. Sie sollen die Menschen symbolisieren, an denen wir auch alltäglich vorbeigehen, ohne sie zu beachten. Wie den umfunktionierten Stühlen sollten wir ihnen in neuem Kontext Beachtung schenken, sie neu erstrahlen lassen, so die frohe Botschaft. Ein Wandbild des mosambikanischen Street Art-Malers Isaac Zavale, der in Berlin und Johannesburg lebt, sieht aus, als wäre es immer schon an den Wänden des Milchpavillons. Über mehrere, abgetrennte Verkaufsstände am Hallenrand verteilt erzählt seine Comic-Geschichte „Jabu goes to Joburg“ dazu in einfach gehaltenen Zeichnungen einen Raubmord wegen italienischer Marken-Klamotten. Zavales Geschichte erschien in einem für Survival Kit erstellten Sonderausgabe des großartigen Rigaer Comic-Magazins kuš!, gegründet vom Schweizer David Schilter.

 

Ein Schrein aus handgefertigten Kreppblumen von Ilona Nemeth mit eingesteckten kleinen Figuren und alten Kongressfotos erinnert an die strenge Reglementierung und den steifen Formalismus des Austauschs der Sowjetunion mit jungen Staaten Afrikas und Asiens, bei dem Kongresse und Empfänge eine wichtige Rolle spielten. Die Farben und Form der Blumengebinde zur Begrüßung wurden ebenso streng reguliert wie die Bruderküsse.

Nicht alles ist streng dem Thema untergeordnet. Liene Pavlovska arbeitet mit Holzarbeiten ihres Onkels, der im lettischen Adazi sowjetische Souvenirs wie Lenin-Büsten schnitzte, am Feierabend dann heimlich christliche Motive. Methodisch originell bastelte Evita Vasiljeva Südfrüchte als Architektur-Modelle, in deren Weg auf einen Markt wie dem Vidzemes Tirgus sie sich einfühlt und die sie als Teilnehmer eines Nordost-Süd-Dialogs imaginiert. Die südafrikanische Künstlerin Angela Ferreira schuf eine formvollendete, multi-mediale Hommage an ihr künstlerisches Vorbild, den Konstruktivisten Gustavs Klucis, von dem sie erst in Riga erfuhr, dass er gebürtiger Lette war.

 

Anna Ehrenstreit pendelt zwischen der albanischen Heimat ihrer Eltern und Berlin, wo sie aufwuchs. Gemeinsam mit afrikanisch-stämmigen Künstlern erschuf sie Musik-Videos mit einer schrillen Mischung aus Afro-Beats, HipHop, Sufi-Musik, albanischen Landschaftsaufnahmen und Black Live Matters-Videos. Am Eröffnungswochenende spann sie den Faden des asiatisch-afrikanischen Schriftsteller-Kongresses im sowjetischen Tashkent von 1956 weiter. Sie lotete mit befreundeten Afro-Künstlern und einer Roma-Aktivistin aus Lettland aus, worüber wohl heute bei einem derartigen Treffen debattiert würde. Damals waren, obwohl es formal um Kolonialismus und Rassismus ging, wirkliche politische Diskussionen untersagt.

 

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Im Zuge der 14. Edition startete auch ein auf Dauer geplantes Schulprojekt. Künstler arbeiten ein halbes Jahr unter dem Motto „Der Künstler ist anwesend“ mit Schülern in ganz unterschiedlichen Gegenden Lettlands und mit diversen künstlerischen Techniken. An einem Internat für Lernbeeinträchtigte in Jekabpils bastelten die Schüler mit der Künstlerin Anda Lāce eine große Raupe. Zur Eröffnung laufen sie damit stolz durch die umliegenden Straßen Rigas. „Die Raupe wird nur als Problem wahrgenommen. Erst den Schmetterling bestaunen wir. Dabei gibt es schöne, gefährliche, besondere Raupen. Und nicht alle werden zum Schmetterling. So ist es auch mit diesen Schülern. Ich wollte ihnen ein Symbol der eigenen Stärke geben“ meint Anda Lāce in ihrem Kiosk an der Außenwand des Milchpavillons, wo die Schulprojekte präsentiert werden.

 

Geboren aus der Krise

Eigentlich wollte die Kulturvermittlerin Krese 2009 nur ein augenzwinkerndes Zeichen der Hoffnung setzen, als sie mitten in der schwersten Wirtschaftskrise Lettlands das Festival erfand. Quasi über Nacht gingen viele Einzelhändler in der Rigaer Innenstadt bankrott und gleichzeitig brachen der Kunstszene die Subventionen und Förderer weg.

Krese setzte dem ein Überlebenspaket (Survival Kit) Kultur entgegen, sie füllte die leeren Schaufenster mit Kunst. Und traf damit einen Nerv, weit über die Kunstszene hinaus. 14 Jahre später ist aus der Sponti-Idee ein etabliertes jährliches Kunst-Event geworden. Und im Rahmen für gesellschaftliche Initiativen wie Occupy (Free Riga), das vernachlässigte und unbewohnte Bauten kenntlich macht und nutzt. Das Festival hat sich längst etabliert. Die diesjährigen Kuratorinnen sind Inga Lāce, die auch am MoMA arbeitet und Alicia Knock vom Centre Pompidou Paris. Doch Survival Kit ist eine anarchische Wundertüte geblieben.

 

Alicia Knock and Inga Lāce

Kuratoinnen Alicia Knock und Inga Lāce. Foto: Kristaps Kalns. Courtesy of Dienas Mediji.

 

Das Festival täuscht etwas über die Krise der zeitgenössischen Kunst in Lettland hinweg: Die Realisierung eines seit Langem geplanten und beschlossenen staatlichen Museums für Zeitgenössischee Kunst kommt nicht voran. „Es fehlt einfach am politischen Willen“ meint Solvita Krese, die vermutet, dass die Regierung bisher auf einen privaten Sponsor für die Umsetzung hofft. „Dass dies der falsche Weg wäre, hat sich doch bewiesen“ meint sie in Anspielung darauf, dass die Kunst-Szene jahrelang von fragwürdigem Geld lebte. Die Bad Bank ABLV war größter Kultursponsor, bis sie zurecht wegen Geldwäsche für Diktatoren und Terrororganisationen auf die US-Sanktionsliste geriet. Ihre Kunstsammlung, als Grundstein für das geplante Museum gedacht, ist seitdem versiegelt. Auch die Riga Biennale RIBOCA liegt auf Eis, seit eingeladene lettische und internationale Künstler die Teilnahme ablehnten, mit Verweis auf die Finanzierung durch den Kreml-freundlichen Fischerei-Oligarchen Gennady Mirgorodsky, den Vater der Festival-Gründerin Agniya Mirgorodskaya.

 

Geblieben sind die ambitionierte Galerie für moderne Kunst KIM (Kas Ir Maksla? deutsch: Was ist Kunst?) und Solvita Kreses LCCA (Latvian Centre für Contemporary Art), der Veranstalterinstitution von Survival Kit. Während KIM eher in die Kunstszene strahlt und diese international vernetzt, möchte das LCCA mit Kunst eben auf die lettische Gesellschaft wirken. Neben der integrativen Gesellschaft ist etwa mentale Gesundheit und Kunsttherapie ein Dauerthema. Zuletzt veranstaltete LCCA eine spannende Ausstellung zum Thema ‚Depression‘ im Pauls-Stradins-Museum für Medizingeschichte, eines der beliebtesten Museen in ganz Lettland.

 

Dem sollte auch einen Besuch abstatten, wem Survival Kit dieses Jahr zu wenig zum Thema russische Aggression zu sagen hat. Krišs Salmanis‘ an Hitler erinnernder Putin-Totenkopf hängt wieder (frisch restauriert und wetterfest gemacht) am der Museumsfassade. In der Straße der ukrainischen Unabhängigkeit, direkt gegenüber der russischen Botschaft. Salmanis, regelmäßiger Survival Kit-Teilnehmer, hatte die Grafik ursprünglich als Cover des Politik-Magazins IR gedacht, bevor es in ganz groß und am bestmöglichen Ort aufgehängt zum vielleicht international bekanntesten Kunstwerk der letzten Jahre wurde.


14. Survival Kit Festival

zu besuchen bis 8. Oktober 2023

täglich außer Montag auf dem Vidzeme Markt, Brivibas Iela 90 in Riga/Lettland.

Im Anschluss geht die Hauptausstellung "Long-Distance Freindships" als 14. Biennale nach Kaunas/Litauen.

- Weitere Informationen (Survival kit)

- Weitere Informationen (kuš! Comic-Buch-Verlag)

- Weitere Informationen (14. Biennale von Kaunas)

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