Bildende Kunst
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„Wunder gibt es immer wieder“, sang Katja Ebstein 1970. Das ist schon eine Weile her, aber wie die derzeitige Ausstellung in den Deichtorhallen zeigt, soll man die Hoffnung nie aufgeben.
All zu oft waren die Deichtorhallen zu einer pragmatisch nüchternen, da preisgünstigen Ausstellungspräsentation genötigt. Was soll man machen, wenn der Etat nicht mal reicht, die Lecks im Dach zu flicken. Die von der Berliner Praxis für Ausstellung und Theorie kuratierte „Wunder“-Schau über all das, was den Menschen seit dem 4. Jahrhundert bis in die Gegenwart zum Staunen bringt, zeigt nun, was mit Hilfe einer so potenten Institution wie der Siemens Stiftung möglich ist: Ausstellungsarchitekt Roger Bundschuh entwarf eine Art Stadtlandschaft voller kubischer Räume mit teils turmhohen Türen, die spannende Sichtachsen und Bezüge zwischen den Objekten aus Kunst, Wissenschaft und Religion erlauben. Die Welt des Wunderbaren erschließt sich hier nicht nur Erwachsenen. Parallel wurde eigens eine „Kinderspur“ konzipiert, die ausschließlich den jungen Besuchern vorbehalten ist – mit Highlights, wie dem Hexenbuch der Hexe Lilli, Pan Taus Hut und sämtlichen Harry-Potter-Zauberstäben. So wundervoll können Ausstellungen sein, wenn entsprechend Geld fließt.

Ein durchlöchertes, phallisches Ungetüm aus Eisen empfängt den Besucher am Eingang. Nein, keine zeitgenössische Skulptur, sondern die Spitze einer V2, der ersten deutschen Großrakete und zerstörerischen „Wunderwaffe“, mit der die Nazis den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen hofften. Gleich daneben hängt Andreas Gurskys, vor eifrigen Mechanikern nur so wimmelnde Fotografie „Formel 1 Boxerstopp“ von 2007. Ein paar Schritte weiter stößt man auf eine Vitrine mit Händen aus Gips, die sich angeblich freundliche Geister während einer spiritistischen Sitzung 1929 haben abnehmen lassen. Und noch ein paar Schritte weiter ist der Pokal der Fußball-WM von 1954 ausgestellt – jenes legendären Nachkriegsspiels zwischen Deutschland und Ungarn in der Schweiz, das als „Wunder von Bern“ Geschichte schrieb.

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Die genannten Beispiele zeigen bereits deutlich, wie breit der Begriff „Wunder“ in dieser Ausstellung gefasst ist. Für Kurator Daniel Tyradellis ist das Wunder „eine Öffnung in der Welt“ und „fast überall dort zu finden, wo es um Versprechen geht“. Dementsprechend wertet er nicht zwischen technischen Innovationen, religiösen Wundern oder billigem Hokuspokus, sondern stellt vielmehr die Bilder der weinenden Madonna von Syracrus und die Abdrücke der Stigmata am Kopf der selig gesprochenen Ordensschwester Anna Katharina Emmerick gleichberechtigt neben verbogene Löffel von Uri Geller, die gemütlich dicken Gedanken-Blasen (Mind Bubbles) von Erwin Wurm oder die Nebelkammer des Deutschen Elektronen-Synchrotons Desy, die subatomare Teilchen sichtbar macht.

Tyradellis will damit einerseits die Komplexität des Themas veranschaulichen, andererseits überkommene Sichtweisen in Frage stellen. Erst, wenn man die eingeübten Denkschablonen abgelegt hat, so der Kurator, sei man fähig, Wunder überhaupt wahrnehmen zu können. Kinder haben deshalb per se einen großen Vorsprung in dieser Ausstellung, die nicht zuletzt deutlich macht, wie eng die abendländische Bildtradition - und damit die Kunstgeschichte der westlichen Welt - mit dem Wesen des Wunders verbunden ist. Die katholische Kirche hat von jeher das Bild (vera icon) als Beweis für die Wunder Jesu, insbesondere dessen Auferstehung, herangezogen. Man denke nur an das Turiner Grabtuch, von dem hier eine Mappe mit Kupfertiefdrucken zu sehen ist. Nicht zu vergessen die fürstlichen Wunderkammern der Spätrenaissance, aus denen sich später unsere Museen entwickelten. Hier waren Artefakte und Naturalien noch einhellig versammelt. Kostbare Spieluhren neben Narwalzähnen, Goldschmiedearbeiten neben Korallen und Bergkristallen, Tierpräparate neben chirurgischen Instrumenten und Büchern über Alchemie.
Keine Frage: Die „Wunder“-Schau in den Deichtorhallen hat das Ur-Museum zu neuem Leben erweckt.

Die Nacht der Wunder
Am Freitag, den 11. November steht die Nacht ganz im Zeichen der Ausstellung WUNDER: von 19 bis 23 Uhr öffnen wir die Ausstellung für Nachtschwärmer und alle, die noch nicht früh ins Bett müssen. Ein umfangreiches Programm mit Zauberkunst und Aktionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene erwartet Sie in der Ausstellung.

Freuen Sie sich auf einen besonderen Workshop sowie spezielle Kinder- und Jugendführungen. Für Erwachsene finden den ganzen Abend regelmäßige Führungen durch die Ausstellung statt. Ein ganz besonderes Highlight der NACHT DER WUNDER werden die Auftritte des Zauberers Jan Logemann (Deutscher Meister der Kartenkunst) sein, der Jung und Alt in der Ausstellung mit seinen wundersamen Tricks verblüffen wird. Außerdem erklärt Ihnen das Deutsche Zusatzstoffmuseum in einer eigens zur Nacht der Wunder eingerichteten "Geruchsbar" zu welchen Geschmacksverirrungen die Wunderbeere führt und warum der Müsliriegel nach Banane schmeckt.

Eine Anmeldung ist nicht erforderlich, Kinder und Jugendliche haben freien Eintritt. Regulärer Eintritt: 9 Euro, ermäßigt: 6 Euro.
Weitere Informationen finden Sie auf www.wunder-ausstellung.de
„Wunder“, bis 5.2.2012, Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1-2, 20095 Hamburg.


Bildnachweise:
Galerie:
01. © Henning Rogge / Deichtorhallen
02. © Fiona Tan. Courtesy of Frith Street Gallery, London
03. © Katharina Sieverding, VG Bild-Kunst Foto: © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst
04. "Wunderwaffe" V2
05. Der Koloss von Rhodos das Sonnenbild, das zweite Wunderwerk der Welt, 1760, Motiv für einen Guckkasten, Sammlung Werner Nekes, Mülheim/Ruhr.
06. Paul Nougé: La naissance de l’objet aus der Serie Subversion des images, 1929-1930.
07. James Turrell: Afrum pale blue, 1969.
08. Hl. Nikolaus aus der Nikolaikirche in Billwerder, um 1520, unbekannter norddeutscher, Museum für Hamburgische Geschichte.
09. Fetisch: Nkisi nkondi. Anfang 20. Jh., Rautenstrauch-Joest-Museum – Kulturen der Welt, Köln.
10. Videostill aus Gespräche über Wunder, Kinder kommentieren Exponate der Ausstellung.

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