Bildende Kunst

Man soll es nicht für möglich halten, aber es gibt in der Kunstgeschichte immer noch Schätze zu heben. In den vergangenen 50 Jahren schien die Surrealistin Toyen (1902-1980) in der Versenkung verschwunden. Nun präsentiert die Hamburger Kunsthalle „die erste Einzelausstellung der bedeutendsten und einflussreichsten tschechischen Künstlerin des 20. Jahrhunderts“ in Deutschland. Eine Entdeckung!

 

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Nicht eine der bedeutendsten Künstlerinnen – Nein! Als „die bedeutendste tschechische Künstlerin des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen Museumskurator*innen heute Marie Cerminová alias Toyen. Wer war diese Künstlerin, der nach einer Ausstellung in der Nationalgalerie in Prag, Wallenstein-Reithalle (Valdštejnská jízdárna) nun die Hamburger Kunsthalle mit einer beeindruckend umfangreichen und hochkarätigen Retrospektive von mehr als 350 Exponaten, Bildern, Zeichnungen, Collagen und Buchillustrationen, den Platz in der Kunstgeschichte sichern will, der ihr gebührt? Stark, unangepasst, antifaschistisch, reiselustig und außerordentlich talentiert.

 

1918, mit 17 Jahren, verlässt Marie das Elternhaus, um in Prag Kunst zu studieren. Fünf Jahre später, nach langen Reisen durch Frankreich, Italien und Jugoslawien, wird sie Mitglied der Prager Künstlergruppe Devetsil und nimmt das geschlechtsneutrale Pseudonym Toyen an (Abkürzung des französischen „Citoyen“, Bürger).

 

Die chronologisch geordnete Ausstellung beginnt bei den frühen Zirkus- und Theaterszenen, die in ihrem naiven Duktus an Henri Rousseau erinnern. Dann folgt eine kurze konstruktivistische Phase. Aber bald schon dominieren in Toyens großformatigen, starkfarbigen Bildern bizarre, rätselhaft-amorphe Formen und Bildfindungen. Unheimliche Metamorphosen und Transformationen, die auf das Unbewusste zielen, existenzielle Ängste beschwören, aber auch um Erotik und Alchemie kreisen.

 

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Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers hat zur jeweiligen Phase Werke des surrealistischen Freundeskreises gegenübergestellt. Bilder von Max Ernst, Paul Klee, Salvador Dali, Yves Tangui, René Magritte, Man Ray und anderen, die deutlich machen, wie eng der Austausch zwischen der tschechischen Künstlerin und ihren französischen Kollegen war. Als Gründungsmitglied der tschechischen Surrealist*innen-Gruppe war Toyen ab 1934 eine zentrale Figur der internationalen Bewegung, sie schlug die Brücke zwischen Prag und Paris. „Von jenem Prag, das Apollinaire besungen hat, und von seiner wunderbaren Brücke, die vom Vergangenen ins Ewige führte…. was bleibt uns von all dem? Es bleibt uns Toyen“, schrieb Breton 1953, der zeitlebens ihr wichtigster Freund war.

 

Es bleibt Toyen? Fast wäre es anders gekommen. Unvorstellbar, dass die Kunstwelt über 50 Jahre das Werk eines Salvador Dali oder Max Ernst „vergessen“ hätte. Aber als Frau, dazu noch als Exilantin (Toyen ging, nach Jahren im Untergrund während des Krieges, 1947 ins Pariser Exil, wo sie 1980 völlig verarmt starb), ist dieses Schicksal leider nicht ungewöhnlich. Die Kunstwelt war und ist männerdominiert, aber es gab noch einen anderen Grund, warum Toyen in den letzten 20 Jahren ihres Lebens selbst in Fachkreisen vergessen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg, während des „Kalten Kriegs“ zwischen Ost und West, wurden die Surrealisten in der Kunstwelt zunehmend angefeindet. Schon in den 50er Jahren spielte die Gruppe um André Breton kaum noch eine Rolle, zumal sich die Kunstwelt nun auf Amerika, auf den Abstrakten Expressionismus und Jackson Pollocks „Drippings“ fokussierte – ohne wahrzunehmen, dass Toyen, „die Baronin“, wie sie von den Pariser Surrealisten-Freunden liebe- und respektvoll genannt wurde“, schon Jahrzehnte zuvor Sand in die Farbe mischte und mit allen möglichen Medien experimentiere. In Deutschland hatte zwar der Hamburger Kunstverein 1969 noch eine große Surrealisten-Schau gezeigt, (darunter auch Bilder von Toyen), doch ihre Zeit war endgültig vorbei. Im gleichen Jahr lösten sich die Pariser Gruppe auf. Die Männer hatten ihren Ruhm bereits zementiert, die Frauen versanken.

 

Doch nun sorgen Annabelle Görgen-Lammers, Anna Bravdová (Prager Nationalgalerie) und die Schriftstellerin Annie Le Brun, Co-Kuratorin der Schau (ab März 2022) im Pariser Musée d’Art Moderne in einer einzigartigen Kooperation dafür, dass die Öffentlichkeit Toyens Werk (wieder)-entdecken kann. Alle drei haben auch den hervorragenden Katalog zu verantworten, der Leben und Werk en Detail aufblättert. Eine großartige Leistung! Kein Zweifel: Diese Ausstellung wird Kunstgeschichte schreiben.


Toyen

Zu sehen bis 13. Feb 2022 in der

Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, 2099 Hamburg (2. OG; „Haspa-Galerie“)

Kuratorinnen: Dr. Annabelle Görgen-Lammers (Hamburger Kunsthalle), Annie Le Brun (Musée d’art moderne de la ville de Paris), Dr. Anna Pravdova (National Gallery Prague)

Kuratorische Asstistenz: Ifee Tack unter Mitarbeit von Alexandra Pietroch

Eintrittspreise: Di. – Fr. 14 €, erm. 8 €; Sa., So. 16 €, erm. 8 €

Weitere Informationen

 

YouTube-Video:
Ausstellungsfilm TOYEN

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