Ausgestorbene Arkaden, menschenleere Plätze, leblose Körper. Die Koinzidenz war nicht beabsichtigt, doch sie ist frappierend. „Die magische Wirklichkeit“ Giorgio de Chiricos in der Hamburger Kunsthalle erscheint als erschreckendes Abbild des lähmenden Stillstands unserer Zeit.
Immerhin gibt es diese fantastische, 80 Werke aus 50 Sammlungen umfassende Ausstellung derzeit in einem Livestream zu sehen.
„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins“. Leise und eindringlich rieseln Nietzsches Worte aus „Also sprach Zarathustra“ ins Ohr, während der Blick von der Empore des Hubertus Wald Forums auf zwei Hauptwerke des Begründers der Pittura Metafisica fällt: „Die Freuden des Dichters“ (1912) und „Der Lohn des Wahrsagers“ (1913).
Als Giorgio de Chirico (1888-1978), Sohn einer griechisch-italienischen Adelsfamilie, diese gleichermaßen verrätselten wie melancholiegetränkten Stadtlandschaften schuf, hatte er sein Studium an der Münchner Kuntakademie längst hinter sich und war von den Leitgedanken des deutschen Chef-Philosopen, der „Ewigen Wiederkunft“ und der „Ewigen Gegenwart“ durchdrungen. Nach Nietzsches Vorstellung schritt die Zeit nicht voran. Sie war vielmehr ein ewiger Kreislauf, in dem Vergangenheit und Zukunft, ein jedes Ding, enthalten waren und endlos wiederkehren mussten. Veränderungen waren in diesem Sinne lediglich Vertiefungen.
„Das gesamte künstlerische Schaffen de Chiricos gründet auf diesen Denkfiguren“, schreibt Paolo Baldacci, Gründer und Präsident des Mailänder Archivio dell’Arte Metafisica, in dem mit Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers herausgegebenen Katalog. „Aus ihnen erklären sich… der Eindruck von Unbewegtheit und Geheimnis“.
Immer wieder sind auf den Bildern Uhren zu sehen, deren Zeitanzeige mit dem gleißenden Licht und dem hartem Schattenfall nicht zusammenpassen will. Genau so ergeht es dem Wind, der Fahnen, Palmen und den Dampf der im Hintergrund auftauchenden Lokomotiven (Sinnbild des Fortschritts, aber auch Hommage an den Vater, einem Eisenbahningenieur), in unterschiedliche Richtungen schickt. Dazu holzschnittartig gezeichnete Versatzstücke: Artischocken vor einem Kanonenrohr oder ein weiblicher Torso mit einer Bananenstaude vor düsteren Arkaden. Befremdliche Kompositionen, die de Chiricos Stadtlandtschaften eine einzigartige Magie und Intensität verleihen und das Konzept der Zeit wie des Raumes immer wieder hinterfragen.
Doch bevor man eintaucht in die Vieldeutigkeit und Virtuosität der 1909 bis 1919 entstandenen metaphysischen Meisterwerke, bevor man de Chiricos Begegnung mit der französischen Avantgarde und seinen Einfluss auf Kollegen wie Carlo Carrà oder Giorgio Morandi entdeckt, geht es ersteinmal in den Raum der Spätromantiker.
Diesen Raum sollte man nicht übergehen, denn hier wird klar, welch überragende Bedeutung Max Klinger (1857-1920) und Arnold Blöcklin (1827-1901) für de Chirico hatten, zwei Symbolisten, die sich schon Mitte des 19. Jahrhunderts intensiv mit Übersinnlichkeit und Themen der griechischen Mythologie auseinandersetzten. Böcklin und Klinger standen am Anfang von de Chiricos Schaffen und zu ihnen kehrte er im Alterswerk zurück. Die Gegenüberstellung der drei Künstler anhand zahlreicher Klinger- und Böklin-Werke aus dem reichen Bestand der Hamburger Kunsthalle verdeutlichen die erstaunlich engen Bezüge de Chiricos zu den beiden Spätromantikern. Und das gehört zu den großen Überraschungen dieser fantastischen Ausstellung.
Giorgio de Chirico, „Magische Wirklichkeit“
Zu sehen bis 24. Mai 2021
In der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg.
Livestream und digitale Führungen, sowie Infos zu Öffnunszeiten und Corona-Verordnungen unter www.hamburger-kunsthalle.de
Hier finden Sie Filme zur Ausstellung
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