Bildende Kunst
Dr. Zuhause. K.U.N.S.T. Erzliebe – Großmutter Macht. Jonathan Meese in Lübeck

Wie sieht es aus, wenn sich eine ganze Stadt in ein Gesamtkunstwerk verwandelt? Wenn ganz große Kunst sich über alles legt? Wenn die Sonne eines einsamen Geistes über dem grauen Alltag einer Provinzstadt aufgeht? Genau in diesen Tagen kann man das erfahren, denn Jonathan Meese, der weltberühmte Künstler aus Ahrensburg, hat sich aufgemacht, die Stadt Lübeck mit fünf Ausstellungen an fünf verschiedenen Orten zu bespielen.

Und danach wird nichts so sein wie vorher.

Es ist ein Riesenprojekt, für das sich nicht weniger als fünf Institutionen zusammentun mussten: zunächst die Kulturkirche St. Petri, in der seit Sonntag eine große Installation gezeigt wird, sowie das Günter Grass-Haus, das gleichzeitig einen Blick auf die Biografie des Künstlers wirft. Am 30. März geht es im Overbeck-Pavillon im Garten des Behnhauses und dazu in St. Annen weiter, und endlich wird das große Projekt Anfang Mai in den Fabrikhallen der Kulturwerft mit einer Performance des Meisters seinen Abschluss finden.

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Fünf Events an fünf Orten… Es versteht sich von selbst, dass ihre Finanzierung kein kleines Problem gewesen ist, aber wenn Kulturpolitiker und -funktionäre an einem Strang ziehen, und wenn alle etwas geben, dann kann man ein solches Projekt stemmen. Die Lübecker Possehl-Stiftung, die Kulturstiftungen des Bundes und des Landes und noch private Geldgeber dazu waren bereit, ihr Scherflein zu geben. Aber selbstverständlich nicht für irgendwen, sondern es musste ganz unbedingt jemand mit einem Namen sein, ein Künstler und tiefer Denker. Schließlich ging es darum, das Lübecker Image aufzuhübschen und es vom Geruch des Spießigen und Muffigen zu befreien.

Der Direktor der Lübecker Kulturstiftung, Prof. Wißkirchen, hat am 15. Februar im Schleswig-Holstein-Magazin die Motive für die Verpflichtung des Herrn Meese in schöner Offenheit ausgeplaudert. „Diese Radikalität, diese Maßlosigkeit, dass Kunst eben das einzige ist, das bleibt gegenüber der Religion, gegenüber der Ideologie, und das in dieser Stadt, das war uns schon wichtig, das ist schon ein Statement, das die Stadt damit macht.“ Nein, Lübeck sei keine spießige Stadt, so fuhr er fort, sondern „anders, und um zu zeigen, daß wir anders sind, braucht es einen starken Gegenreiz, und das ist, glaube ich, Jonathan Meese.“

St. Petri ist eine gotische, Palmsonntag 1942 zerstörte und ausgebrannte Kirche, die zwar wiederaufgebaut, aber niemals neu eingerichtet wurde. Heute dient sie der Kultur als ein Symbol des strengsten bilderverachtenden Protestantismus, denn es gibt kein Gestühl, und Bilder oder Wandbemalung finden sich schon einmal überhaupt nicht. „Solo verbo“ heißt auch entsprechend eine Veranstaltungsreihe. Karger kann kein Raum sein als diese an sonnigen Tagen lichtdurchflutete, blendend weiß gekalkte, ganz leere Kirche. Aber wer am 18. Februar zur Eröffnung der Meese-Ausstellung eintrudelte, der wähnte sich auf einem Trödelmarkt, denn Meese hatte mit einem 40 Tonnen-Laster allen möglichen Krempel aus Berlin herbeigekarrt und sodann, von einer Fernsehkamera beäugt, mit genialischer Geste hierhin oder dorthin geworfen oder an Leinen aufgehängt oder mit Heftzwecken irgendwie befestigt. Am 17. Februar schob sich das Publikum – 900 Personen, so schätzte die lokale Presse – ratlos durch die in das Gerümpel geschlagenen Gassen und betrachtete die unglaublichen Massen, die der Künstler in das Innere der Kirche verbracht hatte.

Über die Arbeiten des von Prof. Wißkirchen beschworenen „starken Gegenreizes“ könnte man etwa dies sagen: Seine künstlerische Praxis ist „ein Erzählen mit Dingen. In raumgreifenden Installationen kombiniert er Bilder, Objekte, Fundstücke und Artefakte zu komplexen Geschichten rund um die Themenkreise Kolonialismus, Religion und Kunst. Dabei entstehen fein- und grobmaschig verwebte Narrative, Assoziationsketten und Diskussionen um Identität und Differenz, die als kulturgeschichtliche Puzzles mit hohem kritischen Potenzial akademische Diskurse und Alltagskultur zusammenbringen.“ Diese Schilderung galt einer Installation des Afrikaners Georges Adéagbo am nämlichen Ort, aber wenn man das Thema Kolonialismus streicht, könnte man mit diesem Text praktisch jede Installation beschreiben. Jede. Und diese sowieso.

Es war natürlich Folge einer überaus rührigen Pressearbeit, dass sich das Publikum derart drängte; die Lübecker Nachrichten brachten, nachdem sie schon im Januar die „Meese-Festspiele“ angekündigt hatten, im Endspurt drei ganzseitige Artikel, und auch das Regionalfernsehen war nicht faul und berichtete mehrfach. Und zur Einstimmung konnte man am Sonntagmorgen von der hiesigen Edelfeder einen Kommentar in der Lokalzeitung über Herrn Meese lesen, in dem es unter anderem heißt: „In der Kunst muss er maßlos sein, sagt er. Tut ihm leid. Da hat er keine andere Wahl. Sonst gehen die Dinge ja nicht voran. Und wenn einer sie verflucht, verlacht, verwirft, wird der seine Gründe haben. Was natürlich in Ordnung ist. Aber es nützt ja nichts. Er muss ja weitermachen.“ Er, das ist Herr Meese, der starke Gegenreiz. Und er – die lokale Edelfeder – muss das alles aufschreiben. Tut ihm leid, geht nicht anders. Besonders, weil es ihn irritiert. Aber es geht schon. Das kann ihn nicht abhalten. Denn: „Irritation ist nicht das Schlechteste, was man von der Kunst erwarten darf. Kunst kann die Perspektive verändern.“ Eben, eben. „Aber dazu gehört auch die Bereitschaft, sich irritieren zu lassen.“ Und die darf man bei einer Provinz-Edelfeder wohl voraussetzen. Nützt ja nichts.

Hatte man endlich, solcherart eingestimmt, sich zusammen mit vielen, vielen anderen Kunstenthusiasten durch den ganzen unregelmäßig verteilten Krempel hindurch gezwängt und ein wenig umgeschaut, da wurden auch schon Reden geschwungen. Der Hausherr, Pastor Dr. Bernd Schwarze, sprach darüber, dass er, weil Vertreter der Religion, unter das von Herrn Meese so unbedingt ausgesprochene Ideologie-Verdikt („Ideologie ist Scheiße. Religion ist Scheiße.“) falle und entsprechend nicht über Kunst sprechen dürfe, was den Gottesmann aber nicht weiter zu stören schien, sondern zu einem Hinweis auf einen Aufsatz von Karl Barth motivierte, in dem das Sprechen über Gott problematisiert werde.

Nun, jemand anders hätte vielleicht gefragt, was es bedeuten soll, wenn Herr Meese die Religion eine Ideologie nennt? Was soll überhaupt eine Ideologie sein, wenn man einmal davon absieht, dass sie Scheiße ist? Was soll Kunst sein, wenn sie alles ist, natürlich die Zukunft und das, was bleibt, aber außerdem und vor allem alles, also sogar die Welt, sogar der Kosmos? Gehen die Dinge – also die Umwandlung in ein Gesamtkunstwerk – tatsächlich bis in die Unendlichkeit voran, muss Herr Meese wirklich immer weitermachen, wie es die Festredner vermuteten? Könnte es eventuell der Alkohol sein, der aus ihm spricht? Nein, der Mann scheint nicht betrunken. Also vielleicht der Wahn? Sollte man einen Arzt rufen? Oder ist es nur ein Spiel, er faselt nur so vor sich hin, weil sich gerade ein paar nette Menschen versammelt haben, die ihm ganz offensichtlich wohlgesonnen sind? Oder die nur so tun, als ob sie ihm wohlgesonnen sind, weil er ja ein starker Gegenreiz ist?

Es war der eloquente Herr Dr. Zybok von der Overbeck-Gesellschaft, der dem ergriffen lauschenden Publikum den kryptischen Titel der Ausstellung erläuterte. Er wurde, wie zuvor schon Pastor Schwarze, von dem ob der freundlichen Auslegung sehr erfreuten Meese umarmt und geherzt – man sah die adidas-gestreiften Trainingsjackenärmel sich liebevoll um den Theoretiker der nicht mehr schönen Künste und Organisator der fünf Ausstellungen schlingen –, und das Publikum freute sich auch und klatschte Beifall. „Dr. Zuhause. K.U.N.S.T. Erzliebe – Großmutter / Macht“, so nennt sich ja die Installation. Das Zuhause wurde promoviert, erläuterte Herr Dr. Zybok, weil es, das Zuhause, ihm, Herrn Meese, wichtig sei, soweit kann ich mich an die Auslegungen noch erinnern. Und die Vorsilbe „Erz“ hat wohl in dieselbe Richtung gedeutet. Auch Liebe also wichtig. Und natürlich die Kunst, weshalb er sie mit Majuskeln und Punkten dazwischen schreibe. Die Kunst sei das, was bleibe, was aber angesichts einer Installation, deren Überreste über kurz oder lang mittels eines 40 Tonnen-Lasters weggefahren und irgendwo endgelagert werden, eine recht kühne Behauptung schien.

Wie schön, dass Herr Meese in allem, was er tut, die Vorurteile des Stammtisches bedient. Stimmt es, dass ein Künstler sich selbst verwirklicht, dass man sich also einen Künstler nennen darf, sobald man sich merkwürdig verhält? Wenn man auf Herrn Meese schaut: Aber unbedingt! Die sehr langen Haare sind schon einmal etwas Besonderes, die Adidas-Trainingsjacke erinnert stark an Cindy aus Marzahn, er sagt zu und zu gern „geil“ und „Scheiße“ und kümmert sich einen feuchten Kehricht um alles Mögliche, besonders aber um Widersprüche. Überhaupt seine Kernsprüche… „Man darf“, und wer würde hier nicht spontan zustimmen, „man darf nicht zu lange nachdenken“, und keine Sekunde später heißt es „Da rattert es doch im Gehirn.“ Weil man nun doch nachdenkt, oder weil die Mechanik klappert?

Keine Frage, dass er bereitwillig in jede Kamera salutiert oder von Fotos aus allen Winkeln seiner Installation hervorschaut. Mancher Pfeiler ist mit seinen Fotos gepflastert. So hat die Ausstellung vor allem ihn selbst zum Thema, selbst dort, wo man es gar nicht vermutet. Denn man erfährt, dass die vielen, vielen Blechdosen, die einst ein stark koffeinhaltiges Getränk enthalten haben, von ihm höchstpersönlich geleert worden sind. So sind sie jetzt Kunst und damit etwas, das bleibt, jedenfalls vorläufig. Denn die Vorliebe von einem, der die Kunst liebt, nein der ihr dient – nur deshalb? –, macht sie zu etwas Besonderem. Und man erfährt, dass „Heidegger’s Trog“ auf die Vorliebe des eifrigen Lesers Meese für Herrn Heidegger hinweist. Vielleicht ist dieser Haufen also deshalb Kunst: weil sich alles um Herrn Meese dreht? Oder geht es ohne eine zusätzliche Irritation nicht? Muss Provokation unbedingt sein? Ohne Provokation wäre eine Selbstverwirklichung keine Kunst? Worin besteht eigentlich die Provokation: in der Selbstverwirklichung? Und wiederum die Selbstverwirklichung in der Provokation? Ja, da rattert es im Gehirn.

Dieser Tage darf Herr Meese ja auch unter dem Titel „Die Irrfahrten des Meese“ in der Neuen Pinakothek in München ausstellen, und über diese Installation lesen wir: „In Zeichnungen, Bildern und Skulpturen aus über 20 Jahren finden Begegnungen mit unterschiedlichsten ambivalenten Protagonisten und Situationen statt, denen der Künstler in seiner archaischsten Rolle als symbolischer Erlöser und Befreier entgegentritt. Wo endet diese Reise, auf der die Ausstellungsbesucherinnen und -besucher den beherzt provozierenden Künstler begleiten können?“ Und in einem Interview der Qualitätspresse zu seiner gescheiterten Bayreuther Parsifal-Inszenierung macht Herr Meese deutlich, worauf es ihm besonders ankommt: auf seine eigene Person. „Der Held Parsifal ist natürlich die Figur des Künstlers. Also Jonathan Meese. […] Ich bin der unbedarfte Tor.“

Ganz wichtig ist Herrn Meese aber sein Nicht-Verhältnis zu einem gewissen Personenkreis, wie er im Interview des „Schleswig-Holstein-Magazins“ erläutert. Er ist nämlich „gegen Kulturfunktionäre“ und bekräftigt noch einmal: „Ich bin gegen diese Kulturpolitiker.“ Dabei gaben sie doch nur Augenblicke zuvor zusammen eine Pressekonferenz, auf der sie öffentlich miteinander schmusten, und auch in St. Petri wird er sie in den Arm nehmen und herzen. Aber zu unserer Überraschung schätzt Herr Meese die Kulturpolitiker trotzdem nicht. „Ich will sie nicht haben.“ Auf den von einer weiblichen Stimme höflich vorgetragenen Einwand, dass er doch ohne die so wenig geliebten Kulturpolitiker gar nicht in Lübeck wäre (in meiner Übersetzung: dass ohne Kulturpolitiker keinesfalls der Rubel rollen würde, was wiederum den 40 Tonnen-Laster nicht ins Rollen gebracht hätte), antwortet er nur knapp, dies sei „ein Missverständnis.“ Und fügt noch hinzu, was er von Kulturfunktionären, die er doch eigentlich gar nicht haben will, verlangt: „Sie sollen alle der Kunst dienen.“ Also seinen Projekten. Und so will er sie dann doch haben.

„Ich“, sprach ein gewisser Zarathustra, „lehre euch den Übermenschen.“ Herr Meese sieht das ähnlich, setzt den Akzent im Interview mit dem „Kulturjournal“ vom 18. Februar aber dann doch etwas anders, denn er lehrt das Kindliche. „Wir sind Überkinder“, spricht Herr Meese und fährt fort: „Wir sind alle Übermenschen.“ Offenbar sind wir dort angekommen, wo Nietzsche erst hinwollte.

Ich bin mir nicht so sicher, dass oder ob Herr Meese wirklich so unbedarft ist, wie er sich gibt. Er stellt alles als kindliches Spiel hin und sich selbst als den großen liebenswerten Naiven, aber nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht scheint die Selbstverwirklichung ja erfreulich gut zu funktionieren.

„Dr. Zuhause: K.U.N.S.T. (Erzliebe)“

Jonathan Meese in Lübeck
Günter Grass-Haus | Overbeck Gesellschaft | St. Petri zu Lübeck | Kunsthalle · St. Annen-Museum | Kulturwerft Gollan
Längste Präsentation bis August 2019
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Header: Jonathan Meese. Foto © Kulturstiftung Hansestadt Lübeck die LÜBECKER MUSEEN / JB
Galerie:
01. Jonathan Meese. Foto © Kulturstiftung Hansestadt Lübeck die LÜBECKER MUSEEN / JB
02. - 07. Ausstellungseindrucke. Fotos: Stefan Diebitz

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