„Ich schoss auf Papa, alle Männer, bedeutende Männer, dicke Männer, meinen Bruder, die Gesellschaft, die Kirche, den Konvent, die Schule, meine Familie, meine Mutter, auf mich selbst."
Ihre Schießbilder katapultieren die französische Künstlerin Anfang der Sechzigerjahre in die Pariser Avantgarde. Für Skandale sorgen ihre Nanas, sinnliche, farbenfrohe Skulpturen mit voluminösen weiblichen Körperformen. Sie machen die Französin international berühmt und zur Ikone feministischer Kunst. Die aktuelle Ausstellung „Niki de Saint Phalle – The Big shots" im Sprengel Museum präsentiert jetzt ausgewählte Exponate ihrer künstlerischen Entwicklung von den 1960er bis in die 1990er Jahre.
Das Sprengel Museum, das erst nach Fertigstellung des Erweiterungsbaus im Juni wieder eröffnet, zeigt in der lichtdurchfluteten Halle rund zwanzig Werke aus der Sammlung des Hauses: Schießbilder, Skulpturen, Assemblagen, Nanas und Modelle für den Tarotgarten bei Garavicchio in der Toskana. Zu Niki des Saint Phalles Frühwerken gehört „Saint Sébastien or Portrait of my lover" von 1961. Die 31-Jährige nagelt ein weißes Hemd mit umgebundener Krawatte ihres Ex-Lovers auf ein schwarzes Holzbrett und wählt als Kopf eine Dartscheibe. „Ich fand Spaß daran, Pfeile nach seinem Kopf zu werfen. Es war eine erfolgreiche Therapie, und ich begann, mich von ihm zu lösen", schreibt sie 1992.
Ausgehend von ihren Assemblagen entwickelt sie im selben Jahr ihre ersten Schießbilder. Schoß sie zunächst auf sogenannte „Alte Meister" in alten Bilderrahmen, mit Gips weiß getüncht und Farbbeutel unter der Gipsfläche, entsteht mit „La mort du patriarche" eine breitschultrige Monsterfigur mit kleinem Kopf auf einer 2,50 Meter hohen schwarzen Holzplatte. Flugzeuge, Panzer und Pistolen, kleine Monster- und Drachenfiguren sowie zerbrochene Plastikpuppen und Farbdosen sind in die weiße Gipsfläche eingebettet. Nach dem Beschuss mit einem Kleinkalibergewehr läuft Farbe über das erschossene Werk: "das Gemälde blutet und stirbt" und entwickelt im Ausbluten der Farben eine eigene Dynamik. In ihren Schießbildern verarbeitet die adelige Bankierstochter und Klosterschülerin nicht nur autobiografische Erinnerungen, sondern auch ihre Aggressionen gegenüber der Politik, den bürgerlichen Normen der Gesellschaft und der Institution Kirche. Mit „Ahriman et Lucifer attaquent", ein in schwarz-grau-weiß gehaltenes Triptychon, befreit sie sich von den Dämonen der Kindheit und ihrer katholischen Erziehung.
Bei einer Ausstellung 1961 in der Pariser Galerie J fordert die Künstlerin Besucher auf, in einem gepanzerten Schießstand mit dem Gewehr auf die Farbbeutel der Gips-Reliefs und Gips-Figuren zu schießen. Ein Skandal, aber die Ausstellung verzeichnet einen Besucherrekord!
Ihre Schießaktionen, egal ob in Paris, Nizza, Amsterdam, Stockholm, London und Los Angeles, sind publikumswirksame Inszenierungen, die durch die anwesenden Fotografen für mediale Aufmerksamkeit sorgen. Teilnehmer dieser Schießhappenings, darunter Daniel Spoerri, Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Jean Tinguely, ballern abwechselnd mit einem Gewehr auf weiße Gips-Assemblagen mit Farbbeuteln. “The result doesn’t really interest me except as a document or a photograph. The only thing which really interests me is the spectacle, the event itself", so Niki de Saint Phalle wörtlich in einem Brief an Harry Mathews.
Nach den Schießbildern folgt ab 1965 ein neuer Themenkomplex: die Nanas. Fröhliche Frauenfiguren mit üppigen und runden Formen. „Plötzlich war der Schmerz vorüber. Ich stand da und machte Figuren der Freude. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich hatte einen neuen Weg eingeschlagen, ein neues Kapitel meines Lebens aufgeschlagen und das hieß Nanas." Verwendet sie zunächst mit farbigen Stoffstücken, Garn und Papiermaché überzogenen Maschendraht, arbeitet sie später mit dem Werkstoff Polyester. Ein leicht zu verarbeitendes und äußerst stabiles Material, das die Aufstellung ihrer Skulpturen unter freiem Himmel ermöglicht. Seit 1974 stehen am Leibniz-Ufer in Hannover die drei monumentalen Nanas „Sophie, Charlotte und Caroline“, ihre ersten in Deutschland realisierten Außenskulpturen. Trotz der damaligen Proteste, sind sie heute zu einem Wahrzeichen Hannovers geworden.
In Kontrast zu den düsteren Schießbildern der Schau stehen die farbenfrohen Modelle, welche Niki de Saint Phalle in den späten 1970er Jahren für ihren „Giardini dei Tarocchi", einen Skulpturengarten im Süden der Toskana, angefertigt hat. In Anlehnung an das französische Tarot-Kartenspiel, entwickelt sie mit ihrem Ehemann, dem Bildhauer Jean Tinguely, insgesamt 22 zum Teil begehbare überdimensionale Architektur-Skulpturen mit Keramiken, Spiegeln oder Glas verziert sowie Nanas, fantasievolle Skinnie-Skulpturen, Plastiken und Brunnenfiguren.
Quasi als Eyecatcher thronen zwischen den Schießbildern und den Tarot-Modellen die pink-rot-gelb-blau bemalte Nana-Figur „Gwendolyn" und ein großer Spiegelobelisk „Obélisque de miroirs" im Ausstellungsraum.
Mit der Stadt Hannover verband die französische Künstlerin eine über dreißigjährige Freundschaft: Bereits 1969 hatte Niki de Saint Phalle im Kunstverein Hannover eine große Einzelausstellung. Im November 2000 wurde die Künstlerin zur Ehrenbürgerin der niedersächsischen Landeshauptstadt ernannt. Aus diesem Anlass schenkte sie dem Sprengel Museum rund 400 ihrer Werke. Der damalige Direktor Ulrich Krempel durfte seine Lieblingsstücke auswählen, darunter Gemälde, Assemblagen, Schießbilder und Skulpturen sowie Collagen, Zeichnungen und Druckgrafik. "I am honoured and happy that the Sprengel Museum Hannover has accepted my donation. I have great admiration for the museum and a very special feeling for Hanover", so die damals 70-Jährige. Nach der Niki Charitable Art Foundation in Kalifornien verfügt das Haus damit über die zweitgrößte Sammlung.
In den Jahren 2001 bis 2003 wurde die Grotte in den Herrenhäuser Gärten nach den Plänen von Niki de Saint Phalle neu gestaltet. Die Grotte, im Mai 2003 eröffnet, ist das letzte Werk der im Mai 2002 in San Diego verstorbenen Künstlerin. Das historische Gebäude mit der klassizistischen Fassade aus dem 17. Jahrhundert, einst Bestandteil aristokratischer Gartenkultur, liegt im Gartenteil Großer Garten und umfasst drei Räume. Die achteckige Eingangshalle mit der achteckigen Säule schmücken spiral- und wellenförmige Bänder aus alternierend rot, gelb, orangefarbenen Glasmosaiken, Spiegelscherben und Kieseln. Der Blaue Raum ist der Nacht und dem Kosmos gewidmet, ein Universum aus Mosaiken in Violett, Azur und Ultramarin. Der Springbrunnen mit der Figur des elefantenköpfigen Gottes Ganesha ist umgeben von Sternen am gewölbten Himmel und tanzenden Frauenfiguren. Im Silbernen Saal dominiert der Brunnen mit der „Nana of Herrenhausen". Zahlreiche Reliefmotive, darunter eine bunte Schlange, die ein Ei umschlingt, eine schwarze Spinne, ein Delfin, Blumen, das Yin und Yang-Symbol und ein goldenes Skelett, schmücken die mit Spiegelmosaiken verzierten Wände. Durch die ornamentierten Fensteröffnungen fällt das Sonnenlicht in die Räume, reflektiert sich in unendlichen Facetten auf den Wand-Mosaiken und bringt die Grotte zum Leuchten.
„Niki de Saint Phalle - The Big shots"
Die Ausstellung zeigt interessante Aspekte aus den frühen Werken der Künstlerin, die eine der kreativsten und vielfältigsten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts ist.
Zu sehen bis zum 29. Januar 2017 im Sprengel Museum Hannover, Kurt-Schwitters-Platz, 30169 Hannover.
Die Öffnungszeiten sind Dienstag 10 - 20 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 10 - 18 Uhr, Montag geschlossen.
Weitere Informationen
Die Herrenhäuser Gärten, Herrenhäuser Straße 4, 30419 Hannover sind geöffnet:
Großer Garten 9:00 bis 20:00 Uhr
Berggarten 9:00 bis 20:00 Uhr
Grotte 9:00 bis 19:30 Uhr
Schauhäuser 9:00 bis 19:30 Uhr
Museum 11:00 bis 18:00 Uhr
Weitere Informationen
Abbildungsnachweis:
Galerie:
01. Saint Sébastien or Portrait of My Lover, 1961; Dartscheibe, Pfeil, Hemd, Krawatte, Farbe auf Holz, 100x74x15cm. Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle. Foto: Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Herling/Gwose/Werner, Sprengel Museum Hannover. © N.C.A.F. – Donation Niki de SAINT PHALLE – Sprengel Museum Hannover. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
02. La mort du patriarche, 1962; Gips, Farbe, verschiedene Objekte auf Holzplatte, 251x160x40cm. Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle. Foto: Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Herling/Gwose/Werner, Sprengel Museum Hannover
© N.C.A.F. – Donation Niki de SAINT PHALLE – Sprengel Museum Hannover. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
03. Gwendolyn, 1966-1990; Polyester, beschichtet, Farbe, auf Metallbasis
252x200x125cm. Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle. Foto: Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Herling/Gwose/Werner, Sprengel Museum Hannover. © N.C.A.F. – Donation Niki de SAINT PHALLE – Sprengel Museum Hannover. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
04. Sphinx, Modell für „Jardin des tarots”, 1978/1979; Polyester, bemalt, 71,1x71x101,6cm. Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle. Foto: Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Herling/Gwose/Werner, Sprengel Museum Hannover. © N.C.A.F. – Donation Niki de SAINT PHALLE – Sprengel Museum Hannover. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
05. La mort, Modell für „Jardin des tarots”, 1985-1990; Polyester, bemalt, 35x28x45cm. Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle. Foto: Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Herling/Gwose/Werner, Sprengel Museum Hannover. © N.C.A.F. – Donation Niki de SAINT PHALLE – Sprengel Museum Hannover. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
06. Tree of Life, Modell für „Jardin des tarots”, 1990; Polyester, bemalt, Blattgold, 40x45x31cm. Sprengel Museum Hannover, Schenkung Niki de Saint Phalle. Foto: Sprengel Museum Hannover. Fotograf: Herling/Gwose/Werner, Sprengel Museum Hannover. © N.C.A.F. – Donation Niki de SAINT PHALLE – Sprengel Museum Hannover. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
07. Saint Phalle Grotte in den Herrenhäuser Gärten. Foto: Hassan Mahramzadeh
08. Saint Phalle Grotte in den Herrenhäuser Gärten. Foto: Gwose/Herling
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