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Die Frankfurter Buchmesse und das Buch als Kulturgut

Die Frankfurter Buchmesse öffnet vom 6. bis 10. Oktober 2010 wieder ihre Tore – dieses Jahr mit dem Ehrengast Argentinien. Für das interessierte Publikum geht es vor allem um Orientierungshilfe, um in der Flut neuer Titel nicht zu ertrinken.
Wohingegen sich die Fachleute längst nicht mehr nur über die Neuerscheinungen informieren, sondern schon seit Jahren gespannt auf die technischen Schnäppchen und ultimativen Errungenschaften im elektronischen Literaturbetrieb blicken: Welches sind die diesjährigen Messe-Projekte – Stichwort „Flying Sparks“, „Frankfurt Hot Spots“ oder „StoryDrive“ – und wie funktionieren sie? Welche neuen Kreativpotenziale erschließt sich der „Crowdsourcing-Wettbewerb“? Was bietet die letzte Generation des „All-New Kindle“-Readers und welche Titel erscheinen in Deutschland transmedial, als Film, Hörbuch oder deutsches E-Book?

Abseits dieser auf beeindruckende Weise miteinander vernetzten Begleiterscheinungen stelle ich mir folgende Frage: Inwieweit reflektiert diese traditionsreiche und viel beachtete Publikums- und Fachbuchmesse überhaupt noch die Bedeutung seines Basisproduktes als Kulturgut? Nicht nur, dass die Frankfurter Buchmesse als weltweit wichtigster Handelsplatz für Bücher einen legendären, internationalen Ruf zu verteidigen hat – mit ihr meldet sich jedes Jahr auch die deutschsprachige Intelligentia wieder zu Wort und gibt Auskunft darüber, wie es um sie steht und in welcher Form Buchschaffende und Bücher vertreibende Organe Kultur verstehen und praktizieren.

Was hat es anno 2010 „kulturell“ betrachtet mit dem Gegenstand Buch auf sich, dessen Zweck heute 68 Prozent der deutschen Frauen zwar noch zu kennen scheinen (so hoch ist der statistische Anteil der Leserinnen), aber mindestens jedem zweiten deutschen Mann inzwischen unbekannt ist (weniger als 50 Prozent Männer in Deutschland lesen noch regelmäßig Bücher)?

Tatsächlich war Deutschland von Anfang an dabei: Es hat in der bahnbrechenden Geschichte des Buchs westlicher Prägung eine Vorreiterrolle gespielt, ohne die auch das Internet – und ein Internet-Feuilleton – nicht das wäre, was es heute ist. Die Erfindung der Gutenbergpresse Mitte des 15. Jahrhunderts in Mainz produzierte ein damals vollkommen neues Medium: das Buch. Dem kanadischen Philosoph Marshall McLuhan zufolge kommt dessen Bedeutung der einer Glühbirne gleich. Eine Glühbirne ist für den Autor von „Das Medium ist die Botschaft“ (1964) zunächst einmal ein Medium – ein Medium ohne Inhalt. Ihre Wichtigkeit besteht darin, Räume aus der Dunkelheit herauszuheben, d.h. einen sozialen Effekt zu bewirken. Eine Glühbirne schafft „allein durch ihre Anwesenheit eine Umgebung“, schreibt McLuhan. Entsprechendes gilt für die Erfindung des Buchdrucks: Der Übergang vom Analphabetismus zum Druck brachte der westlichen Moderne den Individualismus, die Demokratie, den Kapitalismus und die Dominanz der visuellen Kultur über die Hör- und mündliche Kultur, die noch die Informationsübermittlung im Mittelalter kennzeichnete.

Die sozialen Auswirkungen der Typographie reichen von den Aufregungen und Bedenken, die die wachsende Verbreitung von Büchern im späten 17. Jahrhundert hervorrief, bis hin zur gegenwärtigen Befürchtung vom Ende des Buchs. Was der Medientheoretiker McLuhan bereits dreißig Jahre vor Erfindung des Internets heraufbeschwor, ist 2010 längst Realität geworden. Die visuelle, individualistische Druckkultur ist durch elektronische Träger und durch die virtuelle Welt, die wieder Hör- und Sprechkulturen in den Vordergrund rücken, abgelöst worden. „Anstatt zu einer großen Alexandrinischen Bibliothek zu werden, ist die Welt zu einem Computer geworden“.

Die Drucktechnologie hat aber nicht nur unsere Wahrnehmungsgewohnheiten geändert. Seit Freud wissen wir, dass das sag- und schreibbare Wort Bewusstheit herstellt. In einer anthropologischen Wende deklariert die Literaturwissenschaft der 1980er Jahre, die sich bis dato ausschließlich Büchern gewidmet hatte, mit Clifford Geertz’ „Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“ (1983) Kultur als Text. Der Textbegriff ist fortan dem Buch enthoben und „Die Gutenberg-Galaxie“ (1962) eines McLuhans wird vom Gegenstand medientheoretischer Reflexion zum kulturwissenschaftlichen Allgemeingut. So ist die Ware Buch heute eines von mehreren konkurrierenden Kulturgütern und muss im digitalen Zeitalter ihre Einflussmöglichkeiten mittels der medialen Wertigkeit und der damit einhergehenden Ausstrahlungskraft behaupten.

Zweifellos bewahren Bücher eine ganz eigene unverwechselbare, unnachahmliche Aura, eine eigene Benutzbarkeit, die das Nachschlagen eines Abschnitts nach Belieben ermöglicht und eine unendliche Reihung unterschiedlichster Lektüren ein und desselben Textes durch die Zeit hindurch gewährleistet. Der Leser wächst, entwickelt und verändert sich, der (kulturell anspruchsvolle) Text bleibt in seinem Wahrheitsgehalt, in seiner künstlerischen Aussage und seiner sozialen Wirksamkeit zwischen zwei Kartoneinbänden zwar haptisch begreifbar, inhaltlich aber immer wieder neu auslegbar und – einen sicheren und gut temperierten Aufbewahrungsort vorausgesetzt – Zeit überdauernd bestehen. Die Postmoderne kennt keine eindeutige, keine definitiv abschließbare Interpretation eines Buches mehr. Im Gegensatz zur Endgültigkeit seiner gedruckten Form, ist die Dekonstruktion seines Inhalts ad infinitum denkbar. Gerade aus dieser Spannung speist sich das Mysterium des Mediums Buch.

Unübertroffen bleibt auch die Ästhetik aneinandergereihter Buchrücken, das sensorische Erleben eines Buchs, das ich in den Händen halte, das Ritual des Durchblätterns, Beschriftens, Verzettelns oder von hinten nach vorne Lesens. Ob in den modernen Literaturarchiven dieser Welt oder in den historischen Bibliotheken Deutschlands, wie die der Herzogin Anna Amalia in Weimar oder vom Herzog August in Wolfenbüttel, verdichtet sich der atmosphärische oder ästhetische Wert des Buchs. Man denke nur an die labyrinthischen Bibliotheken in der Eco-Verfilmung Jean-Jacques Annauds von „Der Name der Rose“ (1986), an Borges’ „Bibliothek von Babel“ (1941) oder Michel Foucaults Begriff vom Bibliotheksphänomen als Vorstellungswelt zwischen den Zeichen, vom Werk Flauberts als Protokoll eines freigesetzten Traums oder „als Traum der anderen Bücher“, als ein imaginäres und visionäres Heraufbeschwören von Bildern, die „völlig traumhaft zu sein scheinen“ (1967). In den phantastischen Überhöhungen der Schriftsteller und Literaten wird über eine mögliche Welt spekuliert, die als eine Bibliothek aller möglichen Bücher dargestellt werden kann.

Was Eco, Borges oder Foucault an der Unendlichkeit der Geschichten, Ordnungssysteme und Zitate derart fasziniert, dass sie Bücherwelten und -galaxien mystifizieren, ohne je eine finale, sinnvolle Antwort zu finden, spiegelt sich in den Räumen, Sälen und Archiven wider, in denen neue und alte Büchersammlungen oder beständig sich vergrößernde Bibliotheken untergebracht sind. Unsichtbar, doch zum Greifen nah materialisiert sich im Buch das kulturelle Gedächtnis. Ideen, Angewohnheiten, Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Erfindungen, Lieder und Geschichten bilden Einheiten, die sich verbreiten und vermehren. Bücher bilden die Identität und Diskurse der Menschheit aus, die in der Gesellschaft weiterwirken.
Heute verbinden sich neueste Befunde der neurowissenschaftlichen Hirn- und Gedächtnisforschung mit denen der Psychologie und Kulturwissenschaft in der Annahme, dass das Gedächtnis sozial und kommunikativ ausgerichtet sei. Ohne Austausch, ohne das vielfältige Wechselspiel mit anderen und ohne Emotionen wäre unsere Erinnerung leer – das glauben wir heute. Neben dem kollektiven Gedächtnis (Maurice Halbwachs) und Jan Assmanns Begriff des kulturellen Gedächtnisses verkörpern Bücher auch das kommunikative Gedächtnis (Harald Welzer). Die Erinnerung und die Zukunft als Potenzialität noch nie da gewesener Interaktionen und Strukturen schlummern in Büchern, die ein Licht werfen auf das Chaos des menschlichen Daseins und Fühlens, indem sie beleuchten und erhellen, was Zufall sein kann, aber in Wahrheit Orientierung, eine ordnende Archäologie und Zusammensetzung von geschichtlichen Begebenheiten und wissentlichen Formungen bietet: Bücher sind Produkte einer langen, ursprünglich deutschen Kulturtradition, die die individuelle und kollektive Identität auf transkultureller, nationaler und regionaler Ebene konsolidiert und das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft sowohl auf dem Niveau ihrer Herstellung als auch ihrer Rezeption festschreibt. Und gerade aus diesem Grund rückt in den letzten Jahren der Akt des Schreibens – und damit auch der Akt des Lesens – in seiner gefühlsbedingten, befreienden und autobiographischen, ja therapeutischen Bedeutung wieder in den Fokus: Lesen ist nicht zuletzt ein Genuss, es ist gut für Leib und Seele, und das geschriebene (und gelesene) Wort immer auch eine spirituelle Übung, denn es schult die Intimität des eigenen Bewusstseins ebenso wie es Meinungen und Verhalten verändern kann.

Ihre Dagmar Reichardt

(Dagmar Reichardt ist eine deutsche Literaturwissenschaftlerin, die über 50 Bücher sowie rd. 100 weitere akademische und kulturpolitische Publikationen geschrieben und herausgegeben hat.)
Header-Foto: © Max Friede

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