‚Aus sich heraus‘, diese drei unscheinbaren Worte implizieren Mehreres. Und dieses Mehrere ist vor allem in der nicht nur musikalischen Kunst von Bedeutung. Vor allem jedoch: Diese Bedeutungsvielfalt ist in dieser speziellen Einspielung des Violinkonzerts in D-Dur op. 35 von Peter Tschaikowsky in all ihren Facetten präsent.
Gemeint ist damit, dass genau genommen nicht zu sagen ist, wer hier eigentlich dafür verantwortlich zeichnet, oder der Taktgeber dafür ist, dass wirklich alle Beteiligten aus sich heraustreten, indem sie der Komposition Gehör verschaffen.
Natürlich, es ist diese von einem Soloinstrument getragene Tonkunst selbst, die in ihrer Gesamtheit dafür einsteht, dass das Heraustreten, das Sich-Entfalten des jeweiligen musikalischen Einfalls sich in seiner Ungezwungenheit und „Ungesuchtheit“ von selbst versteht. Aber freilich, dafür, dass genau dieser Eindruck sich geradezu aufdrängt, bedarf es der Ausführenden, die in ihrer Gesamtheit dazu in der Lage sein müssen, indem sie aus sich heraustreten in die Komposition hineinzutreten. Exakt das ist bei diesem extraordinären Konzert gelungen, und zwar in einer Reinheit, wie sie nur selten gelingen mag.
Denn: Wer reißt hier eigentlich wen mit? Zunächst und freilich ist es die als Notentext vorliegende Musik. Was auch sonst?! Aber der Text schweigt zunächst und hat geklungen nur für seinen Schöpfer in den initiierten Augenblicken seines Entstehens. Der/die seinerseits/ihrerseits auf den Interpreten angewiesen ist, der die jeweilige musikalische Essenz zum Erklingen zu bringen vermag.
Und das Vermögen dieses Orchester, dieser Dirigent und diese Violinistin derart intensiv, dass es dem Lauschenden die Tränen in die Augen treibt, beim selbstverloren-ungläubigen Hören des Mitreißenden. Das meint, dass alle Beteiligten inklusive des Zaungastes aus sich herausgetreten sind, noch weit über das Verklingen der letzten Note hinaus. „Nun gründet sich aber der Genuß des Schönen stets auf Liebe und Zärtlichkeit, in so fern es uns jedesmal auf eine Weile aus uns selber zieht, daß wir über seinem Anschaun uns selbst vergessen.“ (Karl Philipp Moritz, Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?)
Zurück auf Anfang und zu der Ausgangsbehauptung, dass dieses Aus-sich-heraus gleich mehrere Bedeutungen hat.
Zunächst und zentral ist es sowieso und für die Kunst erst recht, dass sich etwas entwickelt grad so, als ob überhaupt keine Absicht vorläge, als ob, wie in der Natur, aus einem Keim sich wie von unsichtbarer Hand gelenkt etwas sich frei-notwendig aus sich selbst entfaltet, in dem alles zu Allem zusammenstimmt. Im Prozess seiner Verwirklichung hat es sich in seinem Ende mit seinem Anfang zusammengeschlossen, ist so das in seinem werdenden Geworden-Sein in sich selbst Vollendete. Was m. E. und bei dieser Gelegenheit eine nicht ganz unebene Bestimmung von klanglich-künstlerischer Schönheit ist. So dass also selbstredend nicht oder eigentlich nur ganz am Rande die verdienstlose körperliche Schönheit gemeint ist.
Darüber hinaus wäre ja buchstäblich nichts damit gewonnen, wenn etwas immer nur in sich selbst und auf der angestammten Stelle verharrte, oder, die lediglich scheinbare Alternative, sich in die Weite des Bestimmungslosen verlöre, da dieses In-sich-Verharren und dieses Sich-ins Bestimmungslose-Verlieren so oder so dasselbe sind wie ein entäußerungsloses, auf der Stelle tretendes immergleiches Nichts. Alternativ und bloß scheinbar paradox so: Wer großes will muß sich zusammen raffen. – In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister – Und das Gesetz nur kann uns Freyheit geben. (Aus dem 1800 entstandenen Sonett Natur und Kunst von J.W. Goethe)
Des Weiteren meint das Aus sich heraus den Zustand der Ekstase bzw., weniger reißerisch, das glückhafte Gefühl, sich in einem Anderen zu finden dadurch, dass man sich in ihm/ihr verliert.
Womit wieder der Ausgangspunkt dieser Betrachtungen erreicht ist. Das Konzert oder vielmehr die Ausführenden in ihrer Gesamtheit, die sich in der Hingabe des Aus sich heraus im jeweils anderen finden. Das betrifft nicht bloß das musikalische Zusammenspiel, das betrifft vor allem auch das Ereignis gewordene Glück, das immer wieder auf und aus den Gesichtern wirklich aller Involvierten erstrahlt. Sie sind sich alle des glückhaften Moments bewusst, dass sie sich in ihrem rückhaltlosen Sich-Entäußern in dieser und an diese Komposition in ihrem innersten Kern wiedergefunden und vereinigt haben. So dass, mit Fug und Recht, von einem rauschhaften Außer-sich-Sein, das nun so gar nichts mit einem seiner selbst nicht mehr mächtigen, zu rasender Unbedachtheit eskalierenden Groll zu tun hat, die Rede sein muss. Und was bedeutet Glück anderes als dies: Sich, und sei es bloß für einen womöglich unscheinbaren, kaum greifbaren Augenblick, vollständig in dem zu verlieren, das einen zu sich selbst bringt.
„Während das Schöne unsre Betrachtung ganz auf sich zieht, zieht es sie eine Weile von uns selber ab, und macht, daß wir uns in dem schönen Gegenstande zu verlieren scheinen; und eben dies Verlieren, dies Vergessen unsrer selbst, ist der höchste Grad des reinen und uneigennützigen Vergnügens, welches uns das Schöne gewährt.“ (Karl Philipp Moritz, Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten)
Das aber vermag nicht zuletzt und vor allem große (musikalische) Kunst, die groß darin ist, dass sie aus sich heraus sich in ihr Innerstes hinein entwickelt, darin zu sich selbst gefunden hat und den Aufnahmebereiten sich selbst dadurch finden lässt, dass er sich in dem für ihn Gewordenen verloren hat.
In memoriam Rudolf (Alf) Jankuhn (1949–2021), Künstler und Zeichner aus Berlin. Meinem Freund, nicht nur in rebus musicis. Da du besonders dem russischen Musikschaffen zugetan warst.
Peter Tschaikowsky: Violinkonzert in D-Dur op. 35
YouTube-Video:
Tschaikowsky: Violinkonzert ∙ hr-Sinfonieorchester ∙ Hilary Hahn ∙ Andrés Orozco-Estrada
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