Meinung

„Betrachtet man als das Eigentümliche des Genius die Harmonie der Seelenkräfte, welche, jede für sich stark und regsam, im muntersten Wechselspiel doch niemals eine die andere stören oder ihre Wirksamkeit durchkreuzen, sondern ungesucht, ohne ängstliche Wahl oder mühsamen Kampf, in der Vollbringung dessen zusammenstimmen, was jedesmal das Angemessene ist: wo findet sich diese Spiegelklarheit der Seele, welche durch die heftigsten Stürme wohl bewegt, aber nicht getrübt werden kann, schöner als“ – ich verlasse das Original – bei Sayaka Shoji?

(David Friedrich Strauss, Vergängliches und Bleibendes im Christentum. Selbstgespräche. Zweiter Teil (1838))

 

Hinzuzufügen ist, dass sich diese Harmonie der Seelenkräfte, diese Spiegelklarheit der Seele nicht lediglich im Spiel und der für diese Violinistin eigentümlichen Herangehensweise an jegliche Komposition, die sie sich aneignet und angeeignet hat, finden, sondern auch, und wie sollte es anders sein – da eins das andere bedingt –, in der diesem Text Pate stehenden Komposition. Die, in diesem speziellen Fall, tatsächlich durch jede andere, der Sayaka Shoji sich in ihrem musikalischen Leben mit Haut und Haar hingegeben und verschrieben hat, ersetzt werden kann. Denn ist es selbstredend wahr, dass der reproduktive Künstler für sich das Kunstwerk entdeckt, in dem er sich verliert, dann ist es umgekehrt trotzdem nicht falsch, die Behauptung aufzustellen, dass es, so selten es sei, den glückhaften Moment gibt, in dem das Kunstwerk in und bei seiner Wiedergabe – eine Art Wiedergeburt – zu sich selbst, also dem mehr oder weniger ausgedehnten Zeit-‚Moment‘ seiner Entstehung, findet. Ganz so, als ob es in und während seiner Reproduktion in einer Art Zeitraffer produziert würde.

 

Sayaka 2018 F Norizumi Kitada UMLLC

Sayaka Shoji (庄司 紗矢香), 2018. Foto: Norizumi Kitada/UMLLC

 

Und was wird in diesem Fall reproduzierend produziert? Eine tönende Vielfalt disparatester Gefühlslagen, die vor allem zwischen hingebungsvoller und sehnsüchtiger Liebe, einem ‚rabiat‘-insistierenden, verzweifelt-ungestümen Aufbegehren und der nicht immer lachenden Munterkeit unbeschwert tanzenden Gauditums angesiedelt sind, welche, jede für sich stark und regsam, (…) niemals eine die andere stören oder ihre Wirksamkeit durchkreuzen, sondern ungesucht, ohne ängstliche Wahl oder mühsamen Kampf, in der Vollbringung dessen zusammenstimmen, was jedesmal das Angemessene ist.

 

Die Einleitung ist sanft und wirkt in ihrer von der Oboe getragenen Zartheit wie entrückt, steigert sich unversehens zum furiosen Tutti, nimmt sich wieder besänftigend zurück, hält inne, und bricht erneut in ein bedrohliches, stürmisches Tutti aus, dessen ungeheuerliche, beängstigende und das Herz einschnürende Bedrohlichkeit mit dem abrupten Einsatz der Violine sich womöglich noch steigert, um sich dann fürs Erste in melodischem Wohllaut zu beruhigen. Das hingebungsvolle Schweben wird vom sanft intonierenden sonoren Horn begleitet. Doch dann bricht das besänftigende, begütigende, schwebend-leichte Schweifen der Violine aufs Neue konvulsivisch aus sich heraus: eine verzweifelte, empörte, fast hysterische Ekstase. Energisch ist ein zu schwaches Wort für diesen unerhört intensiven Ausbruch des aufbegehrenden Protests. Und nimmt sich in ein wie abgeduckt wirkendes Es war nicht gar so arg gemeint zum Klang der Holzbläser und des Horns fast kleinlaut, bang und um Zuneigung flehend zurück. Dies die emotionale Essenz des aufwühlenden ersten Satzes, der aufwühlt durch das Herz beengende Intensität der sanften und, ich möchte fast sagen, verzweifelt-aufbegehrenden, ungestüm bohrenden Art.

 

Der ängstlich tastende Einsatz des Orchesters nach der Kadenz mit dem Fagott, Horn, den Streichern, der Querflöte und schließlich der Klarinette und Oboe ist ein das Herz ergreifender, liebevoll tröstender Wohllaut höchster menschlicher Anteilnahme. Ausgerechnet das Horn mit seinem zart begütigenden, ruhigen Tönen von ganz weit her gibt das Signal zu dem – was für ein Kontrast! – einmal mehr ekstatischen Finale furioso.

Diesen Zwiespalt des Gefühls eines grausamen und dennoch auflösbaren und aufgelösten Widerspruchs, wie ihn diese Musik transportiert, hat Sayaka Shoji mit einer Intensität umgesetzt, wie sie mir in anderen Einspielungen dieses Violinkonzerts bislang noch nirgends begegnet ist. Und das gilt – pars pro toto und unter ganz anderen Vorzeichen – auch für die beiden Folgesätze.

 

Der Zwiegesang des zweiten Satzes ist ein liebevolles, träumerisch-zärtliches Sich-im-Anderen-Verlieren. Fagott, Holzbläser Querflöte und, zentral, der sehnsüchtig-verlorene Klang der Oboe. Von der Violine so herzinnig flehend beantwortet. Und sie erhält eine Antwort auf ihre Antwort durch die Oboe, das Fagott und schließlich das Horn, die in wechselvollem Geben und Nehmen zueinander finden und sich endlich in ein nachtönendes Schweigen hinein verlieren.

 

Eine herausplatzende – ungarische – Tanzgaudi des finalen dritten Satzes. Sich überschlagende, scherzhafte Kapriolen. Ekstatische Bedrohung, bedrohliche Ekstase im Tutti. Dann geht es von Neuem an mit dem dann nicht mehr ganz so überraschenden Übergang in ein melodiöses Intermezzo. Und es steigert sich erneut und einmal mehr und immer wieder in einen protestierend aufbegehrenden, furchteinflößenden, entsetzlichen Hilfeschrei. – Das Finale ist da und – Überraschung – doch nicht da. Das Fagott gibt das Tempo vor, und zu den lebensfroh überschäumenden Klängen des ungarischen Tanzes schwingt sich das erst jetzt wirkliche Finale nach der Art einer Coda zu einem wiederum konvulsivischen Ausbruch einer hemmungslosen Passion empor.

 

Die diversen Spielarten der Leidenschaft haben in dieser aufwühlenden Komposition eines Alles oder Nichts ihren musikalischen Ausdruck gefunden. Damit freilich das Bedingungslose der unterschiedlichen Formen der Hingabe wirklich nachvollzogen werden kann, bedarf es einer Intensität der Wiedergabe, wie sie von der japanischen Geigerin Sayaka Shoji bereits in noch ganz jungen Jahren auf der Komposition kongeniale Weise geleistet worden ist.

 

In Erinnerung an meine liebe, am 12.03.2024 in den frühen Abendstunden verstorbene, Mutter, Traute Hansen. Ruhe sanft!


Johannes Brahms: Violinkonzert in D-Dur op. 77

 

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YouTube-Video:

Johannes Brahms: Violinkonzert in D-Dur op. 77, CityMusic Cleveland Chamber Orchestra unter der Leitung von Avner Dorman.

 

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