Meinung

Johann Sebastian Bachs fragmentarisch überlieferte Die Kunst der Fuge – ein Zyklus von vierzehn Fugen und vier Kanons (BWV 1080) – und die Goldberg-Variationen sind beide für das Pianoforte, das Cembalo oder die Orgel in Noten gesetzte ‚Avantgardestücke‘.

Zu ergänzen ist freilich, dass Bach, der während der Arbeit an dem erstgenannten Werk gestorben ist, keine Angaben über die Instrumentierung gemacht hat. In der musikalischen Fachwelt ist man sich aber insgesamt darin einig, dass es sich um eine Arbeit für ein Tasteninstrument handelt.

 

Der Erstdruck erschien, aber auch das ist nicht verbürgt, vermutlich 1751 unter dem Titel Die Kunst der Fuge durch Johann Sebastian Bach ehemahligen Capellmeister und Musikdirector zu Leipzig. Die einige wenige Korrekturen enthaltende zweite Auflage erschien bereits ein Jahr später.

 

In den 1741 in Nürnberg verlegten Goldberg-Variationen (BWV 988) – die genaue Entstehungszeit ist unbekannt – hat Bach einen großen musikalischen Bogen gespannt. Es handelt sich, grob gesagt, um 30 Variationen zu einer Aria, die zum Beschluss noch einmal erklingt, ohne dass sie im Erstdruck noch extra notiert worden wäre. Naiv-Volksliedhaftes und Gesangliches korrespondieren zwanglos mit hochgradig artifizieller Polyphonie. Aber nicht nur das. Der kompositorische Einfallsreichtum ist sozusagen musikhistorisch unterfüttert, heißt, ausgiebig kommt das musikalische Zitat zur Anwendung, aber auch ein ernst-heiter-verspieltes Einarbeiten zeitgenössischer Kompositionsweisen macht das Werk zu einer ins Uferlose sich verlierenden, vielstimmigen Einheit des scheinbar Nicht-Zusammengehörigen. Weswegen zu Beginn von zwei Avantgardestücken die Rede gewesen ist. Auch wenn Bach, so geht der göttliche Humor eines tiefstapelnden tonsetzenden Olympiers – und Olympier meint, dass einer sich seines musikalische Horizonte eröffnenden Avantgarde- und Neuerertums voll bewusst gewesen ist –, diesen Variationen-Kosmos als Clavier Ubung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen bezeichnet hat. Schalkhaft schmunzelndes Understatement bei und auf allerhöchstem musikalischem Niveau.

 

Wie die Goldberg-Variationen ist auch Die Kunst der Fuge eine groß angelegte, wenn man will mathematisch exakt durchkalkulierte Variation über ein einziges, grundlegendes Thema. Die Grobgliederung ist die folgende: 14 Contrapunctus genannte drei- und vierstimmige Fugen werden um vier zweistimmige Kanons komplettiert. Die Contrapunctus 12 und 13 sind gleich zwei Mal in Noten gesetzt: in der Urform (recto) und der Spiegelform (inverso).

 

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Clavier Übung IV; Titelblatt. Bibliothèque nationale de France (gemeinfrei). Bach-Denkmal in Leipzig. Foto: Pixabay

 

Etwas detaillierter: Neben der einfachen Fuge gibt es – bei immer weiter sich verdichtender Komplexität – die Gegenfuge, die Doppelfuge, die Tripelfuge, die Spiegelfuge und den Kanon sowie diverse Verarbeitungsformen des Grundthemas. Es kommen darüber hinaus gehäuft rhythmische Umgruppierungen zum Einsatz, und selbst die weit in die kompositorische Zukunft vorausweisende Chromatik – man ist geneigt den Namen Richard Wagners hier einzusetzen – kommt in ihrer die Diatonik unterminierenden differenzierenden ‚Verflüssigung‘ der Ganz- und Halbtonschritte gehäuft zum Einsatz. Dieses für Die Kunst der Fuge in summa charakteristische Eindringen in subtile musikalische Tiefenschichten lässt es längst als verfehlt erscheinen, in diesem Werk nichts weiter als ein nüchtern kalkuliertes Demonstrationsobjekt kontrapunktischer Kunst, ein quasi am Reißbrett entworfenes gelehrt-intellektuelles Spiel mit dem vorgefertigten oder neu zu arrangierenden musikalischen Material zu sehen. Überaus distinktes technisches Know-how und musikalisch hintergründiger Tiefgang sind auf kunstvolle Weise ineinander verwoben.

Ursprünglich, wie bereits oben erwähnt, sind beide Kompositionen für das Tasteninstrument in seinen diversen Erscheinungsformen in Töne gesetzt worden.

 

Aber es existiert auch eine verwegen anmutende Abwandlung der Instrumentierung, die auf den ersten Blick kopfschüttelndes Erstaunen zur Folge haben mag. Das New Danish Saxophone Quartet hat sowohl Die Kunst der Fuge (1997) als auch die Goldberg Variationen (2003) unter dem Label Kontrapunkt eingespielt. Dieses seit 1986 existierende Quartett, das sich zur Zeit seiner Begründung aus dem Sopran-Saxophonisten Jørgen Bove, dem Alt-Saxophonisten Christian Hougaard, dem Tenor-Saxophonisten Torben Snekkestad und dem Bariton-Saxophonisten Per Egholm zusammensetzte, hat die von Francesco Frederico Venerucci für das Saxophon arrangierten Goldberg-Variationen und Die Kunst der Fuge auf eine Weise zum Erklingen gebracht, die, weil man eventuell eine jazzartige Modernisierung erwartet, in doppelter Hinsicht überrascht.

 

Es verhält sich nämlich mit beiden Einspielungen vielmehr so, als ob sie das von Bach kompositorisch Intendierte auch rein stimmungsmäßig – gemeint ist der unverwechselbare barocke Ton – auf den musikalischen Punkt gebracht hätten. Zumal hinsichtlich der Fugen-Einspielung gilt, dass selbst den musikalischen Laien eine Ahnung davon beschleichen kann, was das Eigentümliche einer Fuge ist. Die für diese Art des polyphonen Komponierens charakteristische komplexe Themenverarbeitung wird hier auf eine quasi natürliche Art durchsichtig. Denn es ist ein Leichtes, nicht allein die jeweils zeitlich versetzt einsetzende Exposition der einzelnen Stimmen herauszuhören. Sondern auch, dass das von der ersten Stimme in den musikalischen Raum gestellte Thema (Dux = der Führer) in der Folge von der zweiten Stimme, die das Thema als Comes (= der Gefährte) meist auf die Oberquinte (bzw. Unterquarte) versetzt vorträgt, modifizierend aufgegriffen wird, ist, im Prinzip jedenfalls, auch für den musikalisch eher nicht so Versierten spontan heraushörbar.

 

Aber von diesen angedeuteten musiktheoretischen Spezialfragen abgesehen macht der Ton die Musik. Und der ist in beiden Einspielungen von einer, ich möchte sagen, unaufdringlichen Prägnanz, strömenden Leichtigkeit, einem souverän-selbstverständlichen Sich-den-Ball-Zuwerfen und einer für das Blech der Instrumente – obwohl das erst 1840 von dem Belgier Adolphe Sax erfundene Saxophon, wie auch die Oboe, an deren Klang man sich beim selbstvergessen-versunkenen Hören immer wieder erinnert fühlt, eben doch zu den Holzblasinstrumenten gehört – eigentlich untypischen kristallklaren Ruhe und Zartheit, die, als weltabgewandt-erhebende Geborgenheit laut Hilary Hahn für Bachs Kompositionen insgesamt charakteristisch ist.

 

Dass es sich genauso verhält, können all Diejenigen erfahren, die bereit sind, sich durch diese Einspielungen des New Danish Saxophone Quartets in diese erhabenen Sphären – Wie wird mir – Leichte Wolken heben mich / Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide. / Hinauf – hinauf – Die Erde flieht zurück – / Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude! (Friedrich Schiller: Die Jungfrau von Orleans) – entführen zu lassen.


 

Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.

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