Martin Suter, das Ass? Die Rezensenten sind voll des Lobes, enthusiasmiert und euphorisch. Wo man hinhört: Aufgeregte Superlative im Rauschen des Blätterwalds.
Doch kann das sein? Trifft diese hypertrophe Begeisterung den Schweizer Autor in seinem Kern, oder legt sie falsche, der Sensationsgier geschuldete Fährten?
Was ist er, der Kern dieser ganz besonderen Art von Kriminalliteratur? Der wie auch immer verursachte Wandel der Psyche der dramatis personae. Ihr Abrutschen ins nicht Geheure und Kriminelle, nicht mehr Steuerbare. Der Verlust ihrer selbst in der Amnesie oder in der Altersdemenz, die sich als der entscheidende Durchgangspunkt für das eigentliche Wiederfinden der in grauer Vorzeit verlorenen Identität herausstellt. Im Zentrum von Suters Romanen steht das fragile, stets gefährdete und labile Gleichgewicht des menschlichen Seelenlebens. Und das heißt: Dieser Romancier spielt ungemein feinfühlig, erfahren und kundig auf der Klaviatur aller nur möglichen Empfindungen, Emotionen und Bewusstseinsstufen.
Suter ist, mit einem Wort, ein Psychologe ersten Ranges! Und das ist er vor allem auch deshalb, weil er es meisterhaft versteht, mit leisen, fein abgestimmten, nuancierten Tönen unaufgeregt und überhaupt nicht zudringlich den Finger gelassen, treffsicher und mit höchster Präzision in die Wunden zu legen. Anders gesagt, es ist, als ob dieser Autor all das, was er erzählt, selbst erlebt hätte. So sehr gelingt es ihm scheinbar mühelos, in die intimsten Bereiche seiner unheldischen Helden hinabzusteigen.
Man spürt, er liebt sie alle. Aber weil er, schwieriges Unterfangen, Distanz wahrt, ist er ihnen erst recht so unglaublich nahe. Und diese gefühlte Nähe überträgt sich auf den gebannten Leser. Bei dem sich all die Nöte, Ängste, Hoffnungen, das Getriebensein, das hilflose Suchen, von permanentem Scheitern bedrohte, womögliche Finden, kurz, diese dunklen Abgründe und lichten Höhen des hochgradig gefährdeten Humanus wie von selbst, ungesucht zusammenfinden.
Dazu passt es, dass Suters Romane frei sind von verbalen Kraftakten. Dieser Autor hat es nicht nötig, dick aufzutragen. Seine Texte sind von unaufdringlicher Prägnanz, und der Ton ist feiner, leichter und schwebender Humor. Diese Leichtigkeit hat, darüber hinaus, auch einiges mit der Art der Komposition zu tun. Kleine, wohl abgemessene Einheiten, die nicht immer chronologisch aneinander anschließen, sondern, in zeitlichem und räumlichem Hin und Her, zu einem perfekt angelegten Verwirr- und Spannungsspiel voller kleiner und großer Überraschungen kunstvoll ineinandergeschoben sind.
Werke von Martin Suter sind im Diogenes Verlag erhältlich
Verspielter Ernst auch in den vielen, man merkt es, fundiert und seriös recherchierten Passagen. Sei es, um nur ein paar Beispiele zu nennen, dass sie die Vielfalt der Myzelien in der Waldeinsamkeit des Vorgebirges betreffen. Sei es das Geschäftsgebaren von überaus geschäftstüchtigen Global Players und ihrem juristischen Beistand, deren „temporäre Infrastruktur“ bei außerplanmäßigen Landpartien durch ein Faxgerät und einen Papierwolf komplettiert wird. Sei es den Umgang von stümperhaft Pfeife rauchenden Verlegern mit ihren unbedarften Autoren oder den zu allen Hoffnungen Anlass gebenden Stand der Alzheimerforschung.
Apropos Alzheimer: Wie sich Suter in die zurückgenommene Psyche des ungeheuer anrührenden Alzheimerpatienten Konrad Lang alias Thomas Koch einfühlt ist überwältigend! Was mag in einem geistig reduzierten, verloren wirkenden älteren Menschen vorgehen? Hier bekommt der ratlos Fragende eine Antwort, die dem Fatalen mit ganz dezenter, traurig-schöner Heiterkeit das frühkindliche Geheimnis ablauscht. „„Es schneit Fazonetli“, sang Simone. Beide tanzten im Geflimmer, bis sie nicht mehr konnten vor Lachen und Weinen und Glück.“
Und wie fein beobachtet ist es, über ein Gesicht, an dem in regelmäßigen Abständen kleine kosmetische Korrekturen vorgenommen worden sind, zu sagen, dass sein Träger dadurch „etwas frühzeitig Guterhaltenes“ verliehen bekommen habe. Oder dass es auch das gibt, nämlich „empört ignoriert“ zu werden. Oder dass einer von Rührung bei der Vorstellung befallen wird, „zu so einer großen Geste fähig zu sein“. Ganz zu schweigen davon, dass „alle Schwermütigen ständig auf der Suche nach einer Kulisse für ihre Melancholie“ sind. Sehr richtig! Oder wie ist es hiermit: „Notschlüssel für die Feuertür in einer geschlossenen Abteilung! Montiert doch gleich Sprungbretter!“ Last but not least die leise, lakonische Ironie in dem hier: „„Vielleicht ist sie verrückt geworden.“ „Hoffentlich kann sie das beweisen“, sagte Dr. Kundert.“
Schwer, das wusste keiner besser als Schiller, eine tragische Analysis hinzubekommen. Was das ist? Ein guter, weil spannender Kriminalroman, der seine Spannung daraus bezieht, dass man gebannt dem Geschehen folgt, obwohl man doch von Anfang an alles weiß. Denn beängstigend ist nicht so sehr das, was zu geschehen möglicherweise im Begriffe ist, sondern was, als bereits Geschehenes, in seinen unabwendbaren Folgen das unausweichlich und unerbittlich über einen Kommende ist. Ödipus Rex ist die tragische Variante, das Lustspiel Der zerbrochene Krug die komische, die Tetralogie Joseph und seine Brüder die heitere und Small World die in Trauer lächelnde.
Wieso Sophokles, wieso Kleist, wieso Thomas Mann? Nun, auch sie waren psychologisch hochversierte Kriminalautoren. Jeder auf seine Weise. Was folgt daraus? Der aufmerksame Leser weiß es schon längst. Suter ist mehr als ein Ass. Er ist, wie die drei anderen, ich wiederhole mich, ein ganz großer Psychologe.
Dass der Schweizer Autor darüber hinaus ein äußerst liebenswerter Menschenfreund ist, geht daraus hervor, dass er vor nunmehr 15 Jahren meiner damals gerade 12-jährigen Tochter auf die Fragen, die sich ihr beim Lesen seiner Romane aufgedrängt hatten, und die sie ihm per mail übermittelt hatte, wie folgt geantwortet hat:
Liebe Leonie Anna
Ich freue mich, dass Du eine Leserin meiner Bücher bist und eine sehr aufmerksame dazu.
Deine erste Frage ist nicht leicht zu beantworten, ich weiß es nämlich selbst nicht so genau, wie Koni das ‚Wie das uns hier so hinüberzieht‘ gemeint hat. Der Satz stammt von meinem Vater, der ebenfalls Alzheimer hatte. Er sagte ihn mir während einer Autofahrt in einer langsam fahrenden Kolonne. Ich nahm an, dass es ihm nicht vorkam, als fahre das Auto, in dem wir saßen, sondern dass die Kolonne oder die Straße uns zog. Bei Alzheimerpatienten verändert
sich manchmal die Wahrnehmung. Sie sehen zum Beispiel eindimensionale Sachen dreidimensional und umgekehrt. Simone Koch versucht in dieser Szene herauszufinden, wie Konrad das genau meinte. Aber es geht ihr wie Dir und mir: Sie wird nicht ganz klug aus dem Satz.
Die Frage nach Elviras Alter bei Konis Geburt ist leichter zu beantworten: Elvira war vierzehn, als sie mit dem zweifingrigen Sägereiarbeiter den verhängnisvollen Waldspaziergang machte (Seite 309). Als Tomi geboren wurde, war sie also fast oder ganz fünfzehn. Aber sie hätte auch jünger sein können. Ich kenne hier in Guatemala (wo wir wohnen) ein Baby, dessen Mutter vierzehn und dessen Großmutter achtundzwanzig ist.
Was Marie und David angeht: Ich höre, sie sind schon zweimal zusammen im Esquina beim Essen und einmal ziemlich eng umschlungen im Volume gesehen worden. Ich bin also zuversichtlich.
Hast Du Der Teufel von Mailand schon gelesen? Wenn nicht, kauf ihn nicht, ich schicke Dir ein signiertes Exemplar. Brauchst nur etwas Geduld, die Post von hier ist langsam.
Liebe Grüße aus Panajachel,
Martin Suter
Diese einfühlsame Mühe macht sich ganz bestimmt nicht jeder Autor! Apropos: Das versprochene Päckchen erreichte drei Monate später seinen Adressaten…
Martin Suter
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