Meinung

Ein Hauptwerk selbst zu erläutern, kann zumindest drei Gründe haben. Zum einen, wie im Falle Kants mit seinen Prolegomena, ist die Absicht die, einem eklatanten Missverständnis oder Nichtverstehen der Kritik der reinen Vernunft entgegenzuwirken. Zum anderen, wie im Falle Johann Gottlieb Fichtes mit seiner mehrmaligen Neu- und Überarbeitung der Wissenschaftslehre, mag ein systematisches Ungenügen hinsichtlich des jeweils Erreichten und doch noch nicht für wirklich adäquat Befundenen vorliegen.

Und schließlich ist, was auf Schopenhauer zutrifft, das Leiden unter einer flächendeckenden Nichtbeachtung ausschlaggebend dafür, dass der Versuch unternommen wird, per Selbstverdoppelung die Aufmerksamkeit zu erzwingen, von der dieser Philosoph zeitlebens überzeugt gewesen ist, dass sie ihm ganz und gar zu Unrecht vor allem von auf seine Leistung neidischen Universitätsphilosophen vorenthalten worden ist. Man habe ihn durch ein Ignorieren in den Orkus des Vergessenseins transferieren wollen, weil sonst zu befürchten gestanden hätte, dass die eigenen vergleichsweise mediokren Leistungen vor seiner geistigen Großtat als vernachlässigenswert dagestanden hätten.

 

In Erwägung zu ziehen ist freilich auch, dass der heilig-Zornige es sich mit seinen geistreichen Bosheiten auch bei denen verscherzt hat, die sich in ihrer akademischen Würde nicht beleidigt sahen; weil sie nämlich keine auf sich selbst haltenden Akademiker waren oder sind. Etwa durch ein in voller Absicht kränken wollendes Aperçu wie das folgende, das, versteht sich, nicht das erste und auch nicht das letzte in diesem voluminösen Schinken ist: „Wenn ich daher auf dem Hofe eines Hauses die Hunde (denen Schopenhauer, wie bekannt, ja durchaus mehr als bloß gewogen war. Aber es geht natürlich eher gegen die Herrchen oder Frauchen der Vierbeiner und letztlich gegen die Gattung Mensch überhaupt und als solche, F.-P.H.) stundenlang unbeschwichtigt bellen höre; so weiß ich schon, was ich von den Geisteskräften der Bewohner zu halten habe.“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, stw, 1986, S. 45)

 

Es hat ihm, wie bereits zu Beginn des ersten Teils vermerkt worden ist, nichts genützt, dass er sich der Mühe unterzogen hat, dasselbe wiederholt und immer noch einmal in kristallklar-scharfe Sätze zu fassen. Denn erst kurz vor seinem Lebensende trat er in das Bewusstsein vor allem der nichtakademischen (!) Öffentlichkeit. So dass ihm eine wenngleich späte Genugtuung doch noch zuteilgeworden ist, zumal seine ganz früh geäußerte Mutmaßung darin eine Bestätigung gefunden hat, dass man außerhalb der Universitäten von – man kann es so sagen – heute auf morgen auf ihn aufmerksam wurde. Schopenhauer wurde zum außerakademischen Erfolgsautor und ist dies mit einem gewissen Vorbehalt – seines nirwanagesättigten Indienbezuges, der manch weltanschaulicher Ausdeutung Raum bietet, wegen – bis heute geblieben. Zumal kein geringerer als Thomas Mann in seinen Buddenbrooks den Kerngedanken der Lebensentsagung aus Mitleid schriftstellerisch verarbeitet hat. (Vgl. a.a.O., S. 463) Und verschwiegen werden soll auch nicht, dass Richard Wagners Weihekunst des Musikdramas nicht zum Wenigsten dieses hier impliziert: Die Sehnsucht nach einer von einem heillosen – auch geschlechtlich motiviertem – Getriebensein befreiten Erlösung; endlich in der finalen Ruhe des Todes und/oder der Verzicht leistenden Resignation bei sich selbst angekommen zu sein.

Wie auch immer, feststeht, dass der Leser diesem Ärger Schopenhauers über die Ignoranz seiner als geistlos beschimpften Mitwelt die Existenz eines Kommentar- bzw. Ergänzungsbandes von Die Welt als Wille und Vorstellung verdankt, der noch einmal um gut 100 Seiten voluminöser ist als das ‚Original‘. Und aus dem manch Überraschendes ich in der Folge mitzuteilen vorhabe.

 

Zahmen Xenien C Beck COVER‚Warum willst du dich von uns allen

Und unsrer Meinung entfernen?‘

Ich schreibe nicht, euch zu gefallen,

Ihr sollt was lernen.‘

…schreibt Goethe in den Zahmen Xenien; und Schopenhauer stellt dieses Selbstbekenntnis seines permanenten Gewährsmanns als Motto über den gesamten Ergänzungsband. Ein Lernen erzwingen zu wollen unterliegt der Gefahr, dass das genaue Gegenteil erreicht wird: Dass eine Jugend, die sich, und das ist ja keine ganz schlechte und leider und erst recht heute nur allzu seltene Eigenschaft, ihren intellektuellen Weg im Kern selbst zu bahnen gewillt ist, aus Opposition heraus jetzt erst recht auf stur schaltet. Welche Gefahr bei im Alter bereits leidlich Vorgerückten nicht ganz so ausgeprägt sein mag…

 

Also kurz die Kernthese des Idealismus memoriert, dass „das objektive Dasein der Dinge bedingt sei durch ein sie Vorstellendes und folglich die objektive Welt nur als Vorstellung existiere, ist keine Hypothese noch weniger ein Machtspruch oder gar ein disputierenshalber aufgestelltes Paradoxon; sondern es ist die gewisseste und einfachste Wahrheit“, auf die erstmals Berkeley aufmerksam geworden sei. (A.a.O., S. 13f. u. passim) Oder auch, recht drastisch, so: Diese „anschauliche und reale Welt ist offenbar ein Gehirnphänomen: daher liegt ein Widerspruch in der Annahme, daß sie auch unabhängig von allen Gehirnen als eine solche dasein (sic!) sollte.“ (A.a.O., S. 14)

 

‚Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend zu machen, heißt Wirklichkeit zerstören‘. Sagt Hegel. Und sagt, in seltener Übereinstimmung mit seinem ständig subkutan anwesenden Widerpart, auch Schopenhauer. Zwar, das sei nicht verschwiegen, wäre Hegel der letzte gewesen, das Denken lediglich als anschauungsgesättigtes in dem Sinne gelten zu lassen, dass, wie bereits erwähnt, die anschauliche Welt dasselbe sei wie sie als vorgestellte. In dem Sinne ist Hegel alles andere als ein Idealist gewesen. Und auch, dass diese Vorstellungswelt letztlich nichts als ein auf sein Eigentliches zu durchstoßender Schein sei, hat bei Hegel eine ganz andere Antwort gefunden, als es diejenige Schopenhauers mit seinem unersättlichen Weltwillen qua Ding an sich gewesen ist. Denn Hegel ist es stets und spätestens seit der Phänomenologie des Geistes darum gegangen, etwas unverstanden Sinnliches beispielsweise auf seinen ihm inhärenten Begriff zu bringen; der Begriff der Sache war bei Hegel stets der Begriff der Sache. Und folglich keine gehaltentleerte Abstraktion, wie es das Steckenpferd der – formalen – Logiken bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Die in ihren Abstraktionen keine stets inhaltlich unterlegte Wahrheit erkennen, sondern allenfalls richtig urteilen können, sofern ihnen bei ihren inhaltsleeren Urteilen kein Fehler in dem Sinne unterläuft, dass sie in ihrem selbstreferentiellen Regelwerk nicht-konforme Urteile kreieren, was dann natürlich zu Widersprüchen führt; die unbedingt, dies die Grundprämisse sämtlicher Formal-Logiken, vermieden gehören.

 

Doch jetzt kommt das Unerwartete… Schopenhauer hat exakt diesen Einwand selbst formuliert, wobei ihm allerdings abschließend der Lapsus (aus Unkenntnis) unterlaufen ist, Hegel in dieselbe Schublade der abstrakten Logiker mit ihren gehaltentleerten Allgemeinbegriffen zu stecken. „Seit der Scholastik, ja eigentlich seit Platon und Aristoteles (was, nota bene, nicht stimmt, da beide nicht Logiker, die um des puren Denkens willen dachten – ein zirkuläres Denken des Denkens –, waren, sondern Onto-Logiker, denen an einem urteilenden Bedenken und womöglich schließlichen Wissen des denkfremden Seins gelegen war, das zuzugeben Schopenhauer mit seiner Vorstellungswelt freilich als das schlechterdings Unsinnige erschienen ist, F.-P.H.), ist die Philosophie großenteils ein fortgesetzter Mißbrauch allgemeiner Begriffe. Solche sind z.B. Substanz, Grund, Ursache, das Gute, die Vollkommenheit, Notwendigkeit, Möglichkeit und gar viele andere.“ Was so allerdings auch nicht stimmt. Es gilt nämlich zu differenzieren. Substanz und Ursache haben in den Naturwissenschaften ihren guten, weil mit Inhalt anfüllbaren Sinn. Der Grund ist die – logische – Kategorie, Bedingungszusammenhänge in Realverläufen zu erklären: Bärbel hat das und das getan, weil sie… Das Gute ist in seinem supponierten Unbedingtsein wirklich eine für keine Erklärung taugliche Totalabstraktion. Mit der Vollkommenheit bewegt man sich tatsächlich auf gefährlichem Grund; weil sie letztlich eine moralisch unterlegte Maßbestimmung ist, die, ihrer eigentlichen Intention schnurstracks widersprechend, ohne den Bezug auf subkutan zur Anwendung kommende Relationen keinen Sinn macht. Mal so gefragt: was ist und was soll ein vollkommener Mensch sein? Je nach Ausgangspunkt und Vorlieben wird es darauf unendliche und unendlich differierende Antworten geben. Und was die Modalbestimmungen des Notwendigen und Möglichen betrifft, so kommt es noch sehr darauf an, ob man sich mit ihnen in stets bedingten und in ihrem Möglich- oder Notwendigsein eindeutig bestimmbaren Realkonstellationen aufhält, oder in den in gewisser Hinsicht unbestimmten und genau deswegen umso exakteren (!) Relationen des mathematisch Idealen.

 

Nichts desto trotz, und dieser nötigen Korrektur ungeachtet, was jetzt kommt, ist, mit einer, freilich entscheidenden, Einschränkung, ein wirklich treffender Einwand gegen das Operieren mit Allgemeinheiten, die nichts weiter als genau das sind: „Eine Neigung der Köpfe zum Operieren mit solchen abstrakten und zu weit gefaßten (und genau deswegen ganz und gar engen, nämlich pur selbstreferentiellen…, F.-P.H.) Begriffen hat sich fast zu allen Zeiten gezeigt: sie mag zuletzt auf einer gewissen Trägheit des Intellekts beruhen, dem es zu beschwerlich ist, das Denken stets durch die Anschauung zu kontrollieren (was, ich sage es noch einmal anders, ein kontraproduktives bzw. unpraktikables Vorgehen ist. Denn es bedeutet, dass man vom Verstandenhaben eines zunächst lediglich anschaulich Gegebenen wieder auf die Stufe des zunächst Unverstandenen hinabfällt. So dass man sich das denkende Erfassenwollen des Anschaulichen erstens auch hätte schenken können, und sich, zweitens, den eklatanten Widerspruch leistet, etwas Unverstandenes zum Maßstab des Verstandenen zu machen, da man dieses durch jenes, und zwar ohne zu wissen, was es ist, zu „kontrollieren“ sich anheischig macht…, F.-P.H.). Solche zu weite(n) Begriffe werden dann allmälig (sic!) fast wie algebraische Zeichen gebraucht (vgl. hierzu auch a.a.O., S. 106f., 118, 138) und wie diese hin und her geworfen, wodurch das Philosophieren zu einem bloßen Kombinieren (mit eben diesen nichts, nämlich bloß sich selbst, bedeutenden Zeichen, F.-P.H.), zu einer Rechnerei ausartet, welche (wie alles Rechnen) nur niedrige Fähigkeiten beschäftigt und erfordert. Ja, zuletzt entsteht hieraus ein bloßer Wortkram (was Hegel ganz genauso, und zwar bis in die Wortwahl hinein, gesehen hat, weswegen das, was jetzt kommt, denn doch ein wenig ungerecht geurteilt ist, F.-P.H.): von einem solchen liefert uns das scheußlichste Beispiel die kopfverderbende Hegelei, als in welcher er bis zum baren Unsinn getrieben wird.“ (A.a.O., S. 56f.; vgl. ebenso 96)

 

Was hat es mit der ersten Ursache auf sich? Also … mit Gott? Wissenschaftlich gesehen gar nichts. Eine erste Ursache ist nämlich ein Widerspruch in sich. Weshalb? Weil eine Ursache stets bloß in Realzusammenhängen auftritt. Die sogenannte erste Ursache aber, dies die unhaltbare Voraussetzung, sich außerhalb dieses Zusammenhangs befinden soll. Und folglich keine Ursache von gar nichts ist. „Diesen negativen Sinn allein hat auch seine Identifikation (diejenige Spinozas ist gemeint, F-P.H.) der Welt mit Gott. Denn die Welt ‚Gott‘ nennen heißt nicht, sie erklären: sie bleibt ein Rätsel unter diesem Namen wie unter jenem.“ (A.a.O., S. 828)

 

Dass man sich auf die erste Ursache besann, hat mit dem Irrtum bzw. Denkfehler zu tun, dass man Ursache-Wirkungszusammenhänge stets als unendlich sich verlaufende missverstanden hat. Man sah die Gefahr des Regressus in infinitum, mit seinem Zurückfragen an kein wirklich tragfähiges, nämlich schlechterdings alles fundieren sollendes Ende kommen zu können. Und hatte damit – ironischerweise und auf Grund der gemachten Voraussetzung sogar zutreffender Weise – recht. Weswegen man sich den Notbehelf der ersten Ursache einfallen ließ, an der alles hängen sollte. Und übersah dabei, dass Urasche-Wirkungszusammenhänge ja gar nicht zwangsläufig den unendlichen Regress implizieren. Je nach den zu erforschenden Realzusammenhängen existieren eindeutige und in ihrer Eindeutigkeit wissenschaftlich zu erfassende Kausalzusammenhänge, die, ihrer Endlichkeit zum Trotz – sie sollen schließlich nicht für alles erdenkliche Mögliche gelten – trotzdem und gerade deswegen eine exakte Erklärung ihres jeweiligen Gegenstandsbereichs bereitstellen.

 

Kant Hegel

 

Das sah außer Kant dann auch Hegel so. Und, die nächste Überraschung, auch Schopenhauer, der sich ja – es muss gesagt sein – irrtümlicherweise für einen Kantianer der strengen Observanz gehalten hat. „Der allein richtige Ausdruck für das Gesetz der Kausalität ist dieser: jede Veränderung hat ihre Ursache in einer andern, ihr unmittelbar vorhergängigen. Wenn etwas geschieht, d.h. ein neuer Zustand eintritt, d.h. etwas sich verändert; so muß gleich vorher etwas anderes sich verändert haben; vor diesem wieder etwas anderes, und so aufwärts ins unendliche (was so (s.o.) nicht stimmt. Oder nur dann, wenn man, ohne sich dessen bewusst zu sein, letztlich eben doch auf den absoluten Halte- und Ruhepunkt hinauswill, was, dies die paradoxe Inkonsequenz, Schopenhauer ja gerade nicht will, bzw. für den entscheidenden Denkfehler hält, F.-P.H.): denn eine erste Ursache ist so unmöglich zu denken wie ein Anfang der Zeit (da der Anfang der Zeit sie selbst bereits voraussetzt, F.-P.H.) oder eine Grenze des Raums (Grenzen sind stets schon Grenzen innerhalb des Raums, er ist das Medium, in dem es so etwas wie eine Grenze überhaupt bloß geben kann, F.-P.H.). Mehr als das Angegebene besagt das Gesetz der Kausalität nicht: also treten seine Ansprüche erst bei Veränderungen (in jeweils bestimmten und damit begrenzten Zusammenhängen, und nicht in einer nicht existenten Veränderung überhaupt und als solcher, F.-P.H.) ein. So lange sich nichts verändert, ist nach keiner Ursache zu fragen…“ (A.a.O., S. 59)

 

Dass Schopenhauer über fast schon seherische Fähigkeiten verfügte, ist bereits in dem ersten Teil dieser Serie am Beispiel Heideggers vermerkt worden. Trotzdem möchte ich die Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen lassen, hier ein weiteres Zitat einzuflechten, weil es besonders schön deutlich macht, was von dem Zentralbegriff der Heidegger‘schen Fundamentalontologie zu halten ist: so viel oder so wenig wie nichts. Der „allgemeinste Begriff, z.B. das Sein (d.i. der Infinitiv der Kopula)“ ist „beinahe nichts als ein Wort. Daher auch sind philosophische Systeme, die sich innerhalb solcher sehr allgemeinen Begriffe halten, ohne auf das Reale (das freilich bei Schopenhauer stets ein Vorstellungsmäßiges ist, F.-P.H.) herabzukommen, beinahe bloßer Wortkram. Denn da alle Abstraktion im bloßen Wegdenken besteht; so behält man, je weiter man sie fortsetzt, desto weniger übrig.“ (A.a.O., S. 88; vgl. ebenso 138)

 

Wie wahr!, möchte man, einem Stoßseufzer gleich, ausrufen! Wenn man nämlich an Heidegger und seine absurd-irrealen Existenziale denkt.


Lesen Sie: Der unbekannte Schopenhauer. Teil 1 und Teil 2

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