Meinung

„Das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks dagegen bleibt in seiner Schlafkammer; aktuelles Bewußtsein ist gerade nur in bezug auf ein eben vergangenes oder für ein erwartet anrückendes Erlebnis und seinen Inhalt da. Der gelebte Augenblick selber bleibt mit seinem Inhalt wesenhaft unsichtbar, und zwar desto sicherer, je energischer Aufmerksamkeit sich darauf richtet: an dieser Wurzel, im gelebten Ansich, in punktueller Unmittelbarkeit ist alle Welt noch finster.“ (Das Prinzip Hoffnung, Erster Band, stw, 1973, S. 338)

 

Und bleibt es notgedrungen, auch wenn jeder, dem diese Aporie vertraut ist, vermutlich zustimmen wird, wenn Bloch ein wenig zuvor den Hoffnungs-Welt-Zielgehalt in diese Worte kleidet: „Wäre der Inhalt des im Jetzt Treibenden, im Da Berührten positiv heraus, ein ‚Verweile doch, du bist so schön‘, dann wären gedachte Hoffnung, gehoffte Welt am Ziel.“ (Ebd.)

In diesen nicht weiter zu präzisierenden Worten ist dasjenige impliziert, was nach Bloch in dem (Nicht-) Begriff Heimat gefühlsmäßig mitschwingt: als Gewissheit, endlich in einem Da- und Sosein angekommen zu sein, über das es kein treibend-ziehendes Hinaus mehr gibt. Was ersichtlich mit dem gangbar gewordenen und allemal politisch konnotierten und gewaltschwangeren, weil alles Fremde ausschließenden, Heimatverständnis nicht das Geringste zu tun hat. „In der Fremde (übrigens, F.-P.H.) ist nichts exotisch als der Fremde selbst.“ (Ernst Bloch, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Band 3, stw, 1985, S. 167)

 

Sondern etwa so gemeint sein könnte, auch wenn das schmerzhafte Gefühl sich nicht unterdrücken lässt, dass das Erahnte in dem Moment, da man es in Worte zu fassen, sich auf es zu konzentrieren sucht, bereits wieder als unendlich Fernes entschwunden ist. So dass Trauer über ein Entschwundenes und in unerreichbarer – zeitlicher wie örtlicher – Ferne allenfalls momentweise Erahnbares das letzte Wort zu behalten scheint oder behält: Ist dem Fliehen der Zeit dadurch ein Schnippchen zu schlagen, dass man, so schnell wie mög­lich, zu laufen beginnt? Durcheilt man den Raum, bekommt man eventuell den unbarmherzig vorwärtsrückenden Sekundenzeiger zu packen … Um ihn anzuhalten und ihn dann, mit einem klitzekleinen Schups, links herum seinen Weg fortsetzen zu lassen. Und schon ist man, ein Wimpernschlag, wieder im Dort und Dann: Dem Es war einmal der eigenen Kindheit. In die man sich zurücksehnt, seit man er­wachsen ist.

 

Wer es nicht kennt, dem kann man es wohl nicht erklären. Ich versuche es trotzdem. Aber nicht für die, denen diese Zeit und Raum überspringende Sehnsucht fremd ist, sondern für mich selbst. Denn es ist zum Verzweifeln. Je älter ich werde, desto seltener spüre ich das Verlorensein, das in Wahrheit ein Angekommensein (gewesen) ist. Wie sage ich’s? Denn genau darum geht es letztlich: Ist das nur in völliger Unmittelbarkeit zu Erlebende ausgesprochen, wird auch nur der Versuch unternommen, Worte zu finden, ist das Gefühl sofort futsch. Ich darf einfach nicht neben mir stehen, wenn es über mich kommt, dieses Ziehen, und tue es doch, weil ich es ja in dem Mo­ment, da es wie aus dem Nichts da ist, unwillkürlich tue. Da ich es ja ansonsten gar nicht wahrnähme. Es ist zum Verrücktwerden! Wahrgenommen und im Augenblick des Wahrgenommenseins da­hin…

Oder mal so und ein wenig ausführlicher. Ich will, ich muss das in Worte fassen, was in Worte zu fassen, ich wiederhole mich, nicht geht.

 

Der Frühling hält Einzug. Schneeschmelze. Es sickert und sintert. Die Schneeglöckchen lugen bereits aus dem grobkörnigen, wässri­gen Schnee hervor. Und auch die schlanken grünen Blätter der Kro­kusse mit dem sich längsseits ziehenden weißen Strich haben sich aus dem Erdreich hervorgekämpft. Ihre schlanken Blüten, noch ins Weiße eingesponnen, drängen ans Licht. Sehnen sich nach der Wär­me der Sonne. Wenn die Natur erwacht. Klingt nichtssagend kit­schig. Hat aber was davon. Frisches Grün, Grasbüschel hier und da, wo ansonsten alles noch braun-grau ist. Die Knospen an den Büschen auf den Knicks, die die Felder einfassen, schimmern kaum wahrnehmbar grün. Dort, im Schutz des Strauchwerks, werden sich in naher Zukunft die wilden Stiefmütterchen mit ihren weiß-gelb­lichen oder lilafarbenen Blütenkelchen ausbreiten. Oder, an derselben Stelle, wird das wuchernde Scharbockskraut zitronengelb leuchten. Und in den Wäldern steht, dicht an dicht, das Buschwindröschen – ein viel treffenderer Name als Wilde Anemone – mit sei­nem farnartigen, vielgliedrigen Blattwerk.

 

Ich werde am heimlichen Ort, dort, wo mich niemand sehen kann und keiner stört, hingestreckt liegen (gelegen haben), die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut spüren (gespürt haben) und mich in den Anblick der ersten Blüten dieses Frühjahrs verlieren (verloren haben). Hält man den Kopf ganz nah an den Bo­den und konzentriert sich ganz aufs Riechen, steigt einem ein warmer, erdiger Geruch in die Nase. Viel intensiver noch dann, wenn man seine Hand in die Erdkrume bohrt. Das riecht, ganz dicht an die Nase gehalten, so warm-satt. Nach Leben. Fruchtbarkeit. Über den blauen Himmel ziehen vereinzelt Schäfchenwolken, in der Fer­ne hört man ganz schwach das Tuckern eines Traktors und am Him­mel zieht ein Propellerflugzeug mit sanftem, hellem Brummen seine Bahnen.

 

Das ist für mich die Atmosphäre des Frühlings gewesen, und wenn ich, viel später dann, an diese selig-verlorenen Augenblicke zurück­denke, überkommt mich ein Schmerz, ich verspüre dieses Ziehen, weil ich wieder dorthin zurück will, wieder genauso wie als Kind empfinden möchte, dieses Gefühl, geborgen zu sein, sicher, so, als ob einem nichts passieren, zustoßen könnte. Wie außerhalb der Zeit. Als ob es kein Vergehen gibt. Es ist zum Verzweifeln, lediglich noch eine Ahnung dieses Gefühls erhaschen zu können, es nicht festhal­ten zu können, weil es in dem Moment bereits wieder verflogen ist, in dem man sich auf es konzentriert, weil man es unbedingt fest­halten möchte. – Damals bin ich gewesen, was ich, aus heutiger Sicht, lediglich war. Oder, mit Schiller, so: Die Kinder „sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen (besser: wohin es uns als Erwachsene zieht, so dass dieses Wohin nicht mehr jenes Woher des Es war einmal sein kann …). Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit (des Komponisten, s. u., F.-P.H.), zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale (das das zu sich selbst gekommene, reflektierte (und folglich Nicht-mehr-) Naive ist, F.-P-H.), daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.“ (Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, Stuttgart 1978, S. 4 f.)

 

Was ist das Geheimnis dieser Augenblicke gewesen? Dass ich mich einfach nur hingegeben habe, ganz konzentriertes Aufmerken gewe­sen bin, alles, was nichts mit diesem Ort zu tun hatte, war wie selbst­verständlich ausgeblendet. Es existierte für mich in diesem Moment wirklich nichts anderes als dieser Knick mit seinen Frühlingsblu­men, die Sonne, der Himmel, die wenigen Wolken, der Traktor und das Flugzeug. Und, nicht zu vergessen, das Zwitschern der neu zum Leben erwachten Meisen und Spatzen als permanentes Hinter­grundgeräusch, das, seiner Zartheit wegen, kaum ins bewusste Wahrnehmen trat. Es war ein auf den Punkt konzentriertes Wahrnehmen, bar jeden, und sei es auch noch so kindlichen, Gedankens. Keine Pläne geisterten im Kopf herum, keine Verabredung mit Freunden hatte Bedeutung, und die Erinnerung an die lästige Pflicht des täglichen Schulbesuchs existierte in und bei diesem Betrachten nicht. Die reale Welt hatte aufgehört zu sein. „Woraus auch das Seltsame aufgeht, daß noch kein Mensch richtig da ist, lebt. Denn Leben heißt doch Dabeisein, heißt nicht nur Vorher oder Nachher, Vorgeschmack oder Nachgeschmack. Es heißt den Tag pflücken, im einfachsten wie gründlichen Sinn, heißt sich zum Jetzt konkret verhalten. Aber indem gerade unser nächstes eigentlichstes, unaufhörliches Dabeisein keines ist, lebt noch kein Mensch wirklich, gerade von dieser Seite her nicht.“ (Das Prinzip Hoffnung, Erster Band, a.a.O., S. 341)

 

Es gibt diesen finalen Satz von Ernst Bloch, der – der Schlusssatz seines magnum opus und ein geheimnisvolles Versprechen – so endet: … „so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“. (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Dritter Band, stw, 1973, S. 1628) Der knorrige, humorvolle Pfeifenraucher hat sich darunter vermutlich, sofern überhaupt (das „Dunkel des gerade gelebten Augenblicks“ steht dagegen), etwas ganz anderes vorgestellt, aber ich spüre in diesem Satzfragment mein Empfinden: Eine Sehnsucht, die als solche gar nicht wahrgenom­men worden ist, weil sie, damals, in diesen seligen Augenblicken, wie selbstverständlich gestillt wurde.

 

Aber diese Sehnsucht ist das Gefühl, das mich befällt, über mich kommt, wenn mir klar wird, dass dieses Leben der Unmittelbarkeit des Da-seins – das ist für mich Heimat –, die sich in keiner Differenz zu nichts mehr befindet, ein für alle Mal dahin ist und nicht wie­derkehrt. Ein Weh-Froh-Gefühl (siehe oben, das Schiller-Zitat) ist es trotz allem auch. Weh, aber das sagte ich bereits. Froh, weil ich es, und sei es auch bloß im Be­wusstsein des endgültigen Verlusts, eben doch noch momentweise mehr erspüre als wahrnehme, eine Ahnung davon erhasche. Dort zu sein, wo man hingehört, angekommen zu sein, ohne über das Ankommen nachdenken zu müssen. Weil ich eins bin mit dem, was mich umgibt. „Echtere Berührung des Moments gibt es einzig in starken Erlebnissen“ (Das Prinzip Hoffnung, Erster Band, stw, 1973, S. 342), die in und gerade trotz ihrer Stärke im Subkutan-Intensiven, nicht-gegenwärtigen Gegenwärtigsein verbleiben. Denn was „er webt, weiß kein Weber, oder: Am Fuß des Leuchtturms ist kein Licht“. (A.a.O., S. 344)

 

Dieses Gefühl für eine in die Zeitenferne entschwundene Realität, die nicht wiedererstehen kann, verursacht dieses Ziehen, dieses Va­kuum in den Eingeweiden, diese Trauer und lebt, ein letztes schwa­ches Aufflackern, von dem ahnenden Erspüren dessen, was einem (Schiller … erneut) als Kind ganz zuteilgeworden ist. – Wer klanglich nachempfinden will, wie es sich mit dieser spezifischen Einkehr verhält, der lau­sche den ganz und gar unaufgeregten Harmonien des zweiten Satzes der Pastorale Ludwig van Beethovens mit ihrem traurig-schönen Ab­schiednehmen durch die den Ruf des Kuckucks nachahmende Querflöte, die Oboe und die Klarinette. Oder er öffne sein Ohr für das im Anschluss an den regengepeitschten Gewittersturmaufruhr so ganz anders klingende begütigende Finale mit seinem weh-frohen ‚Leb mir wohl‘ der Hörner.

 

Spräche man mit einem Kind darüber, bestünde die Gefahr, dass es seine Kindheit im Nu verlöre, weil es schlimmstenfalls und wie auch immer naiv-befangen anfinge, auf etwas zu reflektieren, das die Reflexion flieht und nur, ganz und gar auf sich selbst gestellt, bei sich in absoluter Identität – im ‚Dunkel des gelebten Augenblicks‘ – gedeiht. Zurück auf Los: „Der gelebte Augenblick selber bleibt mit seinem Inhalt wesenhaft unsichtbar, und zwar desto sicherer, je energischer Aufmerksamkeit sich darauf richtet: an dieser Wurzel, im gelebten Ansich, in punktueller Unmittelbarkeit ist alle Welt noch finster.“ (Das Prinzip Hoffnung, Erster Band, stw, 1973, S. 338)

 

Ein Kind, das zu diesem Erleben befähigt ist, sollte so lange wie möglich Kind bleiben und, ganz Hingabe, vorbewusst erleben, was zu erleben auch ihm irgendwann und unvermerkt abhandengekom­men sein wird. Ob ihm dann, wie mir, dieser Verlust bewusst werden wird? Ich wünsche es ihm. So weh es tut. Weil man dann, jedenfalls für einen Wimpernschlag, eine Ahnung davon hat, was man zwar verloren hat, aber einmal mit Haut und Haar über lange Zeiträume hinweg, ohne zu wissen, was für ein Glück einem geschah, gewesen ist. Sofern man es denn gewesen ist… Wie es Mozart im – antizipierend-gelungenen (begonnen-vollendet) – Vorgang des Komponierens gegangen ist: „Das erhitzt mir nun die Seele, da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ich’s hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen.“ (A.a.O., S. 368) Das werdende Gewordensein der der Zeit enthobenen Zeitkunst, d. i. der Musik, als eines antizipierend-geschlossenen Kosmos‘ des distanzlos-geglückten-glückhaften-differenzlosen Hier- und Daseins des hochgradig Differenziert-Einfachen. Das zuhöchst vielgestalte Simple in seinem vermittelt-unmittelbaren Gelungen- und Beisichsein in Worte zu fassen kann manchmal ganz schön kompliziert sein…


Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung

Werkausgabe

Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985

ISBN 3-518-28154-2.

Auch antiquarisch erhältlich

 

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