Meinung

„Principiis obsta, das ist, Treue zum Anfang, der seine Genesis erst noch hat.“ (Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie 2, es, 1972, S. 179)

Doch was hilft es, wenn die Kräfte nicht ausreichen. Pläne zu schmieden mag das Privileg der Jugend sein. Die Frage aber ist: schließen sich Taten an? Oder sind die Pläne von vornherein nichts anderes als Luftschlösser gewesen? Die womöglich nur zu dem Zweck publik gemacht, also im Freundeskreis bekannt gemacht worden sind, um sich den Schein von Interessantheit zu geben, Eindruck zu schinden, indem man Aufmerksamkeit erregt.

 

Genau dieser Gestus des Auftrumpfens, der gar kein reales Begehren von wie auch immer verschwommen Realem ist, weil er stets bloß sich selbst im Schilde führt, wird heute durch den belächelns- oder bemitleidenswerten Drang komplettiert, irgendwelchen Vorbildern, deren Bedeutung, als öffentlich anerkannte, außer Frage steht, nachzueifern; eine lächerliche Kopie des Originals zu sein. Dabei wusste schon Schopenhauer, was von den unfreiwillig Geständigen, nämlich von plagiierenden Nachbildnern zu halten ist, bzw. was sie, ohne es freilich zu wissen und zu wollen, von sich selbst halten: „Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist viel schimpflicher als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit, von sich selbst ausgesprochen.“ Diese pfiffige Anmerkung ist als kritischer Seitenhieb heute mehr denn je der Beherzigung wert, weil in sämtlichen Medien der Öffentlichkeitsarbeit immer wieder einmal verkündet wird, der Jugend von heute gehe genau das ab: glaubwürdige, weil der Nachahmung werte Vorbilder, die, ihrer öffentlich beglaubigten Vorbildhaftigkeit wegen, auch keine Verführer, die es natürlich auch gibt, und vor denen zu warnen der Botschaft zweiter Teil ist, sein sollen; indem sie der Jugend zu einem öffentlich anerkannten Selbstverständnis ihrer selbst und der darin beschlossenen Zukunft verhelfen. Die dann auch exakt so ausfällt: eintönig repetitiv in der Adaption des gesellschaftlich Sanktionierten. So dass für wirkliches Planen und Inangriffnehmen eines anderen Morgen, der nicht von vornherein durch die Verhaltens- und Denkmaßregeln des Gestern und Vorvorgestern um sein Noch-Nicht betrogen worden ist, ohnehin kein zu besetzender Platz vorgesehen ist.

 

Ingeborg Bachmann COVER PiperEs gibt diesen Blick eines Menschen, der in der fernsichtigen Verlorenheit reflexionslos-unbewusst ausdrückt, was das ist: im Hingegebensein an beispielsweise den musikalisch-künstlerischen Moment in seiner ausdehnungslosen Dauer, in dieser Weite des eingelösten Versprechens von rückhaltlosem Gelungensein ganz – tief-offen-entrückt-präsent – bei sich zu sein. „Was ist dieser Akkord, mit dem die wunderliche Musik Ernst macht und dich in die tragische Welt führt, und was ist seine Auflösung, mit der sie dich zurückholt in die Welt heiterer Genüsse? Was ist diese Kadenz, die ins Freie führt?! – Wovon glänzt dein Wesen, wenn die Musik zu Ende geht, und warum rührst du dich nicht? Was hat dich so gebeugt und was hat dich so erhoben? – Auf deinen Wangen stehen Rosen, aber dein Mund ist weiß geworden, als hätt‘ er Dornen zerdrückt. Dein Aug schwimmt, aber du schwenkst deine Wimpern nicht. – Was hörst du noch, weil du mich nicht hören kannst, wenn die Musik zu Ende ist? – Was ist es?! – Gib Antwort! – ‚Still!‘ – Das vergesse ich dir nie.“ (Ingeborg Bachmann, Musik, in: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, München 2011, S. 53)

 

Der gemeinte Blick kann auch einer des Werks sein – des Kunstwerks oder des literarisch-wissenschaftlichen –, dem man, nämlich an seinem ‚Blick‘, ansieht, was es mit seinem Werkcharakter auf sich hat. Diese Werke sind – und das ist bereits ihrer jeweiligen Sprache abzumerken, und zwar, kaum dass man sie in ihrem jeweiligen Medium zu rezipieren begonnen hat – von einem Ernst und einer Bereitschaft zum Alles oder Nichts durchtränkt, der höchsten Anforderung an sich selbst und an die Fassungskraft dessen, der dazu bereit ist, es mit ihnen aufzunehmen. Das Ringen, womöglich bis auf den Grund des Themas – das kein rein musikalisches sein muss – in unablässigem Streben, das sich durch keinen noch so großen Widerstand seine Arbeit nicht nur nicht sauer werden, sondern, im Gegenteil, sich exakt durch dieses im Material liegende Widerstreben erst recht anspornen lässt, um, im Falle des Gelingens ein Werk lichtvollster Klarheit und Prägnanz der gebändigten Fülle hervorgebracht zu haben, ist das so Auszeichnende wie Seltene dieser manifest gewordenen Unbeirrbarkeit in einem Ringen, das den Sieg davongetragen hat.

 

Aber es gibt ihn, den „Rezeptivitäts-Widerstand“, und er ist nicht etwa die Ausnahme, sondern die Regel. Was nicht wundernimmt, ist es doch das zentrale Ansinnen jeder Gesellschaft und der sie organisierenden ersten Gewalt, alles als nicht angemessen Beargwöhnte ins nicht immer bloß gedankliche Abseits zu stellen. „Ja sogar der bloße Rezeptivitäts-Widerstand, wenn er sich gegen Geniewerke sperrt (und etwa hinsichtlich des späten Beethoven der Ansicht zuneigte, er sei, seines längst nicht mehr geheuren Komponierens wegen dem Wahnsinn verfallen, denn er „stand ja wie ein fremdartiger, waldmäßiger Riese mitten unter den galanten Meistern“. In Beethovens Sinfonik „schäumt unsere Seele zu den Sternen auf in dem ersten rauhen, sturmgepeitschten, sprechenden Meer dieser Musik. Beethoven ist Luzifers guter Sohn, ist der führende Dämon zu den letzten Dingen.“ Ernst Bloch, Geist der Utopie, stw., 1973, S. 79, 84, F.-P.H.), sie über die Maßen nicht versteht oder nur Ärgernis an ihnen nimmt, leitet sich, trotz des eingemischten, der Psychoanalyse zugehörigen Ressentiments, am Ende von einer Unlust zu der Schwierigkeit des sachlich Neuen her.“ (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Erster Band, stw., 1959, S. 146)

 

Das also ist der Rezeptivitäts-Widerstand beim ganz und gar ungeneigten (Nicht-) Rezipienten. Aber, wenn oben von einem glückhaften Gelingen trotz oder vielmehr wegen der zu bewältigenden Materialschwierigkeiten die Rede war, dann sind es diese Schwierigkeiten, die als zu meisternde Gefahr den Weg zum intendierten und in seiner Strahlkraft zunächst lediglich ahnungsvoll antizipierten Ziel immer wieder auch zu einem steinigen werden lassen. „Aller Anfang ist in diesem Gebiet schwer, desto schwerer, weil eben das Neue, in das die produktive Pionierschaft geht, wesentlich auch eines der heraufkommenden Sache an und für sich ist (Durch die sich, wie erwähnt, die letztlich durch nichts zu erschreckenden Pioniere aber nicht nur nicht imponieren lassen, sondern was bei ihnen die unerschrockene Einstellung des „jetzt erst recht“ zur Folge hat, was in ihren dann eben doch vollendeten Werken der überall heraushörbare, erspürbare strahlende Grundton des freudigen Angekommenseins ist, F.-P.H.). Nur deshalb also treten die neuen Wahrheiten als die des objektiv Neuen in ihrer Artikulierung so zögernd vor und immer nur als astra per aspera. Leicht beieinander wohnen die Gedanken lediglich als Plan oder als Skizze, aber ein Schritt weiter, und die konkrete Schwierigkeit des Werks beginnt.

 

Bewirkt sie doch auch bei ausreichendem Können, und gerade bei ihm, die vielen zurückgeworfenen Expeditionen im Atelier, im Laboratorium, in der Studierstube, die zahllosen Schlachtfelder ohne Sieg oder mit hinausgeschobenem. Item, gar nichts Verdrängtes, sondern Schwierigkeit des Wegs ist im Noch-Nicht-Bewußten, Noch-Nicht-Gewordenen dasjenige, was der Produktivität zu schaffen macht (Sie ist der Stachel im Fleisch des zur Produktivität Aufgelegten, dessen Bereitschaft, alles in die Waagschale zu werfen und sich mit dazu das Pfand des schließlichen Gelingens ist oder sein kann …, F.-P.H.). Die Gründe hierfür liegen ausschließlich auf dem Terrain der Sache, als einem noch nicht abgeschlossenen, gar glatt arrondierten; kurz, es gibt eigene Hüter der oberen Schwelle, und sie liegen im Material.“ (Ebd.)

Denn freilich, es existieren auch selbstgemachte und selbst zu verantwortende Schwierigkeiten, von denen nicht die geringste die ist, sich den Gänsemarsch der Phrase zur zweiten Natur gemacht zu haben. Also das Wiederkäuen dessen, was als das allseits Anerkannte wie selbstverständlich in aller Munde ist, und worauf man überhaupt keinen Gedanken mehr zu verschwenden braucht. Weil es sich nämlich, als über jeden Zweifel erhaben, von selbst versteht. Eine „nachwirkende Statik des reaktionär Ruhebedürftigen, diese fertig abgemachte, abgeschlossene Anamnesis-Welt“ (A.a.O., S. 158f.) lastet bleischwer auf den Köpfen der meisten Menschen.

 

„Denn wer die Regeln gutheißt und in das Spiel eintritt, wirft den Ball nicht übers Spielfeld hinaus.“ (Ingeborg Bachmann, Wozu Gedichte?, in: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, a.a.O., S. 104) Und das Verheerende daran ist, dass sie sich in dieser habituell gewordenen Verdummung wie der Fisch im Wasser, also bestens aufgehoben und von den Meinungsmachern im öffentlich-rechtlichen Raum in der Regel auch gut bedient fühlen. Was ironischerweise auch auf diejenigen zutrifft, die mit bloß einem Wort – Lügenpresse – bereits alles gesagt zu haben glauben. Weil sie nämlich nur das negative Abziehbild derer sind, gegen die sie sich, ohne auch nur ein Argument in den denkerischen Raum gestellt zu haben, irrtümlicherweise abzugrenzen glauben. Denn der gedanklichen Verarbeitung bedürftige Argumentationszusammenhänge sind hier wie dort nicht im entsprechend geistfeindlichen Angebot. Was man daran merken könnte, dass die gestellten Fragen stets bereits – Rhetorik! – sich selbst beantwortende Fragen, also das Gegenteil ihrer selbst sind. Das unendlich eintönige Wiederkäuen dessen, was man ohnehin längst weiß und als das Unwidersprechliche bei Bedarf und auf Rückfrage Zustimmung heischend – wer immer „nur mit dem Kopf nickt, wird bald einschlafen“ – absondert.

 

„Wer sich nur dem Zug des Vorstellens überläßt, kommt wenig weit. Er sitzt nach kurzem in einer allgemeinen Gruppe von Redensarten fest, die sowohl blaß wie selber unbeweglich sind. Die Katze fällt auf ihre Füße, aber der Mensch, der nicht denken gelernt hat, der aus den kurzen, den üblichen Verbindungen des Vorstellens nicht herauskommt, fällt ins ewig Gestrige. Er wiederholt, was andere wiederholt haben, er treibt im Gänsemarsch der Phrase. (…) Was aber bei der Sache sich befindet, indem es mit der Sache geht, auf ihren unausgetretenen Wegen, wird mündig, kann endlich Freund und Feind unterscheiden, weiß, wo das Rechte sich anbahnt. Trott am Gängelband ist bequem, aber energischer Begriff ist mutig, gehört zur Jugend und zu Männern.“ (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, st., 1972, S. 17f.)

 

Auch Ingeborg Bachmann ist exakt diesem phrasenhaft-geistlos-angepassten Nachtraben im Trott des Gewohnten mit dem Abscheu der willentlich Vereinsamten – „wenn die Tür zufällt zu dem Zimmer, in dem ich arbeite, dann gib es keinen Zweifel: Denken ist solitär, Alleinsein ist eine gute Sache“ (Ingeborg Bachmann, Zugegeben, in: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, a.a.O., S. 141.) – begegnet. „Die Abscheulichkeit des Alltags“ habe sie zeitlebens verfolgt. „Denn was wir haben, das ist Nichts“. Alles sei Zerstörung, dem auch sie sich, im Wissen um die Vergeblichkeit ihrer Anstrengung, schreibend entgegengestemmt habe. Gegen den täglichen Zeitungswahnsinn und das blutrünstige Wirtshaus- und Stammtischgewäsch setzte sie das Mittel des „Phrasenzerschreibens“, wie sie es genannt hat. Man müsse, so erläutert sie dieses merkwürdig treffende Wort, „verletzbar“ sein und „unabgesichert“. Dazu bereit, „ins Messer zu laufen“, sich am „Rande des Scheiterns“ zu bewegen. Aber das Wichtigste überhaupt bestehe wohl darin, „sich das Leichte zu verbieten. Je klarer wir uns ausdrücken“, und das ist nur scheinbar ein Paradox, „desto dichterischer werden wir sein. Ein Schriftsteller kann sich nicht der vorgefundenen Sprache, also der Phrasen, bedienen, sondern er muß sie zerschreiben. Und die Sprache, die wir sprechen, und die fast alle sprechen, ist eine Sprache aus Phrasen. Ich habe keine Ansichten, denn in der Ansicht, in der Meinung, ob sie nun durch die Zeitung kommt, oder ob sie an einem Wirtshaustisch von sich gegeben wird, regiert die Phrase, und zwar unweigerlich die Phrase. Ein Schriftsteller hat keine Worte zu machen, das heißt, er hat keine Phrasen zu verwenden. Es wäre das Leichteste, und das Leichte muß man sich verbieten. Die Schriftsteller werden wirklich erst abdanken müssen, wenn sie nur noch die Phrasen im Mund haben, die die anderen auch haben. Hingegen, Wachheit, Erinnerung und Klarheit sind vonnöten, und je klarer wir uns ausdrücken, umso dichterischer werden wir sein.“ Für sie gebe es „kein Glück mehr“ als in ihr selbst, das bedeute, in ihrer „Kunst“. Nur durch sie sei sie „an das Leben“ gefesselt. (Vgl. Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises, in: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, a.a.O., S. 94 ff.)

 

Und eine andere lebende Künstlerin, die Geigerin Hilary Hahn, hat den zentralen Gedanken der Österreicherin in diese Worte, in denen sie nicht allein auf ihr Violinenspiel reflektiert, gefasst: „It’s a fault trying to replicate what you think that the people want you to do. But replicating is never the way to convince people that you know what you are doing.” Das hat eine damals 25jährige Künstlerin in einem Interview verlauten lassen, die eben nicht den einfachen Weg der Angepasstheit und des sich eines fragwürdigen Erfolgs versichernden Anpassens gegangen ist.

 

Ingeborg Bachmann würde sich in den Worten Hilary Hahns wiedergefunden haben, da sie doch der festen Überzeugung war, dass Musik „der höchste Ausdruck“ sei, „den die Menschheit überhaupt gefunden“ habe. (Aus dem Nachlass Bl. 2352, 2353)

Genauso wahr aber ist auch dieses hier: „wo alles immer wieder neu sein soll, bleibt ebenso alles beim alten.“ (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Erster Band, a.a.O., S. 159) Denn „der pragmatische (oder als innovativ gepriesene, F.-P.H.) Flachsinn hat längst den Sieg davongetragen“. (Ingeborg Bachmann, Tagebuch, in: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar a.a.O., S. 70) Und auch darin dürfte sich der Philosoph des gelehrt und umsichtig in Angriff zu nehmenden Noch-Nicht mit der Klagenfurterin einig gewesen sein, dass der „Kommunismus (…) Luxus sein“ müsse, „oder er wird nicht sein“. (Ingeborg Bachmann, Jede Jugend ist die dümmste, a.a.O., S. 133) Vielsagend jedenfalls ist das hier: „Wie es neue Zündungen geben könnte? Es ist schwer zu sagen. Die Spezialisten, die Experten mehren sich. Die Denker bleiben aus. Vielleicht wird (…) Ernst Bloch eine Wirkung tun. Reine Vermutungen.“ (Ingeborg Bachmann, Frankfurter Vorlesungen, München 1982, S. 24)


Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung

Werkausgabe

Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985

ISBN 3-518-28154-2.

Auch antiquarisch erhältlich

 

Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar

Herausgegeben von: Christine Koschel, Clemens Münster, Inge von Weidenbaum

Piper Verlag

192 Seiten, Broschur

ISBN 978-3-492-27257-5

 

Lesen Sie Teile 1 und 2 hier

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