Meinung

Paul Nicolai Hartmann wurde am 20. Februar 1882 in Riga geboren. Er studierte zunächst Medizin im estländischen Dorpat, anschließend Philosophie in St. Petersburg, bevor er 1905 an die Marburger Universität wechselte.

Dort promovierte er 1907 bei Paul Natorp und Hermann Cohen. 1909 folgte seine Habilitation. Bis 1920 war er Privatdozent, danach Professor in Marburg. 1925 erfolgte seine Berufung nach Köln, 1931 nach Berlin. Seit 1946 lehrte er in Göttingen. Er ist am 9. Oktober 1950 in Göttingen gestorben.

 

Die Philosophie der Natur. Abriss der speziellen Kategorienlehre von 1950 (zitiert nach der zweiten, unveränderten Auflage, Walter de Gruyter. Berlin, New York 1980) ist der vierte und letzte Band von Nicolai Hartmanns ontologischer Kategorienlehre. Vorausgegangen sind Zur Grundlegung der Ontologie, Möglichkeit und Wirklichkeit und Der Aufbau der realen Welt, der den Grundriss der allgemeinen Kategorienlehre enthält.

 

Das Tragische dieses Gelehrtenlebens besteht darin, dass dieser Begründer einer neuen, kritisch gefassten Ontologie, der der Meinung war, am Anfang einer sachhaltigen, wissenschaftlich fundierten Grundlagenforschung zu stehen, keine nennenswerten Nachfolger gefunden hat. Das hat mehrerlei Gründe, entscheidend aber dürfte sein, dass der von Hartmann stets gesuchte Kontakt zu den Spezialwissenschaften von diesen bis auf ganz wenige Ausnahmen letztlich unbeantwortet geblieben ist.

Zwei Beispiele mögen das vorläufig verdeutlichen helfen. Wenn der Physiker von Dimensionen spricht, dann meint er ausnahmslos messbare Größenarten. Jede zweckmäßig beschriebene Dimension enthält eine zusammengefasste Messvorschrift für die betreffende physikalische Größe. Er kennt deren vorerst sieben, die sogenannten Grundgrößen: Länge, Zeit, träge und schwere Masse, Temperatur, elektrische Ladung und magnetischen Fluss.

 

Nach Hartmann dagegen ist dies ein zu eng mit der Messbarkeit verquickter Dimensionsbegriff. Dimensionen, wie beispielsweise der Raum oder die Zeit, sind vielmehr Substrate möglicher Messung, selbst jedoch, weil größenlos, nicht ausmessbar und folglich auch nicht mathematisch berechenbar. Dass der physikalische Begriff der Dimension sich in einer Messvorschrift zusammenfasse, sei zwar verständlich, da es dem Physiker letztlich um aus Messreihen abstrahierte Funktionsgleichungen, also um einen an der Mathematik orientierten Gesetzesbegriff geht. Dieser innigen Verbindung mit der reinen Mathematik verdanke sie ja schließlich ihre ungeheuren Fortschritte im Laufe der letzten 400 Jahre. Nichtsdestotrotz gelte, dass ihr Dimensionsbegriff zu eng gefasst sei. Nicht Dimensionen sind ausmessbar, sie sind weder endlich noch unendlich, da sie vielmehr überhaupt keine Größe haben noch solche sind, sondern sie liegen jeglicher Größenbestimmung, allen Prozessabläufen, Verhältnisbestimmungen etc. zugrunde.

Und hier liegt die zweite unüberbrückbare Differenz zum Vorgehen des Physikers. Er fragt nicht nach dem Wesen von was auch immer, sondern er experimentiert, indem er die Natur methodisch befragt, Messreihen erstellt und nach Möglichkeit Funktionsgleichungen konstruiert, in denen eindeutige Abhängigkeiten zwischen variablen Größen erkennbar, bestimmbar und voraussagbar sind. Der Physiker will also beispielsweise nicht in die substantielle, dinghafte Natur der Verbindung von Atom und Atom eindringen, sondern lediglich die Tatsachen dieser Verbindung nach allgemeingültigen, quantitativen Ordnungsprinzipien in einem mathematisch fassbaren Gesetzesbegriff darstellen.

 

Nicht bloß in Hartmanns Philosophie der anorganischen und organischen Natur dagegen wird nach den grundlegenden Prinzipien oder Kategorien, dem die konkreten Phänomene Bestimmenden im Aufbau der realen Welt gefragt. So etwas werden Physiker und Biologen allenfalls als haltlos spekulative Metaphysik belächeln. Ob zurecht? Man wird sehen. Denn, um dem Leser auf das Kommende Lust zu machen: Hartmann wartet mit einer Kritik an Einsteins Raum- und Zeitlehre auf, die in ihrer Wohldurchdachtheit etwas Bestechendes hat. Sie aber ist das Ergebnis seiner Überlegungen zu den beiden Dimensionen des Realraumes und der Realzeit.

 

Es ist immerhin wünschenswert, dass Physiker vom Fach Hartmanns Argumentation jedenfalls zur Kenntnis nehmen, um sie gegebenenfalls als fehlerhaft zu widerlegen. Das ist, bis heute, soviel ich weiß, nicht geschehen, aus dem einfachen Grund, weil Hartmann nicht mehr gründlich und vorurteilslos gelesen wird, wie übrigens schon zu Lebzeiten nicht, wogegen er sich, wiederum folgenlos, an verschiedenen Orten argumentativ zur Wehr gesetzt hat.


An dieser, man muss es so deutlich sagen, nimmermüden Ignoranz nach Möglichkeit etwas zu ändern, ist die Absicht dieser Artikelfolge. Sie soll neugierig machen auf das Original, aus dem ich hier einiges von dem, was mir wichtig erscheint, darbiete. Denn Hartmann kritisiert mit, wie ich finde, guten Argumenten unreflektiert gemachte Voraussetzungen der exakten Wissenschaften, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten und deshalb der Revision bedürftig sind. Überaus schade übrigens ist es, dass Einstein dieses Werk nicht gekannt, sich jedenfalls nicht öffentlich über Hartmanns Einwände geäußert hat. Vielleicht lassen sich Berufene herbei, hier in die Bresche zu springen. Dafür, klüger zu werden, ist es nie zu spät.


Ernst Cassirer PortraitAndere Vertreter ihres Fachs hatten, nebenbei, mehr Erfolg mit ihren Bemühungen, heißt, fanden Anschluss an den Zeitgeist. Ernst Cassirer, der seit einiger Zeit wieder so etwas wie eine Renaissance erlebt, suchte gleichfalls den Kontakt zu den Wissenschaften. Als Beispiele seien hier bloß seine von Einstein mit Beifall bedachte Arbeit Zur Einsteinschen Relativitätstheorie von1921 und sein vierbändiges Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906-1920/1950) genannt.

 

Bereits der Titel der letztgenannten Arbeit allerdings verrät, dass Cassirers Interesse vorwiegend der gnoseologischen Problematik gegolten hat. Will heißen, er forschte den Wandlungen in der Herangehensweise des menschlichen Intellekts bei seiner Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt nach. Kurz gesagt: Jeweils anderen Arten der Schau entsprechen jeweils andere (symbolische) Welten. Grob gesagt gibt es im Umfeld der Naturwissenschaften die alte, an Dingbegriffen orientierte, substanzialistische und die neue, an der Konstruktion von Relationen arbeitende funktionalistische Methode. Mathematisch verflüssigtes Beziehungsdenken kontrastiert dinghaft verfestigter Metaphysik. An die Stelle zu negierender selbständiger, für sich bestehender Eigenschaften ist die Relation eines dynamischen Beisammen getreten. Dies ist, in summa, die Position der Erkenntnistheorie, der Cassirer, wie seine Lehrer Natorp und Cohen, stets, im Unterschied zu Hartmann, verpflichtet geblieben ist.
Denn Hartmann unterscheidet ausdrücklich zwischen der wissenschaftlichen Formel eines Naturgesetzes und dem wirklich in der Natur bestehenden Gesetz. Jene kann also ihr Allgemeines treffen, verfehlen oder zum Teil mit den realen Prozessabläufen übereinstimmen. Aber auch wenn sich im Fortschritt der Erkenntnis die Anpassung durch das Auffinden einer modifizierten oder erweiterten Formel vorantreiben lässt, „ist die verbesserte Formel noch nicht das Naturgesetz selbst“. In der Wissenschaftstheorie hingegen spricht man „dauernd vom ‚Naturgesetz‘ und bemerkt gar nicht, daß man das wirklich in den Naturvorgängen waltende Gesetz nicht einmal meint, geschweige denn es hat. Und hält man dem verbohrten Theoretiker seine Denkunsauberkeit vor, so bekommt man darauf womöglich zu hören: ‚Von der Natur selbst können wir gar nichts wissen, wir haben nur die Begriffe, Urteile und Formeln der Wissenschaft …‘ Auf diese Weise wird natürlich alles in die skeptische Zweideutigkeit hineingezogen. Dann nämlich ist die“ derart pur methodisch gewordene Naturwissenschaft „streng genommen gar nicht mehr Wissenschaft von der Natur selbst“, sondern eine einzige Frage nach dem so oder so oder …, d. h. beliebig einzunehmenden Standpunkt, „ein bloßes Spiel mit Begriffen und Formeln. Sie steht ihrem Gegenstande entfremdet da (sic!), kennt ihn zuletzt gar nicht mehr“ oder nur noch als konstruktiv zugerichteten. – Aber Hartmann ist sich selbstredend darüber im Klaren, dass „die wirklich arbeitende Wissenschaft“ sich „natürlich keineswegs“ so verhält. „Sie kümmert sich auch – in gesunder Abwehr – nicht nennenswert um solche Auswüchse positivistischer Theorie (es sollte eigentlich heißen ‚negativistischer‘ Theorie). Aber sie rührt auch keinen Finger, das Knäuel erkenntnistheoretischer Mißverständnisse zu entwirren“. (421 f.)

 

Genau in diesem sich sachhaltig gebenden Methodenpluralismus aber – der formalen Begleitmusik zum seriösen Forschen – besteht die ungebrochene Aktualität moderner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Inhaltlich belang- und bedeutungslos haben sich ihre Vertreter eine Nische geschaffen, in der sie sich mit Verfahrensfragen der Wissenschaften herumschlagen, nach denen sich wahrscheinlich kein einziger Wissenschaftler richtet, es sei denn, dass er sich in seinen weltanschaulichen Mußestunden oder anlässlich von Preisverleihungen auf sie besinnt, in denen er sich irgendeiner der reichlich und zehn wissenschaftstheoretischen Lehrmeinungen meint anschließen zu müssen. Das hat übrigens selbst der doch sonst so abgeklärte Jahrhundertphysiker Einstein nicht anders gehalten.

 

Bei der Gelegenheit: an Heidegger, der eigentlich zentralen Figur der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts, fällt auf, dass er sich, genau genommen, mit gar nichts mehr beschäftigt hat. Vielleicht besteht exakt hierin der Reiz dieses Existenzialontologen bis auf den heutigen Tag, dass er mit dem Gestus des eingeweihten Sehers daherkommt, der, bis in die Sprache hinein, wie einer auftritt, der das Welträtsel gelöst hat, indem er das menschliche Da-Sein auf sein Sein überhaupt und als solches hin hinter-, und also nach einer puren, schlechterdings nichts bedeutenden Abstraktion fragt. Sein Alles ist das Nichts, oder umgekehrt: Dieser Meister und Schamane aus dem Schwarzwald, dessen Gehabe schon Thomas Bernhard in Alte Meister, ich kürze entschärfend ab, „zum K …“ fand – er apostrophierte ihn als einen „verheerend größenwahnsinnig(en) … Voralpenschwachdenker“ und als eine „totale Geistesniete“ – beherrscht die Zauberkunst der creatio ex nihilo, der er fragend standhält. Denn dass es am Sein nichts zu wissen und zu begreifen gibt, weiß Heidegger selbst am besten, weshalb er es letztlich beim fragenden Aushalten als der entscheidenden philosophischen Haltung belassen hat.

Diese sprachlich aufgemotzte geistige Askese kam und kommt bei vielen bis heute gut an, wohl nicht zuletzt deswegen, weil man sich, ohne sich in irgendetwas auskennen zu müssen, als Mensch mit unergründlichem Tiefgang ausgeben kann. Mit Heidegger und seinen Adepten ist der Irrationalismus zum Lebensprinzip in selbstdarstellerischer Absicht geworden.

 

Vor dieser Art billiger Effekthascherei nimmt sich Nicolai Hartmanns kritische, und das meint ganz ausdrücklich weltanschaulich nicht festgelegte und auch nicht festzulegende, allen Ismen skeptisch begegnende Ontologie in der Tat einigermaßen unspektakulär aus. Hartmann ist weder Wissenschaftstheoretiker im herkömmlichen Sinne noch befriedigt er das weltanschaulich-religiöse Bedürfnis nach Sinnsuche. Das und dass er, eine entschuldbare Inkonsequenz, bekennender Atheist war, ist ihm wohl, was die Rezeption seiner breit angelegten wissenschaftlichen Lebensarbeit betrifft, zum Verhängnis geworden.

 

Edmund Husserl PortraitHartmann versteht sich als Phänomenologe in der Nachfolge Edmund Husserls, ohne freilich, wie dieser, auf die rein logisch-formale Thematik beschränkt zu sein. Sein Begriff der Phänomenologie ist bei weitem umfassender und auch dem – stets konkret-gegenständlich ausgerichteten – Alltagsverstehen angepasster. Vorbehalt- und vorurteilslos werden nach Möglichkeit sämtliche sich darbietenden Sachverhalte zur Kenntnis, auf- und zunächst einmal unkommentiert hingenommen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um solche der anorganischen oder organischen Natur handelt, um solche des Seelenlebens oder des Bewusstseins. Oder schließlich auch des objektiv-geistigen Seins in all seinen Varianten.

 

Darüber hinaus ist Hartmann, in der Nachfolge des Aristoteles, dezidierter Problemdenker und Aporetiker. Es geht ihm nicht um, an vorgefassten Meinungen und weltanschaulichen Sinngebungsanliegen Maß nehmende, vorschnelle, einer bestimmten, kritik- und gedankenlos eingenommenen Einstellung geschuldete vermeintliche Lösungen. Sondern den bei der Kenntnisnahme der Phänomene sich aufdrängenden Fragen und Schwierigkeiten gilt seine ganz Aufmerksamkeit. Sie sucht er, ohne ein ungeduldig zum gewünschten Ziel strebendes und entsprechend ‚kurzatmiges‘ Systematisierungsbedürfnis, Schritt für Schritt, aufmerksam, bedächtig und gemächlich, einer sukzessiven Beantwortung zuzuführen, allenthalben irrationaler Problemreste gewärtig. So gesehen ist er ein extrem besonnener, an tragfähigen Problemlösungen interessierter Forscher, der sich, soweit das menschenmöglich ist, in den diversen Wissensgebieten als Fachmann ausweisen kann.

Und das gilt selbst für die Fundamentaldisziplin der reinen Mathematik, die, ihres Apriorismus‘ und ihrer Allgemeinheit halber, strukturbildend in den Bereich der anorganischen Physik hineinragt, beziehungsweise ihn mit ihren funktionalen Formbeziehungen trägt oder durchzieht. Denn weit gefehlt wäre es, wollte man nach dem oben Mitgeteilten annehmen, Hartmann habe der reinen Mathematik ausnahmslos skeptisch gegenübergestanden. Er weiß um ihre, auch historisch gesehen, ungeheure Bedeutung für den Erkenntnisfortschritt der klassischen mechanischen Physik, indem sie, als Infinitesimalrechnung, kontinuierliche Bewegungsabläufe und Beschleunigungsvorgänge überhaupt erst berechen- und bestimmbar machte. Das Unendliche als Spezialfall des Endlichen. Newtons Fluxations- und Leibniz‘ Differentialkalkül sind hier zu nennen, in denen das Größenverhältnis ‚verflüssigt‘ wurde. Das geschah vermittels der das Kontinuum erfassenden mathematischen Funktion, ausgedrückt in dem allgemeinen Schema ihrer Formel y = f (x). „In diesem fließenden Verhältnis nimmt y verschiedene Werte an, und zwar in strenger Abhängigkeit von den Werten, die x durchläuft. Ein solches fluentes Verhältnis faßt sehr wohl etwas vom Wesen des Prozesses selbst, nämlich seine quantitative Seite, und zwar auch gerade sofern der Übergang der Werte von x und y ein stetiger ist.“ (407 f.)

 

Zu bedenken allerdings ist, dass die „eigentliche Rechnung … das Reale des Vorganges selbst nicht“ erreicht, da alle Größen in ihm aus „Inkrementen“ hervorwachsen, „die selbst keine eigentlichen Größen mehr sind. Das bestimmte Quantum baut sich“, in annähernder Entsprechung zu dem Überbauungsverhältnis zwischen messbaren makrophysikalischen und unmessbaren mikrophysikalischen Prozessformen, „aus dem ‚non quantum‘ auf“. Also zielt die Rechnung nur „im Prinzip“ auf den realen Vorgang ab, „aber das Rechnen bleibt am Endlichen hängen. Es substituiert ein Endliches und wählt es ‚genügend klein‘ für ihre Zwecke. Die Rechnung nimmt den Fehler mit hinein in ihr Resultat, kann ihn aber beliebig klein machen. Auch sie faßt das Continuum nicht streng, sondern nur genähert. Die Näherung selbst aber ist durchaus ‚reell‘“. (409)

 

Dennoch, die Mathematik wird zu einer hybriden Wissenschaft, wenn sie mit ihren der Größenbestimmung angepassten Mitteln auf andere, nicht mehr der Messbarkeit unterliegende Bereiche überzugreifen sich anschickt. Das Seelenleben und Bewusstseinsvorgänge sind genauso wenig ausmess- und berechenbar wie zum Exempel politische Abläufe. Wieso nicht? Weil hier Zweck- und Zielsetzungen, praktische Bedürfnisse, Interessen, zu realisierende Absichten und dergleichen eine entscheidende Rolle spielen, und die unterstehen eben nicht mehr der räumlichen Ausmessbar- oder der algebraischen Berechenbarkeit.

 

Bei Hartmann ebenso wie bei Aristoteles, und nicht allein in diesem Sinne ist Hartmann folglich ein Aristoteliker, kann man zunächst einmal lernen, was es heißt, mit Prinzipien der Wissenschaften besonnen umzugehen. Sie haben ihr jeweils spezifisches Gebiet des legitimen Gebrauchs, den sie aber, sobald sie sich auf andere Bereiche erstrecken sollen, gegebenenfalls sehr schnell verlieren. So kommt es zu „anthropomorphe(n) Vereinfachungen“, „teleologische(n) Populärvorstellung(en) oder mystisch geheimnisvoll(em) Phantasieren. Im Leben ist alles voll von solchem Unfug. Je nachdem, ob die eigene Intelligenz die Dinge zu verwerten weiß oder nicht, unterscheidet man sie in ‚gute und schlechte‘, glaubt an den ‚Eigensinn‘ der Dinge, an die ‚Tücke des Objekts‘, dichtet den kosmischen Erscheinungen erhabene Einflüsse an und erklärt wohl gar, ‚die Sterne lügen nicht‘. Sie lügen freilich nicht, lügen kann nur der Mensch, ebenso wie Eigensinn und Tücke zeigen. Aber auch das Talent abgründigen Mißverstehens ist ausschließlich sein Teil.“ (500)

 

Die Dimension des Realraumes zum Beispiel, über die einleitend in der Fortsetzung dieses hinführenden Ersten Teils gehandelt werden soll, liegt den Vorgängen der anorganischen und organischen Natur zugrunde. Danach bricht sie ab. Seelische Vorgänge sind genauso wenig wie Vorgänge des Bewusstseins räumlich dimensioniert. Anders verhält es sich mit der Realzeit. Diese Dimension ist wirklich fundamental, da sie nicht allein anorganischen und organischen Prozessabläufen zugrunde liegt, sondern da sich auch noch das Seelenleben und Bewusstseinsvorgänge in der Zeit ereignen. Dasselbe gilt für Vorkommnisse der Geschichte, der Kultur, der Politik etc. Sie alle laufen in der Realzeit ab, sind auf sie als ihre Bedingung angewiesen. Aber das sind, wie gesagt, schon Fragen der speziellen Kategorienlehre.


Paul Nicolai Hartmann

Teil I (Teil II folgt in der kommenden Woche.)

 

Lesen Sie auch bei KulturPort.De: Nicolai Hartmann: Dialoge 1920-1950. Die „Cirkelprotokolle“

 

 

Abbildungsnachweis:

Ernst Cassirer (1874-1945)

Edmund Husserl (1864-1946) um 1900. Quelle: Academic

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