Meinung

Es ist erst gut ein Jahr her, da berichtete KulturPort.De noch von Ennio Morricones „Farewell Tour“ quer durch Europa, die ihn auch am 21.1.2019 mit rund 200 Musikern und Sängern nach Berlin führte. Vor der ausgebuchten Mercedes-Benz Arena im Stadtteil Friedrichshain kamen dem Publikum „Gänsehaut und Tränen“ zugleich, wie der WDR2 kommentierte. Gestern hat uns der „Maestro“ für immer verlassen. Sein kompositorisches Erbe schrieb Musik-, Film- und Kulturgeschichte rund um den Globus: von Italien über Hollywood bis nach Japan, wo Morricone noch im November 2019 mit dem „Orden der Aufgehenden Sonne“ geehrt worden ist, bevor ihm zu Lebzeiten zuletzt Spanien im Juni 2020 den Prinzessin-von- Asturien-Preis in der Sparte Kunst verliehen hat.

 

Nachdem sich der 91-jährige Morricone vor zehn Tagen eine Oberschenkelhalsfraktur durch einen Sturz in seiner vertrauten häuslichen Umgebung in Rom zugezogen hatte, wurde er in ein römisches Krankenhaus eingeliefert. Hier verstarb er in den frühen Montagmorgenstunden am 6. Juli im Beisein seiner Frau Maria Travia. Er war bis zum letzten Atemzug bei klarem Verstand und vollem Bewusstsein, verabschiedete sich in Würde von seiner Frau, mit der er sein langes Leben geteilt hat, und sagte nicht nur seinen vier Kindern – drei Söhnen, darunter der Komponist Andrea und der Filmregisseur Giovanni Morricone, sowie einer Tochter – und Enkelkindern Lebewohl, sondern bedankte sich auch bei seinem Publikum. Dessen Treue, so berichtet der von Morricone beauftragte Anwalt Giorgio Assumma gegenüber der Öffentlichkeit, habe dem Komponisten den Halt und die Kraft gegeben, die ihn in seiner Kreativität motiviert, befördert und angetrieben haben.

 

Nicht viele Deutsche kennen den Namen Ennio Morricone: Das mag daran liegen, dass sich dieser schüchterne, zuweilen barsche oder menschenscheue Mann selbst im Scheinwerferlicht auf der Bühne eher zurückhielt. Er überließ dem Orchester, den Sängern und Chören, die er hoch konzentriert zu dirigieren pflegte, öffentlich gern den Vortritt und war gegenüber der Presse sehr sparsam mit großen Worten oder medial wirksamen Gesten. Dennoch haben die meisten seine Filmmelodien schon einmal gehört: Morricone, der Musik für ein breit angelegtes Spektrum unterschiedlicher Stilrichtungen schrieb, hat Soundtracks für über 400 Fernseh- und Kinofilme sowie über weitere hundert klassische Werke komponiert. Denken wir nur an die italienisch-spanisch-westdeutsche Koproduktion von „Zwei glorreiche Halunken“ (internationaler Titel: „The Good, the Bad and the Ugly“, 1966), deren Musik sich als 3. Teil der „Dollartrilogie“ von Sergio Leone mit Clint Eastwood in der Hauptrolle bis heute in den Top 10 seiner bekanntesten Filmkompositionen hält. Ab den sechziger Jahren schrieb sich das Genre des Italowestern dank Morricones musikalischen Feingespürs auch in das deutsche kollektive Gedächtnis ein. Der Sound der „Halunken“ gilt auch in Hollywood seitdem als eine der einflussreichsten Filmmusiken der Weltgeschichte und hielt dort u.a. Einzug in die Grammy Hall of Fame.

 

Das Verstörende, Bewegende und Phänomenale an Morricones Kunst ist, dass seine Musik auch ohne die filmischen Bilder eine ihr zustehende Autonomie und Berechtigung beansprucht, annimmt und bewahrt. Keineswegs hing der vielfach ausgezeichnete, produktive und sich seines außerordentlichen Talents wohl bewusste Maestro am Tropf der Filmindustrie, auch wenn er ihr seine Berühmtheit verdankt und die Nähe zu Hollywood strategisch gesucht haben dürfte. Vielmehr war oft erst die Musik und dann der Film da: So komponierte der überzeugte Römer das legendäre Mundharmonika-Motiv in „Spiel mir das Lied vom Tod“ („Once Upon a Time in the West“, 1968) noch bevor das Filmdrehbuch überhaupt fertiggestellt war. Morricones qual- bis lustvolle Mundharmonikatöne spielen die eigentliche Hauptrolle in dem Streifen, durch den der bis dahin nur durch Nebenrollen in Erscheinung getretene US-amerikanische Filmschauspieler litauischer Abstammung Charles Bronson bekannt wurde. Ganze Filmsequenzen schrieben die Drehbuchautoren entlang der von Bronson im Film verkörperten, namenlosen Figur eines Mundharmonikaspielers – der den sprechenden Spitznamen „Mundharmonika“ erhielt – und den Klängen, die Morricones Noten aus dem kleinen Instrument hervorzuzaubern wussten.

 

Doch das war nur der Anfang. Über 70 preisgekrönte Filme folgten, durch die die Zahlen von Morricones kongenialen Musikadaptionen und sein internationaler Bekanntheitsgrad stetig anwuchsen. Dabei hatte sein Leben einmal als einfacher Trompetenspieler in Jazz-Bands der 1940er-Jahre in Rom begonnen, bevor er anfing, für die RCA-Victor-Studios als Ghostwriter von Musik für Film und Theater zu arbeiten. Die Westernfilme aber brachten in den 1960er und 1970er-Jahren den großen Durchbruch, sodass sein Album „Spiel mir das Lied vom Tod“ mit geschätzten 10 Millionen seit 1971 bislang verkauften Einspielungen zu den weltweit erfolgreichsten Bestsellern zählt. Den Oscar für sein Lebenswerk 2007 überreichte ihm folgerichtig Clint Eastwood, nachdem Morricone in seiner italienischen Heimat über lange Jahre hinweg Pop-Songs und unterschiedlichste Liedmelodien für Musikerkollegen wie Paul Anka, Mina, Milva, Zucchero, Andrea Boccelli und viele andere Showgrößen komponiert hatte.

 

Was ein Henry Mancini in den USA (mit dem Lied „Moon River“ in „Frühstück für Tiffany“ oder der Filmmusik zu „Der rosarote Panther“) für die Amerikaner und ein Klaus Doldinger (Titelmelodie für „Das Boot“ und „Tatort“) oder der preisverwöhnte Frankfurter Filmkomponist Hans Zimmer für die deutsche Kultur sein dürften, ist Morricone für die italienische. Zimmer und Morricone machten dabei beide ihr Glück in Hollywood und kannten einander. Die Italiener sind stolz auf Morricones Können, seinen Arbeitsfleiß und sein Werk. Dabei richtet sich Morricones Popularität meist ausschließlich auf die im Filmgeschäft „angewandte“ Musik, nicht auf die sogenannte „abstrakte“ oder „absolute Musik“, der er sich dennoch zeitlebens ästhetisch verpflichtet fühlte. Das zeigt unter vielen anderen Beispielen ein Album, in dem die besten Ausschnitte aus seinem Live-Konzert in der Arena von Verona vom 11.9.2014 zusammengestellt worden sind und das er programmatisch und paradox zugleich „Voci del silenzio“ – dt.: „Stimmen der Stille“ – betitelt hat. In Wirklichkeit heißt eines der auf der CD veröffentlichten Stücke so, für das er eben jene „abstrakte Musik“ in Form eines langen, avantgardistisch-atonalen Crescendo aus vielerlei Stimmen, Choreinlagen und Orchesterpassagen kreiert hat. Der Untertitel „Contro tutte le stragi della storia dell’umanità“ verrät des Künstlers konzeptuelle, philosophische Absicht: „Wider alle Massaker der Menschheitsgeschichte“ setzt sich diese Komposition in Gedenken an die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11.9.2001 gegen die Zerstörungswut des Menschen im Rahmen einer von Morricone durchkomponierten „Stimme der Stille“ ein.

 

Wenngleich Morricones „abstrakte Musik“ den meisten Musikliebhabern eher unzugänglich bleiben dürfte, so wird dessen Zusammenarbeit mit anderen Künstlern – wie etwa mit Starregisseur Giuseppe Tornatore für die Kino-Hommage „Cinema Paradiso“ (1988) – nicht nur in Deutschland das Filmpublikum langfristig überzeugen und – hoffentlich noch viele – Generationen in ihren Bann ziehen. Der sizilianische Regisseur und der römische Musiker haben erst 2018 gemeinsam ein Buch publiziert, in dem sich die beiden Freunde über die Affinitäten zwischen Bilder- und Tonwelt, Kino und Musik unterhalten. Bezeichnend der Titel: „Ennio – un maestro“ (dt.: „Ennio – der Meister“), zu vier Händen von Morricone und Tornatore verfasst. Auch eine bebilderte Autobiographie, herausgegeben und mit Fotostrecken sowie Werklisten versehen, die größtenteils aus zu Papier gebrachten Dialogmitschnitten von und mit dem fast sechzig Jahre jüngeren Musiker und Journalisten Alessandro De Rosa besteht, hinterlässt uns der „Maestro“: „Ennio Morricone – inseguendo quel suono: la mia musica, la mia vita“ lautet dieser etwas sperrige Buchtitel von 2016 (dt. wörtlich: „Ennio Morricone – jenem Ton folgend: meine Musik, mein Leben“).

 

Mit vielen anderen Künstlern und Intellektuellen arbeitete Morricone noch zusammen: etwa mit Pier Paolo Pasolini, Dario Argento, Brian De Palma, Bernardo Bertolucci, Roman Polanski oder Warren Beatty. Seine Neugier und sein Schaffen kannten keine Genre-, Alters- oder Kulturgrenzen. Sowohl zur bildenden Kunst als auch zur Lyrik und Literatur fühlte sich Morricone, dessen Familie aus der Geburtsstadt Ciceros (dem Ort Arpino, vor den Toren Roms) stammt, ebenfalls hingezogen. Er glaubte an deren historische, kommunikative, ja auch politisch wirksame, sich gegenseitig potenzierende Kräfte. So führte er 2011 anlässlich der 150. Jahresfeier zur Staatsgründung und zu Ehren der Einheit Italiens eine „Elegie für Italien“ (ital.: „Elegia per l’Italia“) unter freiem Himmel auf der Piazza San Giovanni in Rom auf und widmete 2015 eine eigens komponierte „Missa Papae Francisi“ (dt.: „Messe des Papst Franziskus“) dem 2013 gewählten katholischen Papst Franziskus aus Argentinien.

 

Gleichzeitig kosmopolitisch und provinziell orientiert, versiert und ausgerichtet, hat sich Morricones „musikalische Filmhandschrift“ längst zu einer derart klassischen, eigenständigen Werksprache herausgebildet, dass man fast auf die Idee kommen könnte, seinen beiden Oscars (2007 der Ehren-Oscar und 2016 der Oscar für die beste Musik in „The Hateful Eight“ von Quentin Tarantino) auf ähnliche Weise einen Nobelpreis an die Seite zu stellen, wie ihn Bob Dylan – ebenfalls 2016 – als erster Singer-Songwriter für die Literatur bekommen hat: Seitdem gilt Dylan nicht nur als Musiker, sondern auch als Poet. Als zweite Person nach George Bernard Shaw erhielt Dylan zudem außer dem Nobelpreis auch noch einen Oscar. Wollte man dieser komplexen Preis-Logik folgen, so müsste für Morricone wohl der allgemeine „Nobelpreis für Kultur“ erst noch erfunden werden. Denn hatte schon Dylan sich selbstkritisch gefragt, ob seine Lieder denn überhaupt Literatur sein könnten, so ist die Antwort auf die Frage, ob Morricones Musik auch Filmgeschichten erzählen, mindestens ebenso berechtigt wie enthüllend: Tatsächlich entfalten die filmischen Bilder, Dialoge, Schnitttechniken und Geräuschkulissen der Filme, an denen Morricone künstlerisch mitgewirkt hat, erst durch dessen musikalische Akzentuierungen ihre volle emotionale, einprägsame und uns, je nachdem, rührende, irritierende oder beglückende Wirkung.

 

Der privat als einsilbig, durchaus auch autoritär, kategorisch, gar kauzig und eigenbrötlerisch auftretende Morricone, dessen weicher Kern sich hinter einer rauen Schale der „Undiplomatie“ – eines wahren Künstlergenies würdig – verborgen haben mag und der sich, obgleich nicht uneingeschränkt gesellig, sicher umso liebenswerter in seiner unbedingten Leidenschaft zur puren, eben „abstrakten“, gebildeten Musik und deren kompositorischer Struktur zeigte, veranlasste den britischen Musiker indischer Herkunft, Komponisten, DJ, Produzenten und Remixer Nitin Sawhney dazu, zum Tod Morricones diese poetischen Worte zu twittern: „Morricones Melodien und Themen haben sich in das Stoffgewebe der Menschheit eingewoben“ (engl.: „Morricone’s melodies and themes were woven into the fabric of humanity“). Sein Landsmann, der englische Regisseur Edgar Wright, meint hingegen, dass Morricone einen durchschnittlichen Film in einen „Musst-du-sehen“-Streifen zu verwandeln wusste, einen guten Film in Kunst, und einen großartigen Film in eine Legende.

 

Während der Staatspräsident Italiens Sergio Mattarella der italienischen Nachrichtenagentur ANSA zufolge in seinen Beileidsbekundungen gegenüber der Familie hervorhob, dass dieser außergewöhnliche und geniale Künstler, sowohl „raffinierte“ als auch „populäre“ Werke hinterlassen habe, die das Ansehen Italiens in der Welt bestärken, twitterte Ministerpräsident Giuseppe Conte: „Mit unendlicher Dankbarkeit werden wir Morricone in Erinnerung behalten. Er brachte uns zum Träumen, Fühlen, Nachdenken... Seine Noten sind aus der Musikgeschichte genauso wenig wie aus der Geschichte des Films mehr wegzudenken“. Das von Ennio Morricone durch seinen Anwalt letztmalig, doch formvollendet adressierte Publikum wünscht sich zum Abschied einfach nur, dass „Gabriels Oboe“ aus „The Mission“ („Mission“, 1986) nie verklingen und uns in noch möglichst vielen weiteren Vertonungen sowie schönen wie schwierigen Zeiten beistehen möge: Morricone hat seine „Mission“ jedenfalls herausragend erfüllt.


- Die italienische Nachrichtenagentur ANSA verkündet den Tod von Ennio Morricone am 6.7.2020

 

- Das vielleicht bekannteste Stück Morricones mit der markanten Mundharmonika-Einlage („Death Rattle“) in „Spiel mir das Lied vom Tod“ (internationaler Titel: „Once Upon a Time in the West“, 1968) mit Charles Bronson und Henry Fonda in den Hauptrollen.

 

- Hauptmotiv aus dem Klassiker des Italowestern „Zwei glorreiche Halunken“ (internationaler Titel: „The Good, the Bad and the Ugly“) aus dem Jahr 1966 in einer von Ennio Morricone am 10.9.2007 in der suggestiven Atmosphäre des Markusplatzes von Venedig persönlich dirigierten Aufführung.

 

- Noch vor 3 Monaten spielte während des dramatischen Corona-Lockdowns in Italien der bislang unbekannte 18-jährige italienische Gitarrist Jacopo Mastrangelo den Italienern zum Trost das Adagio der berühmten Melodie „Deborah’s Theme“ aus Morricones Album „Once Upon a Time in America“ (1984) – zum Film „Es war einmal in Amerika“ – von einer Terrasse hoch über den Dächern der menschenleeren Piazza Navona auf seiner elektrischen Gitarre vor, kaum dass die letzten Glockenschläge einer Kirche im Herzen der stillgelegten Hauptstadt Rom verklungen sind.

 

- „Gabriel’s Oboe“ ist die Titelmelodie des Films „The Mission“ (dt.: „Mission“, 1986) unter der Regie von Roland Joffé und seitdem vielfach klassisch konzertant aufgeführt sowie gecovert worden. Diese erhabene, sublime, fast himmlisch anklingende Melodie Morricones versinnbildlicht die Möglichkeit, dass große Sprachen- und Kulturgefälle – wie hier im 18. Jahrhundert zwischen den südamerikanischen Ureinwohnern (den Guarani) und dem Jesuitenpater Gabriel im Film – zu überbrücken sind. Hier der kurze, suggestive Ausschnitt aus einem Live-Konzert der Isländischen Philharmoniker vom 10.1.2009 (Oboe: Henrik Chaim Goldschmidt).

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