302.267 Besucher zählte die diesjährige Frankfurter Buchmesse. Im vorigen Jahr waren es 285.024. Das entspricht einer Steigerung von 5 Prozent. Für gute Bücher und Unterhaltung auf allen Ebenen in den Messehallen sorgten über 7.500 Aussteller aus 109 Ländern und mehr als 4000 Veranstaltungen.
Bewegte, bewegende Bilder waren weltweit erstmalig in Halle 4.1 zu sehen. Möglich machte dies die Partnerschaft von „THE ARTS+“ und B3 Biennale des bewegten Bildes. Gar nicht neu war, dass Literaturkritiker Denis Scheck – egal, wo er auftrat – die Messebesucher geradezu magisch anzog. Und wie gewohnt seit 1976 residierte auch diesmal ein Ehrengastland im Pavillon. Dort machten unter anderem thematisch sortierte Büchertische und im wahrsten Sinne des Wortes dosierte Gerüche auf Literatur und Kultur im diesjährigen Ehrengastland Norwegen aufmerksam.
Kurzfristig enttäuscht dürften die Fans von Thomas Gottschalk gewesen sein: Denn der beliebte Entertainer und neuerdings auch Moderator einer Literatursendung im BR-Fernsehen, der auf der Messe auftreten wollte und sollte, um über das Älterwerden zu sinnieren und anschließend sein Buch zu signieren, erschien nicht. Verständlich, denn der Mann war krank.
An seiner Stelle nahm Alice Hasters auf der ARD Bühne Platz und fegte die anfängliche Enttäuschung kurzerhand hinweg. Denn sie redete mit Moderatorin Bärbel Schäfer über andere wesentliche Dinge – über das weite Feld Rassismus. Dieser passiere oft im Alltag, „auch wenn dies nicht bewusst geschieht und gemeint ist“, so die in Köln gebürtige, in Berlin lebende schwarzhäutige Journalistin Alice Hasters. Dieses Verhalten nennt sie Mikrorassismus. Ein Kapitel in ihrem Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen: aber wissen sollten“ (Verlag: Hanserblau) trägt den Titel „Ich wäre auch gerne schwarz“. Schwarz sein im Styling, in der Fashion sei Trend, sagt Alice Hasters. Das erzeuge in ihr ein „komisches Gefühl. Ich bin halb weiß und halb schwarz. Aber ich fühle mich ja nicht halb. Ich bin ein Mensch mit einer Identität. Ich kann meine Hautfarbe nicht ablegen wie ein Kleid“. Dieses Thema geht nicht nur ihr unter die Haut. Das ist an den Reaktionen des Publikums zu merken. „Die Hassenden sind immer alles andere als leise“, sagt sie, und die Moderatorin fragt, „sind wir anderen zu leise?“ Falls das so ist, dann sollten wir Alice Hasters Buch lesen.
Um ein anderes, ebenso schwieriges und wichtiges Thema ging es im Gespräch mit Ethnologin Susanne Schröter und Moderatorin Francoise Weber beim Deutschlandfunk Kultur. Sie sprachen über den politischen Islam. Trotz oder gerade wegen dieser grundsätzlichen Problematik erklang zwischendrin erfrischende Livemusik mit dem Frankfurter „Trio Lumimare“. Um viel und vieles ging es in in dem Gespräch, beispielsweise um die politische Auslegung des Korans und anderer Texte, um das Verhältnis von Frau und Mann im Islam, um politische und religiöse Strukturen, um Kopftuch tragen oder nicht. Susanne Schröter warnte vor der Ausbreitung des politischen Islam in Deutschland. Auch in den großen muslimischen Dachverbänden finde sie teils eine islamistische Ideologie. Den staatlichen Umgang mit diesen Institutionen hält sie für naiv. Politischer Islam sei im Kern demokratiefeindlich, erklärte Susanne Schröter. Dies, weil er den Vorrang des religiösen Gesetzes vor dem weltlichen vertrete. Am Ende des Gesprächs stand der Apell von Susanne Schröter: „Wir sind alle Bürgerinnen und Bürger, das verbindet uns, nicht die Religion. Wir sollten das Verbindende mehr herausstellen.“ Mehr zum Thema bietet ihr Buch „Politischer Islam. Stresstest für Deutschland“ (Gütersloher Verlagshaus).
Entspannt wie immer ging es bei Denis Scheck zu, der auf der ARD-Bühne mit viel Witz („Menschen, die keine Gedichte lesen, stinken genauso wie Menschen, die keine Zähne putzen“) sein „Best of Druckfrisch“ präsentierte, gespickt mit Informationen, die Leseratten wissen wollen, sie wissender macht („700 Literaturpreise werden in Deutschland jährlich vergeben“). Launig und charmant, meist lobend, manchmal auch niederschmetternd, übte er Kritik. Mal überzeugte er beim Soloauftritt samt Bücherstapel und atemberaubender Schnelligkeit, mal im lockeren Gespräch mit namhaften Autoren oder Autorinnen wie Judith Schalansky. Sie sei „eine der hellsten Kerzen auf der Torte der Literatur“. Wieder so ein witziges Bild. Wie macht er das bloß? Jede Menge Fakten und jede Menge Humor. Die Schriftstellerin und Kommunikationsdesignerin Judith Schalansky erzählt, sie habe in der Kindheit immer von dem einen Buch geträumt, welches sie auf einer einsamen Insel alles lehrt. Sie habe es in dem Buch „Ich sag dir alles“ gefunden. Dieses „wissen wollen“ könnte auch Anregung für die neue Reihe Naturkunden gewesen sein, die Schalansky seit Frühjahr 2013 bei Matthes & Seitz Berlin herausgibt. Darunter so wundersame und wunderbare Bücher über Eidechsen und Schmetterlinge, Brennnesseln und Algen. Das jüngste Kind in dieser Reihe heißt schlicht und einfach „Grüner Schleim“, das Cover ist grün, das Buch sieht schleimig aus. Natürlich hat Schalansky auch hierfür den Umschlag gestaltet.
Auf diversen Buchmessebühnen anzutreffen war eine „neue“ Autorin: Karen Köhler, die mit ihrem Erstling „Miroloi“ (Hanser Literaturverlage) prompt auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landete. „Der Roman ist ein griechischer Totengesang“, meint Denis Scheck. Karen Köhler selbst sagt, sie habe erforschen wollen, „inwieweit trägt Kirche zur Entwicklung bei“. Ihr Buch erzählt von einer jungen Frau, die als Findelkind in einer abgeschirmten Gesellschaft aufwächst. In einer Welt, in der Männer das Sagen haben, Frauen nicht lesen dürfen, Tradition und heilige Gesetze auf allem lasten. Was passiert, wenn man sich in einem solchen Dorf als Außenseiterin gegen alle Regeln stellt? „So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen", mit diesem Satz beginnt das Buch dieser Autorin, der es Spaß macht, „Sachen auszudenken“. Dies tut sie so gut, dass es eine Freude für den Leser ist.
Auch Nora Bossongs Roman „Schutzzone“ war für den Deutschen Buchpreis nominiert, den zu guter Letzt Sasa Stanisic für seinen autobiographischen Roman „Herkunft“ erhielt, über den inzwischen so viel geschrieben wurde, das dies an dieser Stelle entfällt. So viel sei gesagt: Es ist ein großartiges Buch. Zurück zur „Schutzzone“ (Suhrkamp/Insel). Der Roman erzählt von einer Frau namens Mira, die nach Stationen bei der UN in New York und Burundi für das Büro der Vereinten Nationen in Genf arbeitet. Mira schreibt tagsüber Berichte über Krisenregionen und Friedensmaßnahmen, abends eilt sie durch Gänge von Luxushotels, um zwischen verfeindeten Staatsvertretern zu vermitteln. In diesem Roman werden Fragen aufgeworfen wie: Was bedeuten Vertrauen und Verantwortung? Wie greifen Schutz und Herrschaft ineinander? Wie verhält sich Zeugenschaft zur Wahrheit? Und wer sitzt darüber zu Gericht? „Manchmal muss man erzählen, sonst erstickt man“, sagt die Hauptperson im Roman. Nora Bossong selbst sagt hierzu im Gespräch beim Stand von „Diwan“, dem Büchermagazin von BR2: „Es ist ein Roman, der Machtthemen aufgreift“. Hierfür den Blick zu schärfen, dieses Anliegen teilt die Autorin mit ihrer Protagonistin.
Für den Buchpreis auf der Shortlist stand auch Norbert Scheuers „Winterbienen“ (C.H. Beck Verlag). Im Talk mit FAZ-Korrespondent Patrick Banners deutet dieser an, das Buch sei durchaus thrillerhaft. Das ergänzende Stichwort „Apokalypse“ kommt hierzu aus dem Mund des Autors. Dies betreffe das tragische Ende. Und darum geht`s: Wir befinden uns im Januar 1944. Während über der Eifel britische und amerikanische Bomber kreisen, gerät der wegen seiner Epilepsie nicht wehrtaugliche Egidius Arimond in höchste Gefahr. Er bringt nicht nur als Fluchthelfer jüdische Flüchtlinge in präparierten Bienenstöcken über die Grenze, er verstrickt sich auch in Frauengeschichten. „Dieser Mann hat kein Nachkriegsleben. Er wird immer mehr zur Phantasiefigur“, meint Patrick Banners und stellt dabei fest, der Autor spiele mit der Überschneidung von Wirklichkeit und Phantasie. Eine Feststellung, die zugleich Frage ist. „Eine Geschichte ist genauso wahr und authentisch wie nur eine Geschichte wahr sein kann“, diesen Satz habe er sich für derartige Fragen zurechtgelegt, lacht Norbert Scheuer und das Publikum freut sich mit. „Die Geschichte ist wahr und sie ist nicht wahr“, sagt Scheuer. „Einige Dinge haben sich aber tatsächlich zugetragen“, ergänzt Patrick Banners. Welche Dinge das sind, das verrät das Buch. Wie sagte doch Denis Scheck: „Lesen verändert die Struktur eines Gehirns. Bücher können sehr gefährlich sein.“
Frankfurter Buchmesse
Die kommende Frankfurter Buchmesse findet vom 14. bis 18. Oktober 2020 stattWeitere Informationen
Abbildungsnachweis:
Header: Bücherwand. Foto: Marion Hinz
Im Text: Denis Scheck im Gespräch mit Judith Schalansky. Foto: Marion Hinz
Buch-Cover
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