Meinung
Paolo Conte in der Elbphilharmonie

Paolo Conte, geboren am 6. Januar 1937 und aufgewachsen im norditalienischen Asti, war nicht nur von Kindesbeinen an ein fleißiger Hörer des Jazz, sondern hat auch schon ganz früh die Lust am eigenen Komponieren entdeckt; und doch trat er, der von klein auf die Musik von ganzem Herzen und aus voller Seele liebte, zunächst in die Fußstapfen seines Vaters, eines Notars: Er studierte Jura und wurde Rechtsanwalt.
Nebenbei professionalisierte er aber das Songwriting und spricht über diese Zeit, als er in Asti sowohl im Anwaltsbüro seines Vaters arbeitet als auch zwischendurch immer wieder nach Mailand zu den dortigen Musikproduzenten reist, als eine der anstrengendsten Perioden in seinem Leben – immer auf Achse, zerrissen zwischen einem Kopf und einem Bauch voll mit Kompositionen und dem Broterwerb als Rechtsanwalt. Trotz des Stresses flossen aus Paolo Contes Feder damals so weltbekannte Lieder wie ‚die heimliche Nationalhymne der Italiener‘ „Azzurro“ (das er für Adriano Celentano schrieb), oder auch „Genova per noi“ (für dieses Lied machten ihn die Genueser zum Ehrenbürger ihrer Stadt! …und zwar zu recht!).

Lange bewegte sich der Cantautore, der Singer-Songwriter Conte, der damals aber noch gar nicht selber sang, zwischen der Juristerei und der Welt der Musik, bis er, der von sich selbst damals noch dachte, er könne nicht gut genug singen, um seine Kompositionen selber zum Vortrage zu bringen, bis er schließlich, mehr oder weniger genötigt und angetrieben von seinem jüngeren Bruder Giorgio (*1941), 1974 sein Debütalbum „Paolo Conte“ herausbrachte, auf dem er zum ersten Mal eigene Kompositionen wie „Onda su onda“ und auch die Komposition seines Bruders „Una giornata al mare“ tatsächlich selber sang. Das Album blieb zwar weitgehend unbeachtet, doch schon mit seinem zweiten Album „Un gelato al limon“ (1979) gelang Paolo der Durchbruch als nunmehr tatsächlich singender Cantautore.
Nachdem 1981 sein drittes Album „Paris Milonga“ mit dem zum Jazzklassiker avancierten „Via con me“ herauskam, konnte Paolo die Jurisprudenz endgültig an den Nagel hängen, denn das tat er, so erzählt er im Interview, sobald klar war, dass ihn die Musik genauso gut ernähren würde wie seine Arbeit als Rechtsanwalt. Ein Glück für uns, denn seither hat Paolo Conte nicht aufgehört, uns mit neuen Alben und phantastischen Songs zu begeistern.

Naltur einen Katzensprung entfernt von Asti, dem Wohnort von Paolo Conte, dem inzwischen 80jährigen Maestro des poetischen Jazz, lebt und arbeitet in Alba, Piergiorgio Rosso, 47, Vater von drei Kindern (zwei Töchter, ein Sohn).
Rosso, der Geiger in Contes zehnköpfiger Begleitband, philosophiert über die Verbindung und über den Zusammenhang zwischen Klassischer- und Jazzmusik und schwärmt von der Arbeit mit Paolo Conte: „Er ist ein großartiger Mann, ein Mensch mit einem riesigen Herz, einem Sinn für die Individualität seiner Mitmusiker und musikalisch mit einem ungeheuren Talent gesegnet. Außerdem hatte Paolo durch seine Eltern ja schon von frühester Jugend an einen lebendigen und vorgelebten Zugang zur Jazzmusik! Als er aufwuchs, damals im Italien Mussolinis, da war es zwar verboten, Jazz zu hören, doch seine Eltern – als leidenschaftliche Fans des amerikanischen Jazz – hörten immer ‚verbotene Sender’ und hatten eine geheime Plattensammlung der wichtigsten Vertreter dieser Musikrichtung. Der Jazz und Paolo, das war eine ganz frühe Liebe!“

Eine Liebe, die bis heute hält: Conte habe auch mit seinen 80 Jahren noch lange keine Lust aufzuhören, und das sei auch gut so, das sagt auf jeden Fall Piergiorgio Rosso im Interview, denn Paolos neueste Songs wie „Snob“ oder auch vor allem „Le chic e le charme“ würden davon künden, dass Paolo Conte, der seine gesamte zehnköpfige Band nicht nur nach deren Virtuosität und klassischer Ausbildung, (technisch gesehen sind hier alle Musiker Weltklasse auf ihren Instrumenten), sondern auch nach menschlicher Integrität und individueller Kreativität auswählt, das zumindest sagt Rosso, diese und andere neueste Arbeiten Contes also, von denen einige auch an diesem Samstagabend in der Elbphilharmonie in Hamburg zu hören waren, diese neusten Kompositionen also würden künden von einer kontinuierlichen Entwicklung des italienischen Großmeisters eines sehr poetischen Jazz hin zu einer Art „zweiter Chopin“, so Rosso weiter, und, Paolo Contes Liebe zur Klassik werde nun, im Alter, noch deutlicher erleb- und hörbar als in seinen „Jugendjahren“. Das sei Contes lebenslange Weiterentwicklung von einer Dimension künstlerisch poetischer Jazzkunst, die zutiefst das Gefühl anzusprechen vermag, bis hin zum Gesamtkunstwerk musikalischen Virtuosität in der Perfektion einer Band, die wie ein einziger Organismus die vielen Facetten, Personalitäten, Stilrichtungen und Gefühlswelten des Bandleaders Paolo Conte und seiner Songs atmet, aufnimmt, widerspiegelt und verstärkt und in der gleichzeitig jeder Musiker in höchsten Maßen eine individuell einzigartige Beherrschung und gleichzeitig größtmögliche Interpretationsbreite auf seinem Instrument lebt, die ihresgleichen suchen.

Aber der Reihe nach:
Der Abend in der Elbphilharmonie beginnt damit, dass Paolo Conte, gekleidet in eine mittelgraue, sehr bequem anmutende Hose, in einen dunkelgrauen Wollpullover unter einem dunkelgrauen Jackett, in schwarzen flachen Schuhe gehend und mit dichtem weißgrauem Haar gesegnet und leichtem Dreitagebart die Bühne betritt. Conte, dem man sein Alter wirklich nicht ansieht, schreitet unter dem Applaus des gesamten großen Saals ans Mikrophon vorne auf der Bühne und eröffnet stante pedes ohne lange Vorrede mit „Ratafià“ das 40minütige erste Konzert-Set.

Kaum ist der Applaus für „Ratafià“ verklungen, setzt sich Conte ans Klavier, greift in die Tasten, schließt die Augen und wirkt sofort jung wie ein 40-jähriger, ja fast alters- und zeitlos. „Sotto le stelle del Jazz“ singt er nun mit seiner markanten, testosterongeschwängerten vibrierenden Stimme. Er ist immer leidenschaftlich, er ist Musik, er ist Jazz, er ist zeitlos wie seine Musik selbst, und voller Timbre, voller Intimität und voller Enthusiasmus und Können.
Unter dem Klavier klopfen abwechselnd mal sein linker Fuß, mal sein rechter Fuß, mal beide den Takt, während seine langen Finger an seinen ungeheuer großen breiten Händen über die Tasten tanzen, sanft streichen, auf sie einprasseln. Abermals sind die Konzertbesucher berührt von der Kraft der Canzoni-Emotionen – dieser Mann ist so lebendig, so attraktiv, der kann doch gar nicht 80 sein!

Was ist da los!? Wie großartig passen hier ein Mensch und die von ihm komponierte Musik in Emotion, Perfektion und Grandezza des Ausdrucks zusammen! Und warum stehen mir schon beim zweiten Lied Tränen der Begeisterung in den Augen!?
Es geht mir nicht alleine so: Am Ende von „Sotto le stelle del Jazz“ gibt es deshalb schon die ersten „Bravo“-Rufe, ein langes heftiges Klatschen, Applaus aus tiefen Herzen, in den hinein Paolo Conte jetzt beginnt, am Klavier sitzend seine Band zu „Comedi d’un jour“ zu dirigieren: Luca Velotti, Massimo Pitzianti, Claudio Chiara, Lucio Caliendo, Nuncio Barbieri, Daniele Dall’Omo, Daniele Di Gregorio, Luca Enipeo, Jino Touche und der bereits erwähnte Piergiorgio Rosso.
Alle Musiker sind auf Paolo Conte fokussiert. Das gelingt ihnen nur, da sie alle ihr Instrument, alle Lieder perfekt und schon fast unbewusst beherrschen und damit absolut frei sind, für ein intuitives aber dennoch auch von Conte gesteuertes, von der Improvisation in seiner Lebendigkeit gesteigertes Spiel. So jedenfalls erklärt mir Piergiorgio Rosso, Paolo Contes Geiger diese individuelle Virtuosität bei gleichzeitiger Freiheit im solistischen Vortrag und großartiger Kongruenz im Zusammenspiel. Ein perfektes, von untrüglichem Timing und einer Grandezza der Profis getragenes Zusammen-Spielen auch bei „Sotto la verde Milonga“, „Snob“, „Argentina“, „Recitanda“ und „Agua Plano“, dem Lied, das das erste Set nach 40min beschließt.

Glücklich, so scheint es, aber körperlich erschöpft, streift sich Paolo Conte mit der linken Hand von oben nach unten über das Gesicht, greift an sein Kinn. Jetzt ist erstmal Pause, und zwar exakt 30 Minuten lang.
In der Pause spreche ich mit einer Kollegin. Sie hat vor dem Konzert das einzige Interview mit Paolo Conte geführt, nur 6m Minuten lang, sagt sie, für die ganze ARD, alle weiteren Interviews hat er abgelehnt, diesem auch nur zugestimmt, weil versprochen wurde, dass die Interviewerin italienisch spricht. Warmherzig und zugewandt, wach, interessiert und äußerst fit habe Paolo Conte gewirkt. Er habe erzählt, dass er sehr zufrieden sei mit allem und dass er sehr viel Glück gehabt habe im Leben, so wie alles gelaufen sei. Auch davon, dass er von der Musik, seiner Leidenschaft, habe immer gut leben können, und deshalb seinen Beruf als Rechtsanwalt habe aufgeben können. Und dass er auch viel Glück in der Liebe gehabt habe. Glück mit seiner Frau. Dafür sei er dankbar. Und die Elbphilharmonie? Die finde er gigantisch, großartig. Er sei glücklich, hier zu spielen.
Und über unser Gespräch unter Kolleginnen startet Paolo Conte ins zweite Set, das diesmal länger als eine Stunde dauern wird.

Das Licht im Saal geht langsam aus. Applaus hebt an und vermischt sich anschwellend mit Bravorufen, als Conte aus dem linken Aufgang kommt. Er setzt sich ohne Umschweife direkt ans Klavier. Man hat den Eindruck, Ovationen entgegenzunehmen ist seine Sache nicht, schließlich lebt er für die Musik, sonst hätte er in seiner Jugend nicht so lange gebraucht, bis er es sich selbst zugetraut hatte, auf die Bühne, vor ein Publikum überhaupt, zu treten.
Kaum sitzt der Maestro am Klavier, stellt sich schlagartig Ruhe im Saal ein. „Dancing“ (…da da dancing) hören wir ihn und schon swingt es wieder im Großen Saal: Luca Velotti gibt unter Szenenapplaus ein Saxophonsolo; die übrigen Musiker, alle mit Fliege und im standesgemäßen schwarzen Anzug wippen im Takt, haben die Augen auf ihren Kollegen gerichtet.

In den folgenden Nummern des zweiten Sets haben fast alle in den einzelnen Liedern ihre Soli: Claudio Chiara am Sax, Massimo Pitzianti am Akkordeon, Daniele di Gregorio am Schlagzeug und zum Beispiel auch Piergiorgio Rosso an der Geige.
Nicht ohne Grund habe ich bei seinem Spiel die Assoziation „Teufelsgeiger“.
In „Max“ hat Rosso seinen großen Auftritt: Er spielt mit einer schon fast schon unwirklichen Virtuosität, bei der man das Gefühl bekommt, gleich zusammen mit ihm und seinem Geigenspiel abzuheben, „direttamente“, direkt Richtung Himmel, den Sternen des Jazz entgegen.
Der Geiger Piergiorgio Rosso hört sich an, als würde er mit dem Teufel um seine Seele spielen und er bearbeitet sein Instrument, arbeitet mit dem Instrument so schnell, so tempo- und variantenreich, so farbig und ausdrucksstark und emotionsreich, dass eines auf jeden Fall ganz schnell glasklar ist: Dieser Geiger hier gewinnt gegen jeden Teufel! Gegen diesen „Teufelsgeiger“ hat der Beelzebub nicht die geringste Chance. Piergiorgio Rosso spielt sich und mich, uns alle, direkt in den Himmel einer im wahrsten Sinne des Wortes wundervollen Musik. Und als ob das nicht genug wäre an musikalischer Genialität bekommt das Publikum auch noch ein Akkordeonsolo vorgesetzt, welches seinesgleichen wohl suchen wird – ich jedenfalls habe noch nie ein derartiges Akkordeonspiel wie das von Massimo Pitzianti erlebt, und ich liebe das Akkordeon und seine Virtuosen!

Auch das Gitarrensolo und vor allem das Klarinettensolo sind schlichtweg grandios und gehören zu den besten Soli, die ich bisher hören durfte.

Liegt es an den Musikern, dem Charisma von Paolo Conte selbst, dem Verzaubert-Sein der Zuschauer oder an der Akustik im großen Saal der Elbphilharmonie oder doch an allem zusammen – das Klarinettensolo lässt meiner Meinung nach selbst Klezmer-Profis erblassen.

Das zweite Set ist einfach rundherum großartig, es nimmt nicht nur Fahrt auf, es rennt traumwandlerisch, höchste musikalische Dimensionen erklimmend, durch den großen Saal der Elphi, es reißt alle mit, so dass alle im Takt mitklatschen, manche aufspringen und sich hinreißen lassen, wieder und wieder zu Szenenapplaus, für die großartigen Solisten, die großartige Band, den großartigen Cantautore Paolo Conti!
Allen geht es gut, alle gelöst, alle glücklich – so beseelt von der Musik des italienischen „Godfather of Jazz “, dass gefühlt das gesamte Hamburger Publikum an diesem kalten regennassen Abend draußen – hier drinnen in „unserer“ Elphi – aufgemuntert und angestachelt durch Paolo Conte selbst, bei der Wiederholung von „Via con me“ am Ende den englischen Refrain „It’s wonderful, it’s wonderful“ mitsingt.

Die ganze Elbphilharmonie, so scheint es, singt, singt zusammen mit Paolo Conte, dem 80jährigen Chanson-Poeten, der immer noch über eine Energie verfügt, die es vermag, über 2.000 Zuschauer in diesem ausverkauften Konzertsaal von den Stühlen zu reißen, zum Mitswingen und tatsächlich zum Mitsingen zu bewegen und der nun, unter stehenden Ovationen und minutenlangem Applaus endlich doch sichtlich bewegt – durch die Freude und die Begeisterung des Publikums – langsam durch den linken Bühneneingang entschwindet, nur um dann, aus dem rechten Bühneneingang, mit einem jetzt doch unerwartet verschmitzten Lächeln auf den Lippen, erneut aufzutauchen und sich dann noch einmal durch majestätisches Kopfnicken und ein gediegenes Lächeln, das eines Gentlemans, eines Grand Seigneurs des Jazz würdig ist, bei seinem Hamburger Publikum zu bedanken.
Und dann ist es endgültig: Paolo Conte geht ab.

Aber dieser Abend wird uns, dem Publikum, noch lange nicht aus dem Kopf gehen. Wir freuen uns schon auf das nächste Mal, denn: Nach dem Konzert ist vor dem Konzert!

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Paolo Conte - Intimità
Paolo Conte - vieni via con me



Abbildungsnachweis:
Header: Paolo Conte. Foto: Daniela Zedda / PR Karsten Jahnke
Foto: Piergiorgio Rosso. Foto: Cornelia Schiller
Piergiorgio Rosso, 47, der „Teufelsgeiger" aus Alba, erschöpft, aber glücklich, nach dem Konzert im Großen Saal der Elbphilharmonie. Seit 10 Jahren gehört er zur Band von Paolo Conte. Daneben hat er zuhause in Alba sein eigenes klassisches Ensemble: Das Debussy Terzett.

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