Meinung
Erlaubte Schmähkritik Die verfassungsrechtliche Dimension der causa Jan Böhmermann

Die Bestimmung der Reichweite der Meinungsfreiheit bildet ein beliebtes Thema im juristischen Staatsexamen. Denn wenngleich es (mittlerweile) ganz unumstritten ist, dass den in Art. 5 GG genannten Grundrechten eine überragende Bedeutung für die demokratische Grundordnung zukommt („schlechthin konstituierend“), sind diese – ebenso unumstritten – nicht grenzenlos gewährleistet. Auf Tucholsky ist folglich jedenfalls für das Grundgesetz zu antworten: Satire darf in Deutschland nicht alles, aber fast alles und jedenfalls sehr viel.

Die damit aufkommenden komplexen Abgrenzungsfragen sind Gegenstand nicht nur zahlreicher Examensklausuren, sondern auch verfassungsgerichtlicher „Klassiker“ geworden (genannt seien nur die Entscheidungen „Lüth“ und „Soldaten sind Mörder“). Das Bundesverfassungsgericht hat in diesen über mehrere Jahrzehnte hinweg den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Lösung entsprechender Fälle herausgearbeitet. Die Bewertung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Meinungsäußerung muss danach stets vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit in einer pluralistischen Demokratie erfolgen, weshalb eine zu enge Interpretation der Schranken abzulehnen ist (Wechselwirkungstheorie). Im Zweifel ist daher auch derjenigen Interpretation der Vorrang einzuräumen, die zu einer Zulässigkeit der jeweiligen Äußerung führt. Bei der (satirischen) Kritik an Politikern kommt hinzu, dass eine solche öffentliche Auseinandersetzung mit politischen Fragen unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Demokratie ist. Das Bundesverfassungsgericht ist in diesem Bereich daher regelmäßig äußerst großzügig, auch „eine überzogene oder gar ausfällige Kritik“ ist prinzipiell zulässig. Unerheblich ist zudem, ob die Kritik sachlich berechtigt oder niveauvoll ist. Erst wenn die Kritik keinerlei sachlichen Bezugspunkt mehr hat und es nur noch um die Diffamierung oder Erniedrigung geht, wird die Meinungsäußerung zur Schmähkritik und damit unzulässig.

Dieser hier nur skizzierte verfassungsrechtliche Rahmen ist damit auch für die Bewertung in der Causa Böhmermann entscheidend, die – so viel wird man sicher sagen können – schon bald auch in öffentlich-rechtlichen Examensklausuren auftauchen dürfte. Vordergründig geht es zwar um strafrechtliche Fragestellungen. Einschlägig ist insoweit die Regelung des § 103 Abs. 1 StGB, die die Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten – insbesondere ausländischer Staatsoberhäupter – unter Strafe stellt. Als sogenanntes Ermächtigungsdelikt bedarf es in diesen Fällen allerdings nicht nur eines Strafantrags der betroffenen ausländischen Regierung (der in diesem Fall wohl bereits vorliegt), sondern – und hier wird es nun brisant – einer Ermächtigung der Bundesregierung (§ 104a StGB).

Bei der Erteilung dieser Ermächtigung ist die Bundesregierung allerdings nicht völlig frei. Das Strafrecht bildet insoweit lediglich die Folie für die dahinter liegende verfassungsrechtliche Problematik, die das Verhalten der Beteiligten – und damit zunächst dasjenige der Bundesregierung – zu leiten hat. Danach dürfte es zwar zulässig sein, wenn die Bundesregierung ihre Ermächtigung verweigert, obwohl sie das Verhalten für strafbar hält. Hier liegt es also in ihrem politischen Ermessen, wie sie in einem solchen Fall verfährt. Wohl unzulässig wäre es aber, die Ermächtigung zu erteilen, obwohl das zu Grunde liegende Verhalten verfassungsrechtlich als von der Meinungsfreiheit gedeckt und damit zugleich als notwendig straffrei anzusehen wäre. Entscheidend ist damit also auch hier zunächst, inwieweit das Vorgehen Böhmermanns als (noch) von der Meinungsfreiheit gedeckt angesehen werden kann.

Insoweit dürfte es zunächst völlig unstreitig sein, dass das von Böhmermann vorgetragene Gedicht für sich genommen als reine und damit nicht mehr zulässige Schmähkritik einzuordnen ist. Auch Böhmermann bestreitet das nicht, hat das Gedicht nicht nur mit Schmähkritik überschrieben, sondern bereits in seiner Sendung mehrfach deutlich gemacht, dass dieses Gedicht die Grenzen des Zulässigen überschreite. Wenn in der aktuellen Debatte immer wieder die Niveaulosigkeit des vorgetragenen Gedichts betont wird, geht das insofern am eigentlichen Problem vorbei. Entscheidend ist vielmehr der Umstand, dass Böhmermann dieses Gedicht in einen quasi-edukatorischen Gesamtkontext einbettet, um auf diesem, zugegebenermaßen sehr drastischem Wege die Grenzen der Meinungsfreiheit zu verdeutlichen. Und tatsächlich wird man letztlich nicht bestreiten können, dass sich dieser besondere Kontext von gewöhnlicher und unzulässiger Schmähkritik unterscheidet, was diesen Fall denn auch so besonders und juristisch interessant macht. In dieser Form ist Schmähkritik – soweit ersichtlich – jedenfalls (noch) nicht vorgetragen worden.

Damit ist zugleich das verfassungsrechtliche Spielfeld abgesteckt: Es kommt allein darauf an, ob diese besondere Einbettung der Schmähkritik deren verletzenden Charakter so weit absenkt, dass sich das gesamte Verhalten zwar als möglicherweise „überzogene oder gar ausfällige“ aber letztlich gleichwohl zulässige Kritik präsentiert. Oder anders: kann Schmähkritik so verpackt werden, dass diese ausnahmsweise die Grenzen des Zulässigen nicht überschreitet, nicht zuletzt deshalb, weil die Art dieser „Verpackung“ deutlich macht, dass es dem Verfasser erkennbar gerade nicht um den Inhalt der Schmähkritik selbst, sondern um etwas (wiederum erkennbar) anderes geht. Einiges spricht hier dafür, die Meinungsfreiheit tatsächlich in diesem Sinne zu interpretieren.

Zunächst dürfte es erstens verfassungsrechtlich nicht zulässig sein, Böhmermann zu unterstellen, dass er sich den Inhalt des Gedichtes trotz der Einbettung in einen Diskurs über die Grenzen der Meinungsfreiheit zu Eigen macht. Es erscheint mehr als lebensfremd anzunehmen, dass Böhmermann tatsächlich davon ausgeht, dass der türkische Präsident die darin geschilderten Praktiken betreibt. Eine entsprechende Interpretation zu Grunde zu legen und den beschriebenen Kontext damit faktisch völlig auszublenden, erweist sich insofern als verfassungsrechtlich nicht haltbar. Gedicht und Kontext sind also zwingend als Einheit zu betrachten – jede Äußerung kann und muss in ihrem Gesamtkontext interpretiert werden.

Wenn das Verwerfliche der Schmähkritik zweitens vor allem darin zu sehen ist, dass diese keinerlei sachlichen Bezugspunkt mehr aufweist, muss diese Frage damit auch in diesem Fall im Zentrum stehen. Findet sich hier also irgendein sachlicher Bezugspunkt, der zur Zulässigkeit des Verhaltens führen kann? Insoweit hat Böhmermann vor dem Hintergrund des Verhaltens des türkischen Präsidenten auf eine eher harmlose Extra-3-Satire in seiner Sendung ausdrücklich zu verdeutlichen versucht, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit nach deutschem Verständnis eigentlich liegen. Und in der Öffentlichkeit besteht hier auch durchaus Klärungsbedarf. Zwar ist auch im Zusammenhang mit der Extra-3-Sendung immer wieder auf die Unzulässigkeit von Schmähkritik hingewiesen worden. Was dieser juristische Begriff aber bedeutet und ab welcher Schwelle eigentlich der Boden der Unzulässigkeit betreten wird, ist – im Übrigen auch für Juristinnen und Juristen – nur schwer greifbar.

Mit seinem Gedicht macht Böhmermann diese Grenze hingegen anschaulich deutlich – und zwar nicht nur für den türkischen Staatspräsidenten, sondern auch für die breite Öffentlichkeit –, dass ein Beitrag wie derjenige von extra-3 weit von unzulässiger Schmähkritik entfernt ist. Dass letztlich erst völlig unsachliche Inhalte strafrechtlich relevant sind, dürfte insofern nur Wenigen bekannt gewesen sein. Ein sachlicher Kontext ist insofern durchaus erkennbar. Dass das Vorgehen Böhmermanns als Debattenbeitrag völlig ungeeignet wäre, wird man im Übrigen kaum behaupten können – der Blick in die Tagespresse genügt.

Damit bleibt als möglicher Kritikpunkt allein die Tatsache, dass Böhmermann mit dem türkischen Präsidenten eine reale Person zum Gegenstand seines „Lehrbeispiels“ gemacht hat. Ohne jeden Zusammenhang dürfte eine solche Instrumentalisierung dabei in der Tat schwer zu rechtfertigen sein. Warum sollte irgendjemand akzeptieren müssen, ohne jeden Grund und damit völlig willkürlich als Exempel für Schmähkritik herhalten zu müssen? Insoweit muss freilich das vorangehende Verhalten des türkischen Präsidenten berücksichtigt werden. Denn mit der fragwürdigen Einbestellung des deutschen Botschafters hat dieser die Debatte über die Reichweite der Meinungsfreiheit überhaupt erst eröffnet. Offenbart hat er dabei zugleich wie sehr sich sein Verständnis der Meinungsfreiheit von demjenigen des Grundgesetzes unterscheidet. Geht es also darum, die angehende Debatte zu bereichern und damit neben der deutschen Öffentlichkeit gerade dem türkischen Präsidenten aufzuzeigen, wie Meinungsfreiheit unter dem Grundgesetz interpretiert wird, liegt es geradezu nahe, diesen auch zum Gegenstand seines edukatorischen Gedichtes zu machen. Auch insoweit erweist sich das Vorgehen Böhmermanns damit als gerechtfertigt.

Im Ergebnis ist das Verhalten Böhmermanns damit von der Meinungsfreiheit gedeckt. Er hat sich in ausreichender Form vom Inhalt der dargestellten (fiktiven) Schmähkritik distanziert, sie nicht völlig anlasslos präsentiert und diese zudem in einen edukatorischen Gesamtkontext gestellt, so dass dieser ausnahmsweise ein ausreichender sachlicher Bezug zukam. Über das Niveau mag man sich streiten, verfassungsrechtlich ändert sich dadurch nichts. Die Bundesregierung ist daher verfassungsrechtlich gehalten, die Ermächtigung zur Strafverfolgung zu verweigern. Der Umstand, dass die Bundeskanzlerin in einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten von einer „bewusst verletzenden Äußerung“ Böhmermanns gesprochen hat, führt zu keiner anderen Bewertung. Angela Merkel dürfte mit dieser wenig glücklichen Aussage die Hoffnung verbunden haben, dass der türkische Präsident von einem Strafantrag letztlich absieht. Erreicht hat sie möglicherweise genau das Gegenteil. Nachdem sich diese politische Hoffnung jedenfalls zerschlagen hat, übernimmt jetzt wieder das Verfassungsrecht. Wie Angela Merkel persönlich über das Verhalten Böhmermanns denken mag, spielt dabei keine Rolle. In ihrer Funktion als Bundeskanzlerin ist sie Adressat der Grundrechte, nicht deren Träger. Und diese hat sie nun zu schützen.

Alexander Thiele ist Privatdozent an der Universität Göttingen am Institut für Allgemeine Staatslehre. Im Sommersemester 2016 vertritt er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht (Prof. Dr. Christian Calliess) an der Freien Universität Berlin.

Thiele, Alexander: Erlaubte Schmähkritik? Die verfassungsrechtliche Dimension der causa Jan Böhmermann, VerfBlog, 2016/4/11.
Diesen Text haben uns Verfassungsblock.de-Gründer Max Steinbeis und der Autor zur Verfügung gestellt, wofür wir uns herzlich bedanken.

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