„Der Künstler, der Mut hat, überläßt sich ganz seinen Neigungen. Und nur, wer sich seinen Neigungen überläßt, hat Mut. Und nur, wer den Mut hat, ist Künstler.
Die Literatur wird fortgeworfen, die Resultate der Erziehung werden abgeschüttelt, die Neigungen treten hervor, die Hemmung schafft dem Strom ein neues Bett. Der eine Ton, der nur eine untergeordnete Farbe im früheren Gesamtbild war, breitet sich aus. Eine neue Persönlichkeit steht da. Ein neuer Mensch. Das ist ein Beispiel für die Entwicklung des Künstlers, für die Entwicklung der Kunst.“ (Arnold Schönberg)
Die vierte Solopassage (es handelt sich um die Takte 62ff.) des ersten Allegro überschriebenen Satzes des Konzerts in d-Moll, BWV 1052 für Orgel bzw. Pianoforte, Streicher und Basso continuo (dieser durch das Übergreifen der linken Hand charakterisierte Teil umfasst insgesamt 29 Takte) ist in ihrer verspielten Simplizität – eine Art zart-kokettes Selbstgespräch auf Sechzehntel-Basis mit der wie eine Zäsur in regelmäßigen Abständen zunächst im Violinschlüssel (der Bassbereich ist über vier und anschließend, nach einer eintaktigen Tutti-Überleitung, über 13 Takte vakant) zuletzt im Bassschlüssel notierten Begleit- oder besser: Akzentnote, die das Ende dieser musikalisch unerhörten Episode einleitet – auch rein vom Notenbild her ein sich in sich selbst spiegelndes, unbeschwert-tänzelndes (Wellen-) Gewoge. Ein zärtlich sich verströmendes, lächelnd anspielungsreiches Wie-du-mir-so-ich-dir. Oder ein besitzanspruchsfreies Geben und Nehmen zwischen einem Ich das Du und einem Du, das Ich ist. Das sich im Allegro überschriebenen dritten Finalsatz an zwei Stellen, kurz hintereinander, einer doppelten, augenzwinkernden Stippvisitenreminiszenz gleich, wiederholt.
Manual einer historischen Orgel. Foto: Pixabay
Die Rede war von Simplizität. Und davon, dass es sich um eine unerhörte Episode… der Leichtigkeit nämlich handelt. Was selbst der musikalisch ungebildete Laie nicht allein daran erkennt, dass sich im begleitenden Bassbereich musikalisch so gut wie nichts ereignet, sondern dass sich der Verlauf im Violinschlüssel – fast schon monoton – im steten Wechsel zwischen einer akkordartigen (= ein Zweiklang) Doppel- und einer einfachen Note über diverse Takte hinzieht. Diese selbst im Notenbild nachvollziehbare dezent variierte, und dennoch die Akzente exakt-bestimmt setzende Dieselbigkeit ist aber alles andere als monoton, sondern in ihrer musikalischen Einfachheit von einer spielerischen, lächelnden und letztlich auch übermütigen Eloquenz.
Oder auch so: Wer der Notenbildsprache nicht wirklich mächtig ist, die Noten also nicht vor seinem inneren Ohr beim bloßen Anschauen zum Klingen zu bringen vermag – und wie viele Erdenbürger können das schon?! – wird überrascht sein, dass das vom reinen Augenschein her so ausgesprochen Überschaubare dieser Passage zwar auch klanglich – und wie sollte es anders sein – überschaubar und problemlos identifizierbar, aber in seinem lediglich scheinbaren Gleichklang auf eine spannungsreiche Art einerseits drängend ist, sich allerdings andererseits zu seinem Ende hin sich in sich selbst beruhigend zurücknimmt, und also, seines Schein-Repetitiven zum Trotz, ein Tränen der Freude erzeugendes, behänd hüpfendes, tänzelndes, versonnen schmunzelndes über Stock und Stein ist, das exakt dieser herzerhebenden, und also tiefgründigen, kopfwiegenden Leichtigkeit wegen so ungemein anrührend wirkt.
Und noch dies: Die Überschaubarkeit und leichte Fasslichkeit des Notenbildes bedeuten eine Simplizität auf erhöhter Stufenleiter, denn mit musikalisch bescheiden scheinenden Mitteln diese Intensität des Leichten, hüpfend Unbeschwerten, das den Rezipienten, des Unerhörten und Unerwarteten wegen unmittelbar in seinen Bann schlägt, zu erzeugen ist das womöglich Schwierigste. In diesen Takten tut sich im Nu eine musikalische Welt spielerisch-entrückter, ungezwungen-befreiter Zwiesprache auf, die, ihrer munteren Leichtigkeit wegen, wie beseligt und folglich beseligend wirkt. Es ist, als ob man der arglosen und exakt deswegen rührenden Unschuld auf Klangbasis begegnete.
Zum Beschluss, und damit der Leser von diesem hier begreift, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es ist, die Sprache relevanter Klangwelten in Worte zu fassen, die nicht rein musiktheoretischer oder -analytischer Natur sind, ein Zitat aus dem Doktor Faustus von Thomas Mann. Es geht um das Streichquartett Opus 132 von Ludwig van Beethoven, das der Anlass ist für ein ratloses nach Worten suchen seitens Adrian Leverkühn. „Es ist nur ärgerlich – wenn du es nicht erfreulich nennen willst –, daß es in der Musik – wenigstens in dieser Musik – Dinge gibt, für die im ganzen Bereich der Sprache beim besten Willen kein wirklich charakterisierendes Beiwort, auch keine Kombination von Beiworten aufzutreiben ist. Ich habe mich dieser Tage damit geplagt, – du findest keine adäquate Bezeichnung für den Geist, die Haltung, die Gebärde dieses Themas. Denn es ist viel Gebärde darin. Tragisch-kühn? Trotzig, emphatisch, das Elanhafte ins Erhabene getrieben? Alles nicht gut. Und ‚herrlich!‘ ist natürlich nur eine alberne Kapitulation.“
„Immer einfacher…“ Ein ratloses Wort zu Johann Sebastian Bach
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- Bach: Keyboard Concerto in D Minor, BWV 1052 (Bahrami, Dinnerstein)
- J.S.Bach Concerto no.1 in D Minor BWV 1052 Polina Osetinskaya, Anton Gakkel, Maxim Novikov
- J. S. Bach: Konzert d-Moll BWV 1052 für Orgel ∙ hr-Sinfonieorchester ∙ Apkalna ∙ Minasi
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