Im Mai 2022 erschien Somnambule, das Debütalbum des Olga Reznichenko Trio, bald darauf konnte sich die in Leipzig ansässige junge Band über hervorragende Resonanz in den Medien freuen.
Das Repertoire von Somnambule ging von imaginären Traumsequenzen aus, die Stücke auf dem neuen Album „Rhythm Dissection“ (Rhythmus-Aufspaltung) sind dagegen von realen Erlebnissen und – vor allem – von musikalischen Ideen inspiriert. „Rhythmisch und auch harmonisch ist das neue Album viel komplexer als unser Debüt“, erklärt Reznichenko, „der Fokus liegt mehr auf Improvisation, in vielen Formen gibt es eine stärkere Verbindung zum Jazz. Dabei betrachte ich Improvisationen als Teil der Komposition, sie sind also nicht völlig frei, sondern verstehen sich als Erweiterung der Motive.“
Ein weiterer essenzieller Aspekt sind ungerade Metren, für die sich Reznichenko schon länger begeistert. Zu hören ist das bereits auf dem Debütalbum, etwa bei „Final Mirrors“ in 11/8. Im aktuellen Repertoire, das überwiegend 2022 entstanden ist, wechseln die „krummen“ Takte beinahe ständig. Auch innerhalb der Stücke, die gleichwohl sehr lebendig, souverän und unprätentiös wirken. „Wie es scheint, ist ein 5/4 mein natürlicher Flow, das Metrum erscheint in vielen meiner Improvisationen“, lacht die 1989 geborene Musikerin, die im Januar 2023 ihren Master-Abschluss an der Leipziger Hochschule absolviert hat.
Reznichenkos Kompositionen sind wohl durchdacht, aber auch stets warmherzig. Tatsächlich basieren einige Stücke im Kern auf purer Intuition, beispielsweise „Elegie“. „Das Thema habe ich zunächst improvisiert und für mich zuhause aufgenommen. Erst beim Transkribieren fiel mir auf, dass sich das Metrum ständig ändert.“ Zunächst hätte sie versucht, das Stück in einen 4/4-Takt zu bringen, mit unbefriedigendem Ergebnis. Die Konsequenz war, im Trio gemeinsam eine freie Form zu kreieren. Obwohl Reznichenko häufig sehr klar in ihren Kompositionen ist, bleibe stets Raum für Ideen und Impulse ihrer beiden Musiker Max Stadtfeld und Lorenz Heigenhuber, sagt sie. So entwickelten sich einige Facetten der Stücke in Interaktionen.
Mit den besagten Rhythmusvariationen gehen überraschende Wechsel von Tempi und Stimmungen einher. Das Aufmacherstück „A Ballad For A Cowboy Who Is Yet To Find Out About Fear“ gibt die Richtung vor. Einem lockend-melodischen Thema folgt eine wuchtig-dynamische Passage, die Nervosität, Beklemmung oder gar Bedrohliches suggeriert; in der daraus erwachsenden Improvisation verflüchtigen sich aber die meisten dunklen Wolken wieder. Das Mäandern von eingängigen Motiven zu abstrakteren, aber nie vollends aus der Form tretenden Expressionen zieht sich durch viele Stücke. Ebenso wie Max Stadtfelds extrem agile, teils rockig-druckvolle Schlagzeug-Unterstützung, mit der er sich mehr denn je als gleichberechtigte Stimme im Trio etabliert. Heigenhubers subtiler Kontrabass sorgt je nach Bedarf für Grundierung oder weiteren Auftrieb im teils wunderbar transparenten (vergl. „Solaris“, „Old Feeling“), teils hochverdichteten Zusammenspiel. Der dramaturgische Bogen des Albums trägt soghafte Züge, er gipfelt im Stück „Trampelpfad“ mit seiner insistierenden Stakkato-Ästhetik und verschobenen Rhythmik sowie im überschäumenden finalen Titelstück, das im positiven Sinn aufstachelt.
„Ich mag gerne laute Musik“, grinst Olga Reznichenko und nennt als Beispiel die Metal-Band Pantera. Das Spektrum ihrer Inspirationsquellen reicht ansonsten von Noise Rock über Avantgarde und Free Jazz bis zur Klassik, mit der sie ihre ersten Jahre am Klavier zugebracht hat. Speziell die Spätromantiker und Impressionisten haben es ihr angetan, ebenso Ligetis und Xenakis‘ Klavierwerke, außerdem „vom Klang her“ Kompositionen des Spektralmusik-Vertreters Georg Friedrich Haas.
Neben solchen Einflüssen, die sich zum allergrößten Teil allenfalls in Nuancen ausmachen lassen, wurden manche Stücke Reznichenkos von Eindrücken abseits der Musik geprägt. „Zu ‚Salty Drunk Fish‘ hatte ich eine Improv-Skizze, größtenteils habe ich das Stück aber auf Sardinien geschrieben“, erzählt sie. „Solaris“ ist, wie der Titel ahnen lässt, unter dem Eindruck von Andrei Tarkowskis Spielfilm nach dem Roman von Stanislaw Lem entstanden. „Ich habe den Film mehrfach angesehen und die Atmosphäre genossen, besonders weil man nach einer Weile nichts mehr an Action erwartet. Für das Stück wollte ich genau diese Ästhetik umsetzen.“
Insgesamt würden sie heute vehementer, teils auch wilder spielen als vor vier Jahren, findet Reznichenko. Fast alle Stücke des Albums wurden vor dem Studiotermin im Februar 2023 in Konzerten er- und geprobt, lediglich das vergleichsweise einfache „Old Feeling“ mit seinem nahezu durchgehenden 6/8-Groove kam erst kurz vor den Aufnahmen dazu. „Nach zwei Tagen hatten wir viele richtig gute Takes, darunter gab es einige Momente, in die ich sofort verliebt war“, lässt Reznichenko die Konzentration und Intensität im Bauer Studio Ludwigsburg erkennen. „Es war auch eine schöne Erfahrung, auf diesem Steinway D von 1920 zu spielen, an dem schon so viele berühmte Pianisten saßen.“
Diese Spielfreude offenbart sich nun auch dem Publikum. Viele Passagen auf „Rhythm Dissection“ wirken energiegeladen oder gar euphorisch. Das profunde Können des Trios und Olga Reznichenkos klarer Gestaltungswille, das lustvolle Spiel mit rhythmischer Raffinesse und weiten Bögen, Klangfarben und Stimmungen zeichnen das Album aus. Und sie untermauern den von BR Klassik anlässlich Somnambule festgestellten herausragenden Status der Band in der aktuellen Jazz-Szene. Der Sender lobte die „avancierte, harmonisch und rhythmisch anspruchsvolle Musik“ und konstatierte: „Mit ihrem Debütalbum als Bandleaderin kann sich Olga Reznichenko […] nicht nur behaupten, sondern auch schon herausragen.“
Olga Reznichenko Trio: Rhythm Dissection
Olga Reznichenko: Klavier, Kompositionen | Maximilian Stadtfeld: Schlagzeug | Lorenz Heigenhuber: Kontrabass
Label: Traumton Records. Vertrieb: Indigo / The Orchard
CD, LP, digital
EAN: 705304472323
VÖ: 03.05.2024
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- Salty Drunk Fish (6:03 Min.)
- Elegie (8:06 Min)
Konzerte:
30.04.2024 Bonn: Jazzfest Bonn
31.05.2024 Berlin: Donau115
07.06.2024 Leipzig: die naTo
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