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Nach dem letzten Album Alles wird gut gegangen sein werden, folgt am 02. Februar 2024 das etwas nüchterner, die aktuelle Lage der Welt reflektierende Ein bisschen Zeit haben wir ja noch der Brigade Futur III, ob als Beruhigung oder letzte Warnung vor dem ultimativen Kipppunkt.

Die Musiker, Komponisten, Künstler (und noch vieles mehr) Benjamin Weidekamp, Elia Rediger, Jérôme Bugnon und Michael Haves haben ihr Projekt wie schon beim Vorgängeralbum mit der Leipziger Spielvereinigung Sued als 18-köpfige Big Band eingespielt.

 

Nach den fulminanten Konzerten der „Alles Wird Gut Gegangen Sein Werden”-Tour folgten irgendwann Pläne für ein zweites Album. Die Aufnahmen dafür mussten aufgrund von „man ahnt es schon“ dreimal verschoben und schließlich auf Eis gelegt werden. Stattdessen nutzte die Brigade Testaufnahmen mit der SpVgg Sued vom Mai 2019 als Grundlage für die neue Produktion.

 

Eine Studiosession mit Berliner Personal folgte im Mai 2021, in der Teile der Aufnahmen noch einmal neu eingespielt wurden, sowie eine finale Studiosession mit großer Big Band im Folgejahr. Im Anschluss bastelten die Brigadiere eifrig an den Aufnahmen, bis das neue Werk im Sommer 2023 fertig war.

 

Leidenschaftlich eklektisch verwenden die vier Brigadiere Einflüsse aus jeglicher Art von Kultur. Ob Jazz oder Klassik, Musik oder Kunst, Theater, Film, Bücher, das Leben an sich, Philosophie, Kochen oder was auch immer – Hauptsache es berührt die vier und die Ideen der Brigade werden adäquat transportiert.

 

Brigade Futur III Ein bisschen Zeit haben wir ja noch COVERInspiriert vom frühen Duke Ellington, polyrhythmischen Überlagerungen, Art- und Indie-Pop sowie US-Hip-Hop lotet die Brigade Futur III den akustischen Klang der Big Band vollends aus und erweitert ihn durch Synthesizer, Trigger-Sounds, Samples und dergleichen. Aus all diesen Einflüssen entstand eine waghalsige Achterbahnfahrt durch eingängige Melodien, serielle Kompositionstechniken, Improvisation, rumpelnden Beats und Jazz. Ulf Drechsel kommentierte im rbb: „Sie jammen im Geiste mit Sun Ra, Ellington, Coltrane, Brecht, Weill und Kurt Schwitters. Die Texte sind skurril, böse, zart und sehr konkret“.

 

Ein bisschen Zeit haben wir ja noch:

Wirklich? Ein bisschen vielleicht, aber wirklich nicht mehr viel.

Und wofür überhaupt.

Um endlich anzufangen, um etwas zu Ende gebracht haben werden?

 

Die Stücke des Albums:

In „Kipppunkte“, eine Hommage an den Komponisten Jay Barry, verarbeitet das Kollektiv eine Rede von Prof. Dr. Maja Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) auf der Bundespressekonferenz und einen Gastauftritt des Schauspielers Uli Plessmann (Berliner Ensemble, Hamburger Staatsoper). „Privare“ handelt vom Privatisierungswahn und geht zurück auf das lateinische Verb „privare“ = „berauben“.

 

Als „Hikikomori“ werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Die Brigadiere wenden den Begriff, untermalt von einem trappig-melancholischen Rhythmus, auf Verhaltensformen innerhalb unserer Gesellschaft an. Der unheimliche und uns fremde „Nachbar“ wird in einer „Coltrane Changes“ genannten Form der Harmonik für uns definiert – komplett mit einem wunderbar vorantreibenden Refrain. Zwischen den Stücken bieten kurze Interludien Verschnaufpausen. Gegen Ende des Albums steht das Stück „Europa“. Ideengeber dafür war Hanns Dieter Hüschs „Volkslied“ aus dem Jahr 1959, das die Brigade mit Augenmerk auf die aktuellen Stellvertreter- und Wirtschaftskriege bearbeitet und vertont hat. Die Fanfare zu Beginn dürfte dem ein oder anderen bekannt vorkommen.

 

Im Künstlerkollektiv BRIGADE FUTUR III kamen Benjamin Weidekamp, Elia Rediger, Jérôme Bugnon und Michael Haves zusammen, um zu Fragen und Herausforderungen unserer Zeit künstlerisch Stellung zu beziehen. Sie reflektieren in ihren Stücken den Zustand der Welt, die Auswüchse des Kapitalismus und vor allem die Möglichkeiten jedes Einzelnen, sich in den Diskurs einzubringen.

 

In ihren Geschichten sprechen sie über Dinge, die sie persönlich angehen, finden Parabeln, die ihre Dilemmata ohne erhobenen Zeigefinger beschreiben, möchten inspirieren, zum Nachdenken anregen und zum offenen Diskurs einladen. Zusammen mit ihren Kollegen der Spielvereinigung Sued haben sie sich zu einer 18-köpfigen Big Band zusammengeschlossen, die in so manchen Kreisen in kürzester Zeit Kultfaktor erlangt hat.

 

In den ersten Jahren verhandelte das Künstlerkollektiv Brigade Futur III gefühlt die richtigen Themen zur richtigen Zeit. Alles wird gut gegangen sein werden war die Überschrift des ersten Albums dafür. Ein positives Narrativ, das die Kritik am Kapitalismus mit einem klaren Aufruf zum Handeln verband. Heute fühlt sich vieles sehr viel unübersichtlicher an, auch wenn gerade die Pandemie, Krieg, der Sturm auf das Capitol, Pharmadeals der EU, Korruption in der Politik, der Umgang mit Reichsbürgern vs. Klimaterroristen, KI, Deep Fake und Doomsday-Bunker uns immer wieder zeigen, wie tief unsere Gesellschaft in der Klemme steckt. Wichtige Stimmen wurden laut und lauter, wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, die Letzte Generation, #MeToo, #BlackLivesMatter und LGBTQA.

 

Und doch zeigt sich die Fragilität unseres Systems zum Beispiel darin, dass ein deutscher Lebensmittelkonzern für die Umbenennung einer Fertigsoße ausgezeichnet wird und zeitgleich neue, deutlich unter Tarif liegende Arbeitsverträge an seine Mitarbeiter ausgibt. Wenn du in einem Teufelskreis steckst, liegt der Teufel nicht im Detail, sondern im Kreis.

 

Bevor die beiden Westfalen Michael Haves und Benjamin Weidekamp sowie die beiden Schweizer Jérôme Bugnon und Elia Rediger zur Gründung der Brigade Futur III das erste Mal zu viert zusammenkamen, arbeiteten sie als Instrumentalisten, Sänger, Komponisten, Arrangeure, Songwriter, Produzenten und Autoren bereits seit der Jahrtausendwende in verschiedenen Dreier- und Zweier-Konstellationen in unterschiedlichen Projekten zusammen. Darunter sind die Bands Olaf Ton, Stereo Lisa, Filter Bubble, Seeed, The Bianca Story und Super 700. Sowie gemeinsame Film- und Theatermusik in Berlin, Basel, Bern, Gent, beim Podium Esslingen und beim Zürcher Theaterspektakel in Eigenregie oder in Zusammenarbeit mit Milo Rau, Barbara Weber, Nurkan Erpulat und Robert Wilson. Hörspiele für den WDR, NDR, SRF und im Musiktheater bei Oh Albert, Oh Boyoma und der Glen Core-Oper Hercule de Lubumbaschi.

 

Mit der Leipziger Big Band Spielvereinigung Sued verbindet die Brigade Futur 3 seit 2016 eine enge Zusammenarbeit. Zwei CDs sind gemeinsam eingespielt worden, darunter das bei WhyPlayJazz 2017 erschienene Alles Wird Gut Gegangen Sein Werden im legendären Funkhaus Studio Berlin. Es folgten Tourneen und Auftritte u. a. in der Deutschen Oper Berlin, dem X-Jazz, den Leipziger Jazztagen, bei den Eldenaer Jazz Evenings und beim Sturm auf den Reichstag als Abschluss der General Assembly von Milo Rau an der Schaubühne Berlin sowie einem Benefizkonzert zugunsten von SOS Mediterranée. 2019 war die Brigade Futur 3 ‚Artist in Residence‘ beim Darmstädter Jazzforum inklusive einer Ausstellung und einem vom HR mitgeschnittenen Konzert.


Brigade Futur III: Ein bisschen Zeit haben wir ja noch

Label: WhyPlayJazz. Vertrieb: NRW (CD, LP), The Orchard (digital)

Formate: CD, LP, digital

EAN: 1971902057258

VÖ: 02.02.2024

- Weitere Informationen (Band)

- Weitere Informationen (SpielvereinigungSued)

 

YouTube-Video:
Brigade Futur III - Hikikomori (Official Video, 5:52 Min.)

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