Kaum ist Renzo Pianos neuer Architekturfilm „Architekt des Lichts“ (Regie: Carlos Saura) in den deutschen Kinos angelaufen und die Tragödie der teileingestürzten Autobahnbrücke des Ponte Morandi – deren Bilder im August 2018 um die Welt gingen – wenn noch längst nicht verarbeitet, so doch zunächst mühsam überlebt, da gibt sich die norditalienische Stadt Genua alle Mühe, um mit unerwarteten kulturellen Glanzlichtern von sich reden zu machen und andersartige Akzente zu setzen: Die „Rolli Days“ locken vom 3. bis 5. Mai 2019 drei Tage lang Besucherströme in die geschichtsträchtige ehemalige Seerepublik – die „superbe“ oder durchlauchtigste „Repubblica di Genova“ – an die ligurische Riviera.
Mit „Rolli“ sind dabei weder eine „Ralley“ noch ein „Rollstuhl“ gemeint, sondern Adelspaläste – und was für welche! Ein jeder von ihnen ist seit 2006 offiziell als UNESCO-Kulturerbe gelistet. Und apropos gelistet, die Aufklärung des Namens „Rolli“ hat seinen Ursprung genau in jenem Begriff: Im Jahr 1576 erstellte der Senat der Republik Genua „Listen“ – die sogenannten „Schriftrollen öffentlicher Wohnhäuser“ (Italienisch kurz „Rolli“ genannt) – in denen die wichtigsten Paläste der Stadt verzeichnet wurden. In den vorangegangenen Jahren hatten die Genueser Adelsfamilien viele antike Wohnsitze im historischen Stadtkern vollständig erneuert, während andere, noch bedeutendere Familien neue, prunkvolle Residenzen in der damals ebenfalls neu gebauten Genueser Hauptstraße, der „Strada Nuova“ (heute Via Garibaldi), errichteten.
Da es nicht möglich war, Staatsgäste im Palast eines Monarchen zu beherbergen – den gab es nämlich Jahrhunderte lang in der Ligurischen Republik gar nicht – wurden die aristokratischen Eigentümer der in den Listen verzeichneten Palazzi dazu verpflichtet, auswärtige Diplomaten, Würdenträger und Adlige, die die unabhängige und freie Republik mit den Beinamen „La superba“ (Deutsch: „Die Durchlauchtigste“) oder „La dominante“ (Deutsch: „Die Beherrschende“) besuchten, in ihren prachtvollen Residenzen zu empfangen. Wer jeweils der Gastgeber zu sein hatte, wurde jedes Mal neu ausgelost.
Dieses in Genua praktizierte Modell der Gastfreundschaft – heute würde man wohl von einer „Public-Private-Partnership“ sprechen – ist einzigartig. Dank der bereits damals zahlreichen Besucher aus aller Welt, darunter die berühmten flämischen Maler Peter Paul Rubens und Antoon van Dyck sowie deren italienisches Pendant Michelangelo Merisi da Caravaggio, später viele Literaten (u.a. Flaubert, Dickens) und Musiker (u.a. Wagner, Sibelius), wurde Genua wegen derer positiver Beschreibungen und mannigfaltigen künstlerischen Inspiration in ganz Europa berühmt.
Zweimal im Jahr öffnen die „Palazzi dei Rolli“ – also die seit dem 16. Jahrhundert „gelisteten“ Prunkhäuser Genuas – ihre Türen und Tore. Das öffentliche Interesse während jener Tage – die jeweils im Frühjahr und Herbst von der Stadt festgelegt werden – ist auch bei den Genuesen selbst sehr hoch. Denn die sonst verschlossenen und teilweise wegen der engen Gassen in der Altstadt kaum gebührend wahrnehmbaren Gebäude und Architekturen der Spätrenaissance und des Barocks bergen im Inneren kulturelle Schätze, die faszinieren. Die Stadt und die Eigentümer stellen wie damals den Besuchern ihre Paläste, in die heute inzwischen Banken, Verwaltungen, Geschäfte, Firmen, Museen, Kaufhäuser und Wohnhäuser eingezogen sind, größtenteils kostenfrei zur Besichtigung zur Verfügung oder organisieren Führungen durch die historischen Gemäuer.
Bald gewähren die „Rolli“ vom 3. bis 5. Mai wieder Italien-Liebhabern, Kultur-Touristen sowie den eigenen neugierigen Landsleuten einen Blick hinter die Kulissen ihrer stilvollen Fassaden, wenn sich ihnen wieder für kurze Zeit wie von Geisterhand ein Zugang zu den ansonsten für die breite Öffentlichkeit verschlossenen Räume eröffnet. Wir haben vorab schon einmal durch die Schlüssellöcher geschaut und einige Momentaufnahmen der schönsten Säle, Treppenaufgänge, Fresken, Terrassen und Panoramaansichten, die sie hier erwarten, zusammengestellt.
Der Palast des Prinzen. Der aus dem alten Genueser Adelsgeschlecht stammende Fürst Andrea Doria (1466-1560) hatte sich als Admiral und Flottenführer einen Namen in den Kämpfen gegen die Osmanen, Franzosen, Österreicher und gegen Piraten gemacht. Er war später ein vorausschauender Politiker, der durch die Allianz mit dem spanischen Kaiser Carlos V. für die Seerepublik Genua eine vergleichbare Hochblüte von Kunst und Kultur wie das Goldene Zeitalter in Spanien (ca. 1550-1660) einleitete. Als Dank für seine Verdienste, insbesondere gegen Frankreich im Jahr 1521 schenkte ihm die Stadt das Grundstück, auf dem er sich den „Palazzo del Principe“ (wörtlich: „Palast des Prinzen“ oder „Palast des Fürsten“) mit seiner kultivierten Gartenanlage bauen ließ.
Für den Bau seines Palastes wählte er eine strategisch günstige Lage – außerhalb der damaligen Stadtmauern – mit der breiten und langgezogenen Front zum Hafen und Meer. Von der Terrasse aus konnte er sowohl auf die Stadt als auch über den Park auf die Hafenmolen blicken. Seine Gäste stiegen direkt vom Schiff seinen Palastgarten hinauf und gelangten so direkt vom Wasser in die breit angelegte, repräsentative Villa.
Andrea Doria ließ von verschiedenen Künstlern Fresken, Decken- und Wandbilder, Gemälde und Gobelins anfertigen, die in der heute als Museum fungierenden Villa zu besichtigen sind. Lediglich ein kleiner Trakt weniger Räume wird noch von der Familie Doria-Pamphili gelegentlich bewohnt, die den Palazzo erst kürzlich aufwendig renovieren ließ. Familien- und traditionsbewusst – ganz im römisch-empfundenen Stil der Genueser Renaissance – sind im Eingangsbereich zu den repräsentativen Empfangsräumen die Familienoberhäupter der Dorias vom Mittelalter bis ins frühe 17. Jahrhundert verewigt worden. Prachtvoll ist auch die Deckenmalerei, die sich über drei Gewölbe in einzelnen Kassetten, ornamental und mit Bildszenen ausgeschmückt, verteilt.
Andrea Dorias Ballsaal ist nur einer der großen Repräsentationsräume der Villa: Hier die Galleria Aurea („Goldene Kunstgalerie“) mit reich verzierten Stuckdecken, Vorhängen und Stoffmusterbannern an den Wänden sowie den in Genua und ganz Norditalien typischen schwarz-weiß gemusterten Fußböden. Besonders beliebt war die Kombination aus Marmor und Schiefer oder Granit. Zu festlichen Anlässen werden im Saal vergoldete mannshohe Leuchter entlang der Wände aufgestellt und Portrait- und Familiengemälde gehängt.
Ein weiterer zu den „Rolli“ gehörender Palazzo ist der „Königliche Palast“ – auf Italienisch heißt er „Palazzo Reale“. Ganz nach dem Vorbild des „Palazzo del Principe“ ist die Straßenseite an der Via Balbi eher nüchtern und gradlinig gehalten im Vergleich zur Pracht der dem Hafen zugewandten Seite. Geschachtelte, symmetrische Baukörper, der Innenhof, rundum Terrassen und ein Garten, an dessen Ende früher einmal ein Brückenbau direkt zum Antiken Hafen führte, der in den 1960er Jahren aber wegen einer Schnellstraßentrasse abgerissen wurde, zeichnen den Königspalast aus. Ganz im Barockstil gehalten sind auch hier Bezugspunkte zur Antike und zur Römerzeit zu finden.
Seit genau 100 Jahren ist der „Palazzo Reale“ ein Museum, das Gemäldeausstellungen, Einrichtungsgegenstände aus dem 17. und 18. Jahrhundert und den nach Versailler-Vorbild geschaffenen Spiegelsaal mit seinen Skulpturenreihen beherbergt. Der Genueser Bildhauer Francesco Maria Schiaffino (1689-1765) schuf die zentrale, über zwei Meter hohe Marmorskulptur am Ende des tiefen Raumes: den „Ratto di Proserpina“ („Der Raub der Proserpina“, um 1724/25).
Nachdem der 1620 fertiggestellte Palazzo zunächst von der aristokratischen Familie Balbi an die Durazzos verkauft wurde, gelangte das immer wieder erweiterte Gebäude 1823 an das königliche Haus Savoyen, das dieses nach 1861 zu seiner offiziellen Stadtresidenz machte. Der italienische König beauftragte den Genueser Architekten Michele Canzio mit der Einrichtung eines Thronsaals, des Audienzzimmers und des Ballsaals. Mit seinem großen Leuchter und den Trompe-l'Œil-Kassetten der Decke versprüht dieser Tanzsaal den Geist des Klassizismus in Reinform. 1919 ging der Palast in Staatsbesitz über.
Neben der Via Balbi mit ihren dicht beieinanderstehenden Palästen ist die Via Garibaldi ein weiteres Zentrum der „Rolli-Days“. Der „Palazzo Rosso“, 1671 erbaut, gehörte bis 1874 der Patrizierfamilie Brignone Sale. Als das Geschlecht aber ohne Erben blieb, vermachte das letzte Familienmitglied sowohl das Gebäude als auch die bedeutende, darin enthaltene Kunstsammlung an den Comune di Genova.
In seinen Innenräumen befindet sich heute eine der wichtigsten Kunstgalerien mit Werken von van Dyk, Strozzi, Veronese und vielen anderen Künstlern. Der Kern und Schwerpunkt liegen auf der Flämischen Malerei, der Venezianischen Schule des 16. Jahrhunderts und der Genueser Schule des Barocks. Erwähnenswert ist die wunderschöne Ausschmückung des Palastes mit Wand- und Deckenmalereien sowie den häufig integrierten Stuckarbeiten.
In der ehemaligen „Strada Nuova“ – der heutigen Via Garibaldi – reiht sich ein „Rolli“-Palast neben den anderen, wie sich anhand der Modelle im Erdgeschoss des „Palazzo Rosso“ (Deutsch: „Roter Palast“) schön erkennen lässt. Um sich einen Überblick zu verschaffen, ist es sinnvoll, diesen Palast als ersten zu besuchen.
Ein Stückchen weiter die Via Garibaldi entlang finden sich die Stadtvillen der Familie Angelo Giovanni Spinola (links) mit einem besonders sehenswerten Deckengemälde. Wenn das schwere, mit Eisenspitzen versehene Holztor geöffnet ist, unbedingt hineinschauen! Die Decke der Eingangshalle des „Palazzo Tobia Pallavicino“ hingegen ist als Reminiszenz an die Kunst der Paläste Pompejis gehalten, ein beliebtes Zitat während der Spätrenaissance.
Die von Lorenzo De Ferrari (1680-1744) entworfene „Galleria Dorata“ (Deutsch: „Goldene Galerie“, 1734-1744) mit dem Spiegeltisch im „Palazzo Carrega Cataldi“ befindet sich heute dort, wo die Handelskammer ihren Sitz hat.
Der „Palazzo Grillo“ neben der Kirche „Santa Maria delle Vigne“ ist mittlerweile zu einem wundervoll restaurierten Hotel umfunktioniert worden: Die Atmosphäre hat den Charme der Historie bewahrt, aber dennoch ist ein zeitgemäßes Ambiente in die Zimmer eingezogen. Auch hier ist der Gang durch die großen Säle und Räume sowohl einen kleinen Spaziergang durch die europäische Geschichte wert, als auch ein pures Vergnügen.
Nicht ganz so ohne Weiteres kommen die Einwohner oder Besucher Genuas in den „Palazzo Gio Battista Centurione“, denn dieser ist nicht nur Privateigentum, sondern hier wird auch tagaus, tagein gewohnt und gearbeitet. Wer das Glück hat – und das ist ausschließlich zu den „Rolli-Days“ und, genauer gesagt, auch erst seit 2018 erstmalig möglich – in die Räume der dort ansässigen Schifffahrtsagentur zu gelangen, sollte dies unbedingt tun. Einen erhabeneren Arbeitsplatz kann man sich wohl kaum vorstellen: Über den Schreibtischen und Computern thronen Himmelgemälde, Heerscharen von Putten, Allegorien und reichhaltige Szenen, Symbole und Motive aus der Antike.
Rolli Days Genua– Frühjahrs-Edition, 3. bis 5. Mai
- Weitere Informationen
- Weitere Informationen zu Rolli UNESCO
Lohnenswert sind Führungen, die in verschiedenen Sprachen (engl. Franz.) angeboten werden. Informationen und buchbar unter Visit Genoa (engl.)
Youtube-Video:
3-4-5 maggio: tornano i Rolli days!
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KulturPort.De — Follow Arts dankt der Comune di Genova für die großzügige Unterstützung.
Abbildungsnachweis der Galerie:
Bild 1: Villa del Principe (Palazzo Doria), Giardino del Satiro. Foto: © Visit Genova
Bild 2: Blick von der Terrasse auf die Stadt. Foto: Claus Friede
Bild 3: Fotos (links): C. Severino; (rechts) Claus Friede
Bild 4: Foto: C. Severino
Bilder 5, 6 und 7: Palazzo Reale. Foto: © Visit Genova
Bild 8: Palazzo Rosso. Foto: © Xedum
Bild 9: Foto: © Visit Genova
Bild 10: Foto: Claus Friede
Bild 11: Fotos (links): S. Bucciero; (rechts) C. Severin
Bild 12: Foto: Stefano Goldberg
Bild 13: Palazzo Grillo. Fotos: Claus Friede
Bild 14: Palazzo Gio Battista Centurione. Foto: Claus Friede
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