„Big Brother is watching you”. Wer George Orwells Roman „1984” gelesen hat, dem hat sich dieser Satz eingeprägt. Heute jedoch ist der „Große Bruder“ keine schreckenseinflößende Gestalt mehr, heute heißt er Google oder iPhone, ist ein unverzichtbarer Begleiter geworden, der zu jeder Zeit weiß, wo wir uns befinden und welche Vorlieben wir haben. Bedrohung? Iwo. Wie gefährlich unsere Naivität ist, zeigt jetzt die Bühnenfassung von „1984“ am Ernst Deutsch Theater.
Langanhaltender Beifall für ein Stück, das nur schwer zu verdauen ist.
Als George Orwell seine Horrorvision von einem totalen Überwachungsstaat 1948 niederschrieb, hatte er den Faschismus in Deutschland und den Stalinismus in Russland vor Augen. Totalitäre Regime, in dem das Denken gleichgeschaltet wurde und die Geschichte nach Belieben verfälscht. Was Wahrheit ist, bestimmt die Partei und wer heute Freund ist, ist morgen schon Feind.
Totale Manipulation, totale Unterdrückung, totale Macht – für uns heute immer noch mit Diktaturen und Unrechtsregimen verbunden. Dabei sind wir längst Opfer dieser allumfassenden Überwachung geworden. Jeder von uns hat seine kleinen Helferlein und wir finden es auch noch gut. Eine ganze Generation postet sämtliche privaten Befindlichkeiten auf Facebook oder Instagram. Kaum noch ein Auto ohne GPS, wenn es nicht fest installiert ist, dann doch zumindest auf Handy. Wie soll man sich sonst auch zurechtfinden? Und dass ungefragt Werbung von Kleidung oder Schuhen auf der Seite aufploppt, wenn man gerade was ganz anderes sucht, wird auch problemlos akzeptiert. Wir wissen ja inzwischen, dass Google alles an Daten über uns speichert, was zu bekommen ist. Und wer zwei Mal auf einer Modeseite im Netz war, der bekommt eben weiter Angebote, sobald er online ist. Logisch!
Wir sind so an allumfassende Überwachung gewöhnt, dass uns Edward Snowdens NSA-Enthüllungen kaum aufgeregt haben. Nun postet Donald Trump dauernd was von „Fake News“ – und der Aufschrei gegen die Wahrheitsverdrehung bleibt erstaunlich leise. Das heißt: „1984“ ist längst Realität geworden – nur so geschickt eingeflößt und uns schmackhaft gemacht, dass man es gar nicht als Bedrohung empfindet.
Das ist in der Bühnenfassung von Robert Icke und Duncan Macmillan (Deutsch von Corinna Brocher) ganz anders. Hier lebt Winston Smith, Mitarbeiter am Ministerium für Wahrheit, in ständiger Angst. Seine Aufgabe ist es, Geschichtsfälschung zu betreiben. Alles so umzuschreiben, wie es der Partei gefällt. Und Personen, die in Ungnade gefallen sind zu „entpersonen“. Doch Winston zweifelt am System. Er sehnt sich nach einer unredigierten Vergangenheit, schreibt heimlich Tagebuch und verliebt sich in seine Parteigenossin Julia. In seinem Staat „Gedankenverbrechen“, die mit Folter und Gehirnwäsche geahndet werden.
Regisseur Elias Perring lässt es langsam angehen in der altmodischen, grauen Kantinenwelt, die Petra Winterer auf die Drehbühne gestellt hat. Jeder sitzt an seinem Tisch, mal sitzen sich auch zwei Kollegen gegenüber, jeder misstraut jedem. Das Setting erinnert an die DDR, auch die Beamten in ihren grauen Anzügen. Eine unwirtliche Welt, aus dem Winston und Julia fliehen wollen – in einen privaten Raum, in dem sie sich ihrer Liebe und ihren revolutionären Ideen hingeben können. Doch das Ganze ist nur „Fake“. Der angeblich abhörsichere Raum ein Teil des perfiden, in sich geschlossenen Systems, das in der ständig kreisenden Drehbühne zum Ausdruck kommt. So langsam sich das Unheil im ersten Teil des Stückes auch anbahnt, so drastisch schlägt es dann nach der Pause zu. Die Folterszenen sind so realistisch, dass ihn etliche Zuschauer kaum aushalten können. Bei der Premiere jedenfalls verließen etliche den Saal.
Alexander Finkenwirth spielt Winston und er ist ein Glücksfall in dieser Besetzung.
Man glaubt diesem jungen Mann jede Regung, jeden Zweifel, jeden Enthusiasmus. Insbesondere das Folteropfer spielt er brillant. Luisa Taraz‘ Julia ist eine absolut undurchschaubare junge Frau, von der man bis zuletzt nicht weiß, ob ihre Liebe zu Winston echt ist oder nur fingiert.
Auch die Nebenrollen sind überaus stimmig besetzt. Der von Andreas Seifert verkörperte O’Brien ist ein skrupelloser Folterknecht, wie er im Buche steht, Christoph Tomanck ein serviler Untertan, wie man ihn sich nicht besser wünschen kann.
Fazit: Ein mutiges Stück. Ein wichtiges Stück! Es zeigt eindrucksvoll, wie altmodisch Orwells kühnsten Visionen aus heutiger Sicht sind. Die Realität hat sie längst überholt.
George Orwell: 1984
Bühnenfassung von Robert Icke und Duncan MacmillanDeutsch von Corinna Brocher
Zu sehen bis 30.09.2017Â im Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1 in 22087 Hamburg.
Regie: Elias Perrig - Ausstattung: Petra Winterer - Video: Urte Alfs Musik: Lukas Kiedaisch - Ensemble: Alexander Finkenwirth, Isabell Fischer, Hartmut Lange, Felix Lohrengel, Trigal Sandberger Cañas, Andreas Seifert, Luisa Taraz, Christoph Tomanek, Oliver Warsitz.
Karten:Â 22,00 € bis 42,00 €, inkl. Garderobe und HVV, Ermäßigung auf Anfrage.
Weitere Informationen
Podiumsdiskussion:
Im Anschluss an die Vorstellung am Mi, 20.09.2017 findet in Kooperation mit der Universität Hamburg eine Podiumsdiskussion statt.
TheaterPlus:
Die Vorstellung am Fr, 22.09.2017 um 19.30 Uhr wird mit Gebärdensprach-Dolmetschern angeboten. Wir laden Sie außerdem eine Stunde vor Vorstellungsbeginn im Foyer zu einer Stückeinführung ein.
Abbildungsnachweis:
Alle Fotos © Oliver Fantitsch
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