Musik
Kultur - Kunst Ulrich Maiss: unterwegs - Cellectric

Ulrich Maiss ist Cellist, kein gewöhnlicher, keiner, den man im Orchestergraben vermutet, und keiner, der ausschließlich in einem Ensemble den Tenorpart der Streicher übernimmt.
Ulrich Maiss aka Cellectric ist Sounddesigner, experimenteller Musiker und beherrscht dennoch auch ein klassisches Repertoire. Sein Studium der klassischen Musik im Fach Violoncello schloss er 1993 an der Hochschule der Künste Berlin mit Examen ab. Es folgte eine internationale Karriere als Interpret zeitgenössischer und klassischer Kammermusik, die ihn durch Westeuropa, Nordamerika und nach Japan führte. Maiss spielte Uraufführungen namhafter Komponisten, wie Joseph Butch Rovan, Mario Bertoncini, Kasper T. Toeplitz, Ulrich Krieger, Phill Niblock und Il-Ryun Chung. Er arbeitet live und im Studio mit Lou Reed, Al Di Meola, Zülfü Livaneli, Element Of Crime, Markus Stockhausen, Vinx und Maria Farandouri und ist oder war Mitglied in Bands und Ensembles: envyloop, zeitkratzer, der Kammerakademie Potsdam, im Ensemble Oriol, KooKoon, ZsaZsa Buschkow, Berlin Improvising Composers Ensemble, im Boris Blacher Ensemble und Trio Filou. Seine Kompositionen und Sounddesign-Installationen wurden in Deutschland, den USA, Kanada und auf der Biennale in Venedig uraufgeführt.

Claus Friede traf Ulrich Maiss zu diesem Gespräch nach seinem Konzert „unterwegs“ am 10. Juli 2011 auf der Schossinsel Rantzau in Barmstedt, bei dem er in der Galerie Atelier III, Landschaftsbilder des Malers Hieronymus Proske interpretierte.

Claus Friede (CF): Wie bist du zur Musik und speziell zu dem, was du heute machst, gekommen? Was treibt dich an?

Ulrich Maiss (UM): Angefangen habe ich wie die meisten auch: ich bekam als Kind bereits Musikunterricht. Das Cellospiel habe ich mit sieben angefangen, eher zufällig. Meine Flötenlehrerin sagte meinen Eltern, der Ulrich hat zu große Hände für Flöte, lassen sie den mal Cello spielen. Und das tolle mit dem Instrument Cello war, dass ich ganz schnell so weit fortgeschritten war, dass mir keiner mehr was sagen konnte. Ich hatte plötzlich in meiner Familie einen eigenen, individuellen, virtuellen Raum, ganz allein für mich. Niemand konnte mir dazwischenfunken. Mich interessierte allerdings nicht lediglich, das Instrument spielen zu können, sondern ich hatte parallel ein großes Interesse an Technik. Ich war ungefähr neun Jahre alt, spielte also schon Cello, da fing ich an, mit Tonbändern zu experimentieren. Mein Vater hatte ein UHER-Gerät, da konnte man zwei Monospuren oder eine Stereospur abspielen in drei verschiedenen Geschwindigkeiten. Zunächst habe ich Aufnahmen gemacht mit Mikrofonen und meinen Cello-Sound, danach habe ich diese in Blechdosen hineingelegt und erneut Aufnahmen gemacht und miteinander verbunden. Das waren die ersten experimentellen Sounds, die mit Technik verändert wurden. Sehr abgefahrenes Zeug. Als ich 14 Jahre alt war lernte ich einen älteren Kollegensohn meines Vaters kennen. Der studierte Freie Kunst in Düsseldorf und hörte Musik, die ich nicht kannte: Rolling Stones und Jimi Hendrix. Er hat mir Tapes aufgenommen. Das hat dazu geführt, dass ich später ein ganzes Jahr nur Musik von Jimi Hendrix gehört habe. Rauf und runter. Es gab Gott sei Dank noch kein Internet, sonst wäre ich wohl gar nicht mehr aufgetaucht.

CF: In welchem Jahr war das ungefähr? Noch zu seinen Lebzeiten?

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UM: Nein, ich war 16 – das war 1983. Nach Hendrix, den ich bis heute verehre, kam die nächste Entdeckung: Miles Davis. Später habe ich nächtelang beim Rockpalast in Essen gehangen. Als Prince kam, da hat es mich erneut erwischt. Er und seine Musik gehören zum Besten was ich kenne.

CF: Aber sind er oder Davis oder Hendrix wirklich musikalische Vorbilder?

UM: Ein Vorbild habe ich nicht. Was es klanglich gibt, sind Passagen, die an Jimi Hendrix erinnern können, auch an die von ihm benutzte gewisse spielerische Unsauberkeit und seine Art zu grooven. Die Spielweise ist bei Prince technisch übrigens wesentlich härter oder viel genauer. Ich bin dort hängen geblieben, irgendwas hat mich angefasst. Diese Musik hat bis heute starken Einfluss, die genannten Beispiele stehen jedoch nicht als harte Wechsel nebeneinander, vielmehr fließen sie ineinander. Mit 17 wollte ich mich noch weiter von der Klassik entfernen und wurde Mitglied in einer Freejazz-Band in Düsseldorf, die hießen „Young Love Eating Pommes“, ein Sextett. In jenen Jahren wurde mir klar, was ich machen wollte und ich habe dann lange dafür gekämpft, nicht in ein Orchester zu müssen. Ich hatte große Auseinandersetzungen mit meinen Eltern diesbezüglich, weil ich sicherlich das Zeug gehabt hätte, dort gut situiert eine Karriere zu machen. Auch bei meinem Professor an der HdK musste ich mir das hart erkämpfen und es hat ein Jahr gedauert, bis bei ihm der Knoten platzte und er nachgab. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob er vielleicht absichtlich alles auf die Spitze trieb, um mich und meine Willensstärke zu testen. Es war ein Kampf ums Rückgrat.

CF: Aber war das denn wenigstens produktiv?

UM: Ja! Denn danach war alles klar und es hat sich musikalisch positiv ausgewirkt. Ich habe überwiegend Klaviertrios gespielt, Kammermusik, moderne Franzosen und Experimentelle Musik. Alles mit ihm und seiner Unterstützung, das war wirklich hilfreich. Meine Kommilitonen waren eher damit beschäftigt, der Institution zu huldigen und vergaßen das Individuelle. Mein Weg war ein anderer! Viele haben meine Art belächelt und meine Annäherung an die Klassik. Ich legte bei einem öffentlichen Konzert einen Bach hin, der die meisten nur erstaunt und neidisch zurück blieben ließ und danach hat keiner mehr ein Wort mit mir gesprochen.

CF: Und wie war dann der nächste Schritt, nach der Ausbildung?

UM: Ich hätte den Schritt aus der Lehre gerne fließend gehabt. Ich hatte damals eine Band, eine Jazz-Rock-Band. 'Zsa Zsa Buschkow' war ein oder zwei Jahre bekannt. Wir hatten eine Platte bei Traumton produziert, die richtig gut ankam. Nach meinem Studium und Examen hatte ich dann auch noch privat Stress, meine Freundin verließ mich. Ich habe mich dann mit Arbeit vollgepackt und bin relativ spontan mit dem Berlin Improvising Composers Ensemble auf Nordamerika-Tour gegangen, nach New York und Toronto. Und in Toronto hab ich dann meine Ehefrau kennen gelernt und bin innerhalb dreier Monate aus Berlin weggezogen; ich habe alles abgesagt, sämtliche Auftritte und Anfragen als Studiomusiker, selbst bereits finanzierte Projekte mit Rückzahlung der Fördermittel. Ich lebte also in Toronto, hatte gedacht, jetzt kannst du mal in Ruhe proben und spielen und baue mir etwas Neues auf. Die Realität sah aber dann so aus: Ich habe ein Jahr lang mein Cello nicht in die Hand genommen. Ich bin in Kanada angekommen, habe das Instrument in die Ecke gestellt und bin 365 Tage um dieses Ding drum herum geschlichen und hab dann neu angefangen, nach diesem Jahr.

CF: Und was ist in diesen 365 Tagen passiert? Was war der Auslöser, das Cello wieder in Hand zu nehmen und neu zu beginnen?

UM: Das ist ein komplexes Thema. Es war und ist eine prozessuale Entwicklung und eigentlich habe ich auch noch die ganzen letzten 20 Jahre damit zu tun gehabt. Es ging und geht um künstlerische Haltung. Ich versuche Rückgrat zu bewahren und das zu tun, was mich musikalisch-künstlerisch interessiert und auf der anderen Seite muss ich Geld verdienen. Es ist das alte, große Thema. Was kann ich wie machen um zu überleben, ohne mich zu verkaufen. Längst weiß ich, dass ich mit dem, was ich mache, nicht ausreichend Geld verdienen kann, es ist zu speziell und trifft keinen Massengeschmack. Jeder Künstler steht irgendwann einmal genau vor diesem Punkt, sich entscheiden zu müssen – und egal für was man sich entscheidet, der Ausgang ist ungewiss. Meine Entscheidung lautet meine Glaubwürdigkeit als Musiker nicht zu verlieren. Damals in Kanada hatte ich wohl so eine Art ‚burnout’ und Sinnkrise zugleich. Ich habe als Lagerarbeiter gejobbt, Kisten und Kästen gestapelt, ich musste mit einem Bus zur Arbeit fahren und die letzten paar Kilometer laufen. Und nun passierte etwas sehr eigenartiges: Mir fiel auf, dass ich immer in einen musikalischen Laufrhythmus verfallen bin, keinen der Stones oder von Jimi Hendrix, vielmehr in einen von klassischen Stücken, die ich noch nie gespielt hatte. Ich lief im Rhythmus von Haydns D-Dur Konzert oder Dvořáks Cellokonzert, oder Strauss’ 'Don Quixote'. Ist es nicht verrückt, ich marschiere von der Bushaltestelle los zur Arbeit und war plötzlich bei Haydn..?

CF: Klingt unglaublich gut!

UM: Darauf hin begann ich wieder zu spielen. Nach dem Studium und einem Jahr Pause und der Arbeit als Lagerarbeiter habe ich mich dann hingesetzt und Richard Strauss’ ‘Don Quixote’ einstudiert.

CF: Also der Rhythmus des Gehens ergab einen Rhythmus des Spielens. Du hast eben aber auch erzählt, dass Du in Kanada als Lagerarbeiter gearbeitet hast. Dieses Moment des Stapelns findet man ja auch in der Musik. Du schichtest und baust und diese Schichtungen werden Komposition. War das auch ein vergleichbarer Vorgang?

UM: Ja. Ich bin sowieso einer der gerne stapelt und in gewisser Weise auch abarbeitet. Für mich sind zum Beispiel Wegstrecken wichtig und hier verbinden sich beide Punkte, Laufen und Stapeln. Ich laufe sehr gerne viel und lang; immer irgendwas über 20 Kilometer. Rhythmus spielt, wie erwähnt, eine zentrale eine Rolle, auch eine gewisse Form von Eintönigkeit. Musikalisch habe ich dieses Moment technisch aufgenommen mit den Loops oder Schleifen eines wiederkehrenden Rhythmus’. Der darf dann auch zwei Stunden so belassen werden. Und darüber beginnt dann das Stapeln. Der Grundrhythmus wird immer wieder neu überlagert und das Publikum hört die permanente Veränderung. Es ist ein Spiel mit der Leere, dem Wiederholen und dem Raumfüllen, mit Gehen und Stapeln.

CF: Lass uns nun über dein Konzert sprechen. Du hast Bilder von Hieronymus Proske interpretiert, es sind Landschaftsbilder, die verfremdet sind, Brüche aufweisen und unterschiedliche Jahreszeiten und Zeitphasen sichtbar machen. Heute war es eine Kombination aus Sehen und Hören, Hören und Sehen. Diese Art des Konzertes ist für dich eher ungewöhnlich. Wie weit ist für dich die Bildinterpretation wichtig und hast du eine Choreographie oder einzelne Module oder Fragmente bereits im Kopf entwickelt?

UM: Es gibt Module. Es gibt bestimmte Grooves, die auf dem Cello sehr gut funktionieren. Die nutze ich, da brauche ich nicht nachdenken. Es gibt aber auch Module die fließen spontan aus der Hand, jedoch keinerlei Fahrplan, nur eine grobe zeitliche Orientierung. Zwar hatte ich über eine Konzeption im Vorhinein nachgedacht, aber diese dann schnell verworfen, weil ich so direkter und spontaner sein kann. Ich konzentriere mich drei Minuten vor dem Konzert meditativ, um mich gedanklich zu entleeren und bildlich gesprochen als leeres weißes Blatt auf die Bühne zu kommen und beginnen zu können. Dann ist das Konzert für mich Entspannung, obwohl die Musik ganz anders für den Zuhörer klingt. Auch heute in der Interpretation der visuellen Bilderwelt von Hieronymus Proske. In dieser Zeit bin ich im Zentrum meiner Welt.

CF: Du spricht von Meditation, von Leere, du kleidest dich asiatisch. Wie wichtig ist dieser Aspekt musikalisch? Ich frage das deshalb, weil es in Asien eine andere Klangtradition gibt, eine die wir als disharmonisch empfinden, was in Japan und China beispielsweise eine Jahrtausende lange Tradition hat, was allerdings gar nicht als disharmonisch empfunden wird, sondern als wichtiges Spannungsmoment...

UM: Genau. Auch hier existieren mehrere Schichten, um im Bild zu bleiben. Ich habe lange mit dem Zen Buddhismus geliebäugelt, auch praktiziert und später wieder verworfen. Diese asiatischen Eigenschaften, die du benennst sind bei mir tief verwurzelt. Ich praktiziere I Ging und Tai Chi und meditiere. Ich bemerkte, dass dieser Versuch, leer und gleichzeitig hochkonzentriert zu sein, mir im Sitzen nicht gelingen wollte. Ich bekam Schmerzen in den Füßen oder mir schlief ein Bein ein oder sonst etwas störte. Seit Jahrzehnten trug ich allerdings schon die richtige Form in mir: wenn ich Tonleitern übe. Ich brauche eine Minute, dann bin ich in diesem gleichzeitig leeren und konzentrierten Zustand und kann dann diesen Zustand erstaunlich lange halten. Daraus entwickelte sich die Idee, der ‚ZenMan Improvisations’. Weg von der Komposition hin zu einer Konzeption einer Improvisation.

CF: Du arbeitest mit sehr vielen bekannten, international hochrangigen Künstlern und Musikern zusammen: Robert Wilson, Lou Reed, Al Di Meola. Was bedeutet Dir diese Zusammenarbeit? Was gibt Dir das und was kannst Du geben?

UM: Das ist eine interessante Erfahrung. Ich erinnere mich daran, dass ich mit ‚Element of Crime’ die ersten vier oder fünf deutschen Platten, Mitte der 1980er-Jahre einspielte. Ich war damals sehr davon beeindruckt wie bekannt sie waren, vor 5.000 Leuten zu spielen. In diese Welt wollte ich auch. Längst ist das anders. Wenn ich mit Lou Reed arbeite, dann auf einem ganz normalen Level. Er ist ein ganz normaler Typ, eher schüchtern, verfolgt konsequent und gradlinig seine Projekte. Letztlich ist es das, was faszinierend ist. In der Arbeit ist es genauso wie wir hier jetzt sitzen, wir reden, probieren aus und improvisieren. Ebenso mit Bob Wilson. Es macht ungeheuren Spaß, sich auf diesem ganz hohen Niveau auszutauschen und solange zu probieren, bis es so sitzt wie es sein soll. Aber der Entstehungsprozess ist Improvisation. Es ist für mich wichtig und schön zu sehen, dass es Künstler gibt, die so arbeiten und vorgehen können. Was ich geben kann ist mein musikalisches und technisches Knowhow und meinen unprätentiösen Umgang. Ich arbeite auf Augenhöhe, gebe mich natürlich, aber mit Respekt. Lou Reed sagte mir einmal, es sei für ihn regelrecht eine Erholung, weil es so viele Kratzfüße und Schleimer gibt.

CF: Letzte Frage: Was planst du für die nächste Zeit. Wo würdest du gerne noch hin?

UM: Ich würde gerne die bereits erwähnte ‚ZenMan'-Improvisations-Idee weiterverfolgen und damit – wie ich das schon in den USA tat, in Japan an Hochschulen gehen. Wahrscheinlich nicht allein, sondern mit meinem Duo-Partner.

CF: ‚ZenMan’, kannst du das noch erläutern?

UM: ‚ZenMan’ ist eine Aktion, die ich 2005 das erste Mal durchführte. Nach meinem Studium kam ein Komponist auf mich zu, der sagte: „Zeig mir mal, was du an Spieltechniken draufhast“. Ich habe ihm einige gezeigt und ein paar Tipps gegeben, wie man so was notieren könnte. Er geht ein halbes Jahr ins Kompositionskämmerchen und kommt mit einem unspielbaren Stück zurück, das ich präsentieren soll und mein Name steht nicht mal drauf, ist nirgendwo erwähnt. Zunächst habe ich mich geärgert, dann nachgedacht und dann quasi den Spieß umgedreht. Ich habe mich an verschiedene Komponisten gewandt und gesagt: „Ich spiele alles, was ihr mir anbringt, außer ich muss mich dabei verletzen oder mein Instrument geht kaputt". Ich hab einen technischen Rahmen vorgegeben, welche Effektgeräte, welche Computer, welche Instrumente ich einsetzen kann. Daraus entstand ein ausgebuchtes Konzert mit zwölf Uraufführungen am BKA-Theater in Berlin-Kreuzberg. Diese Kompositionen waren Konzepte zur Improvisation. Eingebaut werden durften Gedichte, Videos, Bilder, Darsteller oder was auch immer. Ein paar Jahre später habe ich das Konzept mit einer Kompositionsklasse an der Brown University in Providence, Rhode Island, USA durchgeführt, unter Einbeziehung aller interaktiven Medien. Das gleiche Konzept habe ich kürzlich noch einmal an der Texas A&M Universität in College Station durchgeführt und es stößt nach wie vor auf eine gewaltige Gegenliebe, bei Studenten und Professoren. Und das würde ich gerne in Japan durch- und weiterführen...



(10:44 Min.) Live-Konzert-Ausschnitt von „unterwegs“ am 10. Juli 2011. © Ullrich Maiss

Fotos © Claus Friede

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