Musik

So kann es kommen: maßloses Wollen kann zur Auslöschung führen. So geschieht es Semele, der thebanischen Königstochter, die auf Wunsch ihres Vaters den Prinzen Athamas heiraten soll, sich aber stattdessen in Gott Jupiter verliebt.

 

Letztendlich führt das zu ihrem Untergang. Georg Friedrich Händels Werk „Semele“ beginnt in c-Moll und wir erwarten intuitiv Dunkelheit und den Geruch von Asche auf der Bühne. Signale eines folgenden erschütternden Dramas mit grauem Ende.

 

Eigentlich. Im Lübecker Theater aber, auf der Bühne des Großen Hauses, wird gleich zu Beginn des großen Abends gefrotzelt und gewitzelt über (gespielt) vergessene Noten hinwegimprovisiert. Wenig seria, viel buffa – und das auf beste Art und Weise.

 

Zunächst geschieht all das in traditionell dunkler Konzertkleidung eines Oratoriums. Eigentlich. Doch schon wird diese dunkle Stimmung optisch gebrochen: Ironischerweise trägt Jupiter, der Bass, hier den ikonisch dem Tenor zustehenden langen weißen Schal. Der eigentlich große Bühnenraum wird durch eine Konzertwand (wie wir sie aus der Lübecker Musik- und Kongresshalle kennen) abgetrennt, im Hintergrund singt der schwarzgekleidete Chor, im Vordergrund musiziert auf gleicher Ebene das Orchester, überall davor und dazwischen agieren und singen die Solisten. Nach dieser irritierend überzeugenden Einleitungsphase ausgeprägter Ambivalenz und sich steigernder Rezeptionsakzeptanz stellt sich reine Freude beim Publikum ein.

 

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Der energetische Kern des Abends ist Takahiro Nagasaki, er ist im ersten Teil „nach Art eines Oratoriums“ endlich einmal zu sehen in seiner musikalisch-leidenschaftlich-fordernden Arbeit. Und das kleine, durchaus barock-orientierte, aber modern klangkräftige Orchester hat seine Hausaufgaben offensichtlich freudig gemacht. Die barocken Klangfiguren werden in durchweg ambitionierten Tempi bewundernswert rhythmisch akzentuiert, dynamisch kontrastierend, immer musikalisch atmend in großer Vitalität gemeistert. Und Nagasaki gelingt es, diese positive Spannung bis zum letzten Ton aufrecht zu erhalten. Bravo! Ebenso überzeugend der Chor (Leitung: Jan-Michael Krüger), zunächst in oratorischer Zurückhaltung, dann immer häufiger dramatisch eingreifend und lebendiger werdend – bis hin zur bunten, äußerst lebendigen „Hippie“- und „Endless-pleasure“-Szene (Bühne und Kostüme: Ashley Martin-Davis).

 

Zunächst jedoch, im Moment von Semeles Entführung, stürzt das Oratorium, stürzen die Chor-Stühle unter lautem Bühnengetöse zusammen, die Choristen schreien durcheinander, am Himmel fliegen dröhnende Kampfjets, das Orchester fährt in den Graben. Der gute Christ im Publikum assoziiert Grab statt Graben, denkt an „Asche zu Asche“, denkt an Auferstehung. Und dazu wird es ja auch am Schluss kommen, wenn Jupiter (Frederik Jones) alias Präsident Kennedy einen Phoenix aus der Asche ankündigt, der mächtiger als Amor ist. Aber jetzt hat erst einmal die Oper ihren großen Auftritt, jetzt wird es bunt. Die optische Strenge des Oratoriums ist aufgehoben.

 

Im pinken Bett im Oval Office rekelt sich Marylin, rekelt sich Semele, kämpft um ihren Geliebten. Sie betrachtet sich im Spiegel (hier: die Titelseite der Zeitschrift „Spiegel“, die mit ihrem Konterfei geschmückt wird). Rasende Reporter scharwenzeln um sie herum, Fotoapparate klicken, blitzen auf. Eine gelungene tänzerische Einlage (Tänzer: Matthias Egger, Piotr Knichalla, Nils Marckwardt). Dann wieder sehen wir Marylin so wie wir sie kennen: im weißen flatternden Kleid. Stilecht präsentiert sich Juno/Jaqueline Kennedy im pinken Coco Chanel-Kostüm. Jupiter/John F. Kennedy erleben wir im dunklen Anzug mit Krawatte, im weißen Smoking-Jackett mit Fliege. Das Publikum glaubt dem Regisseur diese neue Deutung der alten Erzählung und freut sich über die originelle, erfrischende, konzeptionell aufgehende Regiearbeit (Regie: Stephen Lawless) und dankt am Ende mit tosendem Applaus.

 

Semele Pinkes Bett F Olaf Malzahn

Sophie Naubert (Semele), Frederick Jones (Jupiter), Andrea Stadel (Iris). Foto: Olaf Malzahn

 

Wie schon in der Händel-Zeit, funktionieren seine Bühnenwerke immer dann, wenn auch die Sänger und Sängerinnen Spitzenleistungen vollbringen. Und Semele alias Marylin Monroe (Sophie Naubert) singt und spielt einfach umwerfend gut! Dementsprechend steigerte sich der Szenenapplaus zunehmend in Dauer und Lautstärke, ist Spiegel der Publikumsbegeisterung. Das gesamte Vokalensemble glänzt durch eindrucksvoll gestaltete Koloraturen, durch erfreuliche Bühnenpräsenz und große Beweglichkeit in Kehle und Spiel. Cadmus/Somnus klarer Bass (Florian Götz) gewinnt trotz Kälte aus dem Kühlschrank (eine herrliche Idee: diverse Eisschänke auf der Bühne enthalten eingefrorene Tote, die auf Wiederauferstehung hoffen) immer mehr an Wärme. Iris (Andrea Stadel) beeindruckt durch klangliche Balance in allen Registern, Juno (Laila Salome Fischer) besticht durch überzeugende Charakterisierung und feine Differenzierung des Tremolos, Athamas (Delia Bacher) lebt die Zerrissenheit der Rolle auf der Bühne stimmlich aus und Jupiter alias Kennedy (Frederik Jones) überrascht mit klangschönen Spitzentönen. Die barocke Eleganz und Geschmeidigkeit anderer Interpretationen dieser Partie - auch durch den Einsatz „gestützter“ Falsetttöne - vermissen wir hier. Möglicherweise suchte der Regisseur in dieser Rolle die gestählte Stimme eines US-Präsidenten. Leider schwankte die Intonation das eine und andere Mal und geriet unter die Notenlinie. Im Umgang mit dem Rhythmus nutzte der Präsident möglichen Freiraum.

 

Über allem stand, schwebte Semele: völlig frei in ihrer beeindruckenden schauspielerischen Darstellung, gleichzeitig musikalisch-stimmtechnisch in allen Bereichen auf höchstem Niveau. Koloraturen im Dienst der Dramatisierung und Charakterisierung, von rauschhaftem Jubel bis zu depressiver Verzweiflung. Zu guter Letzt scheinen alle im Publikum zu glauben, dass Händel diese Musik vor mehr als 250 Jahren nicht für eine damalige Primadonna komponiert hat, sondern Sophie Naubert und Marylin Monroe auf den Leib und in die Kehle!

 

Die Geschichte, die hier erzählt wird, stammt aus Ovids „Metamorphosen“ und spielt zwischen Göttern und Menschen. Händel verwandelte den antiken Stoff 1743 in ein musikalisches Drama (Libretto: William Congreve). Allerdings zum ersten Mal nicht in eine herkömmliche Oper, sondern in eine „Oper nach Art eines Oratoriums“, wie er in seiner Partitur notierte. Weniger Figuren, komplexere Charaktere, kommentierende Chöre – so Händels Vorstellung. In Lübeck legte Regisseur Stephen Lawless Wert darauf, gleich im Untertitel der Ankündigung zu „Semele“ deutlich zu machen, um was es ihm in seiner Inszenierung geht: „Oper nach Art eines Oratoriums in drei Akten von Georg Friedrich Händel“, heißt es hier. Regisseur Lawless lässt die Geschichte um Semele, Jupiter und Juno nicht im griechischen Olymp spielen, sondern mitten unter uns, auf Erden, genauer gesagt: in den USA der 60er Jahre. Semele ist hier Marylin Monroe, Jupiter ist John F. Kennedy. Am letzten Bild sitzt dieser zunächst auf grellerleuchteter Bühne an seinem riesigen Schreibtisch, Marylin erscheint über den Wolken im weißen flatternden Kleid und plötzlich ist nur noch Chaos: auf dem Schreibtisch rekelt sich rauchend Juno, im Vordergrund beginnt Kennedy eine neue Affäre mit einer neuen Frau. Wir Menschen stürmen wie Hippies johlend auf die Bühne, mit spitzen Papphüten, bunt gekleidet – allesamt Harlekine, Clowns dieser Welt. Langanhaltender, jubelnder Applaus belohnte diese gelungene Transformation der Händel-Oper am Lübecker Theater.


Semele

Oper nach Art eines Oratoriums in drei Akten von Georg Friedrich Händel

Libretto von William Congreve

In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Weitere Termine: 23/11, 19.30 Uhr, 07/12, 19.30 Uhr, 28/12, 19.30 Uhr, 12/01,18.00 Uhr, 26/01, 16.00 Uhr, Sa, 22. Feb 2025 19:30 Uhr. Do, 27. Feb 2025 19:30 Uhr sowie weitere Termine, Theater Lübeck, Großes Haus, Beckergrube 16, 23552 Lübeck

Musikalische Leitung: Takahiro Nagasaki

Mit: Sophie Naubert (Semele), Frederick Jones (Jupiter/Apollo), Delia Bacher (Athamas), Laila Salome Fischer (Juno/Ino), Andrea Stadel (Iris), Florian Götz (Somnus). Tänzer: Matthias Egger, Piotr Knichalla, Nils Marckwardt, Chor des Theater Lübeck, Statisterie des Theater Lübeck, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Inszenierung: Stephen Lawless | Bühne & Kostüme: Ashley Martin-Davis | Choreografie: Lynne Hockney | Chor: Jan-Michael Krüger | Licht: Falk Hampel | Dramaturgie: Jens Ponath | Video: Andreas Beer

Weitere Informationen (Theater Lübeck)

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