Musik
Nach Fukushima. Zur Uraufführung der Oper „Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa

In Zahlen, Worten und Bildern erreichte uns die Katastrophe Fukushimas. Das Mitgefühl ist groß, das Begreifen unmöglich. In ihrem Musiktheaterwerk Stilles Meer setzen sich Komponist Toshio Hosokawa und Theatermacher Oriza Hirata auf künstlerischer Ebene mit den Folgen des Seebebens für das menschliche Individuum auseinander.
Viereinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe im Nordosten Japans ist für zehntausende Menschen kein Alltag in Sicht. Trauer, Ängste und Einsamkeit prägen die Tage. Die Überlebenden kehren in verwaiste Gegenden zurück oder leben noch immer in Zwischenunterkünften. Viele gingen fort, in möglichst weit entfernte Gebiete des Landes, andere sind durch wirtschaftliche, oft aber auch emotionale Gründe an die Katastrophenregion gebunden; können sich nicht trennen vom Ort, der ihnen die Familie und Freunde nahm. Der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat oder Neuanfang fernab der kontaminierten Regionen zerreißt Familien und Gesellschaft.

Die Nachrichten über die Ereignisse vom 11. März 2011 gingen um die Welt: Das Erdbeben der Stärke 9,0 – das bislang schwerste in der Geschichte Japans – löste einen Tsunami aus. Die Naturkatastrophe zerstörte mehr als 260 Küstenstädte und forderte rund 16.000 Menschenleben. Mehr als 3.700 gelten noch immer als vermisst. Die Kernschmelze in der Präfektur Fukushima macht die Region auf Jahrzehnte unbewohnbar und mehr als 100.000 Menschen heimatlos. Tonnenweise floss das radioaktiv verseuchte Wasser ins Meer. Von den gesundheitlichen Spätfolgen der Atomkatastrophe sind über zwei Millionen Menschen betroffen. Die Berichterstattung machte den Landstrich Fukushima für den Rest der Welt zum Synonym der Zerstörung durch Natur und Technologie. Doch das Geschehene in Gänze widerzuspiegeln, ist ihr nicht möglich.

Toshio HosokawaDie künstlerische Auseinandersetzung mit Ereignis und Folgen der Katastrophe sind auch in Deutschland präsent; zeigen sich in Ausstellungen wie Low tide von Denis Rouvre, dessen stille Menschen- und Landschaftsporträts ein Gleichgewicht zwischen nüchterner Abbildung und menschlichem Mitgefühl suchen, oder Festivals wie Japan Syndrome, in dem sich das Hebbel am Ufer (HAU) Berlin 2014 mit „Kunst und Politik nach Fuku­shima“ auseinandersetzte. Auch die Oper Stilles Meer sucht eine Annäherung an die Erdbebenkatastrophe, die über die bloßen Fakten hinausgeht und sich mit den Folgen auseinandersetzt, die sich nicht in Zahlen und Worte fassen lassen. Das Musiktheaterwerk führt die musikalische Philosophie des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa (*1955) mit der theatralen Wirklichkeit seines Landsmannes Oriza Hirata (*1962) zusammen. Hosokawa gilt als einer der bedeutendsten japanischen Komponisten seiner Generation. Gleichermaßen geprägt durch traditionelle japanische Musik und westliche Komponisten wie Klaus Huber, Luigi Nono und Pierre Boulez, führt er in seinen Werken die östliche mit der westlichen Tradition zusammen. Hirata, der das japanische Gegenwartstheater wie kein Zweiter geprägt hat, zeichnet für die Regie der Uraufführung Stilles Meer verantwortlich. Das japanische Originaltextbuch, auf dem das deutsche Libretto basiert, schrieb Hirata selbst.

Grundlage der Geschichte um Claudia, die sieben Jahre nach der Katastrophe Fukushimas zwar den Tod ihres Mannes, nicht aber den ihres Sohnes akzeptieren kann, bildet das japanische Nô-Theaterstück Sumidagawa (Sumida-Fluss). Der Tradition des Nô-Theaters folgend, verknüpft das Theaterstück aus dem 15. Jahrhundert in typisch stilisierter Weise Schauspiel, Tanz und Musik. Es erzählt von der Trennung zwischen Mutter und Kind. Auf der Suche nach ihrem verschollenen Kind begegnet die Mutter einem Fährmann, der sie nur übersetzen will, wenn sie wie närrisch tanzt. Am anderen Ufer erwartet die Frau schließlich ein Weidenbaum mit gespaltenem Stamm: das Grab ihres Kindes. Ein letztes Mal erscheint ihr sein Geist, der sich im Nichts auflöst.

In der Oper Stilles Meer wird Claudia dazu angehalten, in das Nô einzustimmen, in der Hoffnung, sie werde ihre eigene Situation wiedererkennen: den Tod ihres Sohnes endlich akzeptieren und nach Deutschland zurückkehren. Claudia jedoch kann den Blick nicht vom Meer abwenden und erwidert auf die Aufforderung, sie müsse die Wirklichkeit akzeptieren: „Was für eine Wirklichkeit? Wir haben bis jetzt gekämpft mit einer Wirklichkeit, die wir nicht sehen können.“ Sie schildert die heftige Szenerie unmittelbar nach dem Tsunami und tritt ab mit den Worten: „Seht doch diese Wirklichkeit, die ihr nicht sehen könnt!“

Die Darstellung von Wirklichkeiten im Sinne vielfältig wahrnehmbarer Realität bildet den Kern von Hiratas Theaterarbeit: „Ich denke, dass es gar nichts gibt, was ausgedrückt werden sollte: Es reicht vollkommen, wenn das Theater es schafft, den Menschen und die Welt unmittelbar darzustellen. Als Kunst will ich ein Mittel bezeichnen, das die Tugend oder Wertbasis des Schönen, des Gutes und des Wahren für einen Moment beiseitelässt und die wirkliche Welt direkt erfasst.“ Charakteris­tisches Merkmal seiner Handschrift ist das Aufbrechen der traditionellen Einheit von Körper und Sprache, um einen gestalterischen Freiraum zu erlangen. Er distanziert sich damit vom klassischen Rollenbild ebenso wie von der Handlung des dramatischen Theaters und fordert im Gegenzug ein Theater, das sich der Darstellung von Zuständen widmet. In Hiratas Augen „gibt es keine absolute Wahrheit – und wenn es sie gäbe, dann könnte der Mensch sie nie erkennen“.
Die musiktheatralen Arbeiten Hosokawas sind für die Verschmelzung der abendländischen Musikgeschichte mit der traditionellen japanischen Musikkultur bekannt. Mit seiner ersten Oper Vision of Lear (1998) gelang ihm bei der Münchener Biennale durch die Adaption eines Shakespeare-Stoffes in der Tradition des Nô-Theaters der Brückenschlag zwischen Ost und West. Auf seine Musiktheaterwerke Hanjo (2004), das beim Festival d’Aix-en-Provence uraufgeführt wurde, sowie Matsukaze (2011) für eine Choreografie von Sasha Waltz und The Raven (2012) nach Edgar Allan Poe folgt am 24. Januar 2016 die Uraufführung von Stilles Meer an der Staatsoper. Immer wieder setzt sich Hosokawa in seinen Kompositionen mit Naturszenerien auseinander, die er selbst als Basis seines Schaffens bezeichnet: „Die Klänge der Naturwelt, die ich gewiss eher unbewusst hörte, haben einen so entscheidenden, tiefen Einfluss auf mich ausgeübt, dass ich Komponist wurde.“ Er nähert sich den Geräuschen der Natur in seinen Werken und kehrt die Unbeherrschbarkeit ihrer existentiellen Kraft ebenso wie das schwindende Naturbewusstsein unserer heutigen Gesellschaft hervor: „Wie in der Gegenwart die Umweltzerstörung weiter fortschreitet und unregelmäßige atmosphärische Erscheinungen im Entstehen begriffen sind, in einer solchen Welt empfinde ich, dass die Natur im menschlichen Inneren ebenfalls im Begriff ist, zerstört zu werden.“

Natur und Mensch stehen sich zunehmend in gegenseitiger Gefährdung gegenüber, das Bewusstsein dafür schwindet. Für Politik und Wirtschaft scheint das Vertrauen in unbegrenztes Wirtschaftswachstum durch billige Energie und der Glaube an die Beherrschbarkeit von Natur und Technologie vielerorts ungebrochen: Im August nahm die japanische Regierung erstmals seit der Atomkatastrophe einen Kernreaktor in Betrieb, im Herbst folgte der zweite. Japan kehrt zur Atomkraft zurück – gegen die Proteste der Bevölkerung.

Toshio Hosokawa: Stilles Meer
Inszenierung: Oriza Hirata
Bühnenbild: Itaru Sugiyama
Kostüme: Aya Masakane
Licht: Daniel Levy
Dramaturgie: Janina Zell
Hamburgische Staatsoper, Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
Preise: 7,- bis 176,- EUR
Ab 24. Januar 2016
Online-Tickets oder Kartenservice telefonisch unter der Nummer (040) 35 68 68 und per eMail Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper. Janina Zell ist Dramaturgin und schrieb den Beitrag für das Journal Nr. 3 2015/16


Abbildungsnachweis:
Header: Foto: Japanische Hafenstadt Foto: Claus Friede
Hosokawa Toshio. Foto: Christopher Peter

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