Musik
„Isoldes Abendbrot“ – poetischer Liederabend mit Anne Sofie von Otter Foto Simon Hallström

Neustart in der Hamburgischen Staatsoper
Was für ein wundervoller, poetischer, skurriler, großartiger Christoph-Marthaler-Abend zum Start der Ära Georges Delnon/Kent Nagano in der Hamburgischen Staatsoper!


„Isoldes Abendbrot“, ein szenischer Liederabend von Christoph Marthaler und seinem kleinen Ensemble, entführt auf der Probebühne 1 des Opernhauses sein Publikum in dieser Übernahme von Theater Basel in eine seltsame Bar hinter der Wirklichkeit. Dunkle Holztäfelung, ein opulenter Rund-Tresen, um den knapp zwei Dutzend Barhocker kreisen, schwere Leder-Fauteuils, Kamin-Atrappe, ein Klavier und ein Humidor und ein Standaschenbecher (Bühnenbild: Duri Bischoff).

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Die Bar ist ein Zwischenort, Transitpunkt, denn passiert, wer sich aus der Realität zurückzieht, sich unsichtbar macht, wer verschwindet. Das sind drei Herren, ein Pianist und die Barkeeperin. Jeder hat eine Geschichte, die wir nie ganz erfahren, sondern in Ausschnitten, Puzzlesteinchen, Erinnerungstrümmern, Hoffnungsfetzen.

„Die Geschichte zu dem, was Sie da sehen, müssen Sie selbst erfinden“, so hatte Marthaler in der Einführung seine Zuhörer eingestimmt und vor allzu intensiver Sinnsuche gewarnt. Selbst der Titel „Isoldes Abendbrot“ sei quasi en passant entstanden, und gesungen werde, was die schwedische Mezzo-Königin Anne-Sofie von Otter und die Schauspieler-Crew immer schon mal singen wollten. Sagt er. Das muss aber nicht unbedingt so sein, denn der Abend ist bezaubernd in seiner Dramaturgie, perfekt austariert in seinen Pointen und Träumereien, und welcher Traum hätte nicht hier und da auch kleine Längen?

Gesungen und gespielt werden knapp 30 Musikstücke, geistliche Chöre, sündige Chansons, Kunstlieder, Nachtlieder, Sehnsuchtslieder, Liebeslieder, Abschiedslieder, Spaßlieder. Dowland und Bach, Beethoven, Schumann, Schubert, Korngold und Mahler einerseits, deutsches, schwedisches und irisches Volksliedgut, französische, englische und amerikanische Songs. Und ein Hauch aus Isoldes „Liebestod“ von Richard Wagner, wirklich nur ein Hauch. Es ist, als hätte jemand bei seinem reich mit Musik bestückten iPod die Zufallstaste gedrückt.

Die feuchte Aussprache sprechender Humidore
Das passt zu dem, was auf der Bühne abläuft. Denn das ist auch weniger eine Handlung, eher sind es Bilder, die aus den Texten entspringen, assoziativ, manchmal albern und slapstickhaft, manchmal poetisch fein versponnen. Manchmal verrückt, wenn zu Grécos „Deshabillez-moi“ die Herren ablegen oder zu Barbaras „Mes Hommes“ eine bunte Männerriege um den Tresen kreist – dieselben Typen in immer neuer Verkleidung (Kostüme: Sarah Kittelmann) – ganz anders als im echten Leben. Oder wenn Isolde ihre drei Möchte-gern-Tristane stilvoll mit einem selbstgemixten Todestrank um die Ecke bringt, damit sie, nur Momente später, auf ihren Barhocker wieder hereingekreiselt kommen.
So ist das: In der Oper muss die die Realität draußen bleiben, man darf ungestraft Sätze sagen wie: „Sprechende Humidore haben eine lange Tradition und eine feuchte Aussprache“, man kann auf einen Knopf drücken, der Kamin dreht sich und eine elektronische Orgel kommt zum Vorschein.

Anne Sofie von Otter mit häufig wechselnder Perücke und Garderobe hat riesigen Spaß an der großen Bandbreite der Herausforderungen, sie bewältigt absolut stilsicher den Löwenanteil beim Singen. Es ist purer Hochgenuss, sie zu hören: von der großen Operngeste bis um ersterbenden Pianissimo mancher Lied-Passagen. Sie singt und spielt so, dass man einfach endlos weiter zuhören könnte, auch wenn sie der Welt längst, wie im abschließend Mahler-Lied, abhanden gekommen ist.

Bendix Dethleffsen ist Pianist, Keyboarder und augenzwinkernder Mitspieler, den nichts mehr erschüttern kann, nicht der Rauch, der aufsteigt, als er den Standaschenbecher zum Stuhl umfunktioniert, nicht von Otters wunderbar schräg gesungener Bolero, den er mit ihr vierstimmig spielt, und nicht Ueli Jaeggi, der sich Schuberts Wanderer-Fantasie auf dem Klavier hockend anhört.

Verbeugung vor dem, was Musik uns bedeutet
Jaeggi ist einer der drei Herren in der Bar, die in dieses Zwischenreich der Fantasie abgetaucht sind. Zusammen mit Graham F. Valentine und Raphael Cramer sorgt er für den nötigen Ernst, vor dessen Hintergrund ihr Klamauk umso komischer aufblitzen kann.

Man kann „Isolde Abendbrot“ so sehen, als poetischen Liederabend mit herzerfrischenden und schrägen Überraschungen. Doch am Ende, wenn alle Lieder verklungen sind, lässt sich die elektronische Orgel nicht mehr per Knopfdruck wegdrehen hinter den flackernden Kamin.

Am Ende klingt die Musik plötzlich nach, leise, durcheinander – alle hören hin, versuchen die Erinnerungen zu erhaschen, die sie ganz persönlich mit der Musik verbinden. Musik – da versteht es plötzlich jeder – speichert Gefühle und Erinnerungen weit tiefer, als es jeder Text für sich allein könnte. Und so wird dieser Abend zu einer dankbaren Verbeugung vor dem, was Musik in unserem Leben bedeutet. Vor dem einzigartigen Gesamterlebnis Oper.

Schöner kann man das kaum erzählen und einstimmen auf den großen Eröffnungsabend der neuen Staatsopernsaison mit Hector Berlioz’ Grand Opéra „Les Troyens“.

Isoldes Abendbrot
Von Christoph Marthaler und Ensemble.
Staatsoper Hamburg, Probebühne 1, Kleine Theaterstraße 1.
Nächste Vorstellungen: 20. und 22.9., jeweils 20 Uhr
Preise: 25 bis 61 EUR
Tickets


Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Simon Hallström

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