Mit dem Thomas Mann Preis 2018 wurde am 17. November der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu ausgezeichnet. Den Akt der Preisverleihung in den Kammerspielen des Lübecker Theaters nahmen Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau und Michael Krüger, Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, gemeinsam vor.
Der mit 25.000 Euro dotierte Preis wird seit 2010 im jährlichen Wechsel in Lübeck und München verliehen. Wie goldrichtig die Entscheidung der diesjährigen Jury war, das erschloss sich den Gästen im Laufe des Abends. Das gilt auch für diejenigen, die Cărtărescu und dessen Werk bisher noch nicht kannten. Denn die Zuhörer konnten ein sprachliches Wunderwerk, ein literarisches Feuerwerk erleben. Das empfanden auch diejenigen, denen das Werk des rumänischen Schriftstellers bisher noch gänzlich unbekannt war. Derart stark leuchtete die sprachliche Ausdruckskraft des Autors in der Laudatio und in der Dankesrede, dass die Feierstunde zum hochkarätigen literarischen Erlebnis geriet.
Der Festakt erwies sich als Glücksfall für alle, die dabei sein konnten. Die Lübecker Laudatio hielt Ernest Wichner, Schriftsteller, Übersetzer und ehemaliger Leiter des Berliner Literaturhauses. Am Ende gab es Standing Ovations für Mircea Cărtărescu, Ernest Wichner und Michael Krüger. Letzterer trug die vom Autor im Original gehaltene und von Ernest Wichner übertragene Dankesrede auf Deutsch vor. Wie sehr Mircea Cărtărescu seit seinem 17. Lebensjahr mit Thomas Mann verbunden ist, offenbarte sich allen Gästen (spätestens) in der Dankesrede. Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ hatte es dem damals Heranwachsenden derart angetan, dass er das Buch kurzerhand umschrieb und den Protagonisten Andreas Leverkühn nach Bukarest versetzte. Er habe lange Zeit fest daran geglaubt, dass Thomas Mann diesen Roman allein für ihn geschrieben habe. Dies und vieles andere mehr öffnete den Zuhörern Herz, Geist und Seele.
Kurzum: Es war ein bewegender, berührender, beglückender Abend. In der Sache dürften sich alle einig gewesen sein: Mircea Cărtărescu hat den Thomas Mann Preis 2018 verdient. Über Jahrzehnte sei Cărtărescu durch seine Romane, Erzählungen und Essays zur wichtigsten Stimme der rumänischen Literatur geworden, begründete die Jury ihre Entscheidung. Die Werke des 1956 in Bukarest geborenen Autors wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit vielen Auszeichnungen geehrt, beispielsweise in 2015 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung und dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt Mircea Cărtărescu vor allem für seine große „Orbitor“-Trilogie (2007: „Die Wissenden“, 2011: „Der Körper“, 2012: „Die Flügel“).
Ein ebenso großer Abend ging der Preisverleihung voraus: Im Audienzsaal des Lübecker Rathauses, dort, wo Thomas Mann einst die Ehrenbürgerwürde verliehen wurde, las Mircea Cărtărescu aus seinen Werken. Moderiert und übersetzt wurde der Abend von Ernest Wichner, Schriftsteller, Übersetzer und Laudator, der 1952 im rumänischen Zăbrani (Guttenbrunn) im Banat geboren wurde, 1975 nach West-Berlin auswanderte und von 2003 bis 2017 das Literaturhaus in Berlin leitete.
„Dieser Abend ist mindestens genauso wichtig“, begrüßte die Leiterin des Buddenbrookhauses Dr. Birte Lipinski die knapp 60 Gäste, die am Vorabend der Preisverleihung ins Lübecker Rathaus gekommen waren. „Falls Sie morgen Abend dabei sind, sind Sie die Wissenden“, scherzte Birte Lipinski und spielte damit auf den ersten Titel der Orbitor-Trilogie an. Die Lesung selbst widmete sich dem dritten Teil der Trilogie. „Die Flügel“. Diese Trilogie sei ein Lebenswerk, habe „josephsche Dimensionen“, stellte Lipinski die Verbindung zwischen Thomas Mann und Mircea Cărtărescu her. Beide verbinde eine detailgenaue Erzählweise und Erinnerung. Eine weitere Verbindung sei das Thema Heimat.
Bei Thomas Mann ist es die Stadt Lübeck, bei Mircea Cărtărescu das rumänische Bukarest, das literarisch umkreist, eingefangen, bespielt wird. Wenn auch auf ganz andere Weise als dies bei Thomas Mann der Fall ist. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit werden in „Orbitor“ aufgehoben, die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt vermischt. Phantasie- und Traum gehen ineinander über. Das Porträt der Stadt Bukarest ist trist, die Verhältnisse sind desolat. Mircea Cărtărescu schafft es dennoch, dieses Negativ zu erhellen dank der Kraft der – besser: seiner Poesie. „Poesie hat etwas mit dem Blick auf die Welt zu tun. Das können Sie auch leisten“, ermunterte der Autor sein Publikum. Wenn auch dies vielleicht nicht schreibend geschehe, so doch lesend.
So war es nur folgerichtig, dass die Lesung mit einem Gedicht begann. Ebenso folgerichtig war es, ein Gedicht wie „Provinzler“ aus dem Band „Selbstporträt in einer Streichholzflamme“ (DAAD Berliner Künstlerprogramm, Berlin 2001) als Eingangstext zu wählen. So wie viele seiner großen Kollegen - beispielsweise Dostojewski und Thomas Mann – hat auch Cărtărescu seine Schriftstellerkarriere mit dem Schreiben von Gedichten begonnen. Der Übergang von Poesie zu Prosa sei aber für ihn nicht besonders erwähnenswert gewesen, erklärte der Autor. Angefangen zu schreiben hat Mircea Cărtărescu schon als Kind, indem er seine Träume notierte, festhielt. Damals notierte er alles mit dem Stift. Das ist bis heute so geblieben: „Ich schreibe immer alles von Hand und ich korrigiere nicht.“
Seine Träume, Erinnerungen, Visionen stehen auch in der Orbitor-Trilogie im Zentrum. 14 Jahre lang hat der Autor an seinem 1800 Seiten umfassenden Werk geschrieben. „Das war eine lange und schöne Zeit“, erzählte er dem Lübecker Publikum. In diesen 14 Jahren in und mit dem Buch zu leben, sei eine sehr glückliche Zeit für ihn gewesen. Einen Plan hat Cărtărescu nicht, wenn er anfängt zu schreiben. Er setzt sich an den Schreibtisch und fängt an zu arbeiten. „Ich habe das Vertrauen, dass das Schreiben sich selbst organisiert, zu einem Buch wird“, sagt er. An jedem neuen Schreibtag liest er zuerst die letzte Seite vom Vortrag, taucht wieder ein in den Text, schreibt weiter. Mit dem Stift. Ohne zu korrigieren. Tag für Tag. Immer weiter und so fort.
„Aripa stanga“, „Corpul“ und „Aripa dreapta“ heißen die drei Bände des 2007 abgeschlossenen Werks im Original: linker Flügel, Körper, rechter Flügel. Die drei Bände geben ein wildes Panorama der Stadt Bukarest aus der Sicht des heranwachsenden Erzählers. Sie mischen Träume, Albträume, Halluzinationen, Einblicke, Erinnerungen und historische Ereignisse zu einem großen, dreiteiligen Zeitroman, der das Leben in Rumänien bis zur Revolution im Jahr 1989 vergegenwärtigt. Das gilt auch für die Werke, die Cărtărescus Orbitor-Epos rahmen: den Adoleszenz- und Künstlerroman „Travestie“ (1994, deutsch 2010) oder die melancholischen Liebesgeschichten in „Warum wir die Frauen lieben“ (2004, 2008). Zuletzt erschien der Erzählungsband „Die schönen Fremden“ (2004, 2016), der eine bizarre Lesereise nach Frankreich schildert.
Schmetterlinge und andere geflügelte mehr oder weniger phantastische Insekten bevölkern manchmal auch durchaus alptraumhaft die Orbitor-Trilogie. Der Schmetterling taucht in allen drei Bänden immer wieder auf als eine Art Wappentier, als Symbol für Unsterblichkeit, für ein besseres Diesseits, ein besseres Jenseits. Erzähler von „Orbitor“ ist ein Schriftsteller, der eine Figur erfunden hat, die Mircea heißt und im gleichen Jahr wie der Autor geboren ist. Dennoch sei dies keine Autobiografie, betonte Wichner am Vorabend der Preisverleihung im Audienzsaal des Rathauses. Zitat: „In der Mitte der Welt war ein Haus. In der Mitte des Hauses war eine Mutter. In der Mitte der Mutter war er gewesen.“ Was für eine kleine schlichte Beschreibung der Welt, was für eine große literarische Welt! Ganz so einfach ist das ganze Buch, ist die ganze Trilogie nicht. Vieles verwirrt, irritiert. Vielleicht, weil wir es nicht gewohnt sind, uns Träumen und Erinnerungen bis hin zum Albtraum so vollkommen auszuliefern.
Auch wird hier nicht linear erzählt, sondern gestaffelt nach Erinnerungen. Da ist eben noch der vierjährige Mircea an unserer Seite gewesen, jetzt haben wir es mit dem jungen Mann zu tun. Und im nächsten Leseaugenblick ist wieder der kleine Mircea zu erleben. Wie betrachtet ein vierjähriges Kind die Welt? Wie erinnert man sich als Erwachsender, als Heranwachsender? Das Kind habe noch nicht die Tabus, die wir haben, die wir beachten müssen. „Es ist grausam, verträumt, verspielt – manchmal auch alles gleichzeitig“, so Ernest Wichner. Fakt ist, es gibt vieles zu entdecken in diesem Lebenswerk, auch beim zweiten oder dritten Lesen der Trilogie. Mircea Cărtărescu: „Das große Problem ist, dass eine einzige Lektüre das Buch nicht ganz erfassen kann.“ Das Buch bestehe aus vielen einzelnen Geschichten, die sich allerdings permanent überschneiden, ineinanderschieben.
Einen deutschen Gesamttitel für „Orbitor“ gibt es nicht. Orbitor bedeute Blendung, Blender, so Ernest Wichner. Der Romantitel „Die Blendung“ sei aber bereits besetzt gewesen durch den deutschen Titel des Erstlingswerkes von Elias Canetti. Deshalb habe die Orbitor-Trilogie den Orginaltitel einfach beibehalten. Auch solche Geschichten am Rande hörten die Gäste der Lesung im Audienzsaal des Lübecker Rathauses. Hauptsächlich aber ging es um die große Kunst des Schreibens. Am Ende des Abends waren sich alle einig: Mircea Cărtărescu hat den Thomas Mann Preis 2018 wirklich verdient. Und den erhielt er am folgenden Abend im Lübecker Theater. Auch das war ein großes Ereignis. Eine würdige Feierstunde für einen großen Autor der Weltliteratur. Musiker und Musikerinnen der Musikhochschule Lübeck begleiteten mit kongenial ausgewählten Kompositionen den Abend, der mit einer Eintragung in das Goldene Buch der Hansestadt Lübeck ausklang.
Thomas Mann-Preis 2018
- Weitere Informationen- Weitere Informationen der Thomas Mann Gesellschaft
Abbildungsnachweis:
Header: Mircea Cărtărescu. Foto: Leonhard Hilzensauer, Zsolnay-Verlag
Cărtărescu beim Signieren von Büchern nach der Preisverleihung. Foto: Marion Hinz
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