Der Historiker Andreas Petersen beweist in seinem neuen Buch „Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand“, dass man Wissenschaftsgeschichte genauso spannend wie einen Kriminalroman schreiben kann.
Als Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhundert das Unbewusste und die Psychoanalyse entdeckte, revolutionierte er damit den ärztlichen Blick auf psychische Leiden und veränderte das Menschenbild.
Seine Ideen wurden in ganz Europa rezipiert und heiß diskutiert. Doch während in Westeuropa und den USA daraus bis heute eine Vielzahl tiefenpsychologischer Ansätze entstanden sind, nahm die Geschichte in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion eine ganz andere Richtung. Dieses bisher wenig beachtete Themenfeld nimmt Petersen in seinem Buch umfassend in den Blick.
Der Historiker beginnt mit der Biografie der jüdisch-ungarischen Psychoanalytikerin Lilly Hajdu (1891–1960), der „Grande Dame Psychoanalyse“. Ein guter Einstieg, denn in ihrer Geschichte verdichten sich die Dramen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dazu exemplarisch das Schicksal der Psychoanalyse im ehemaligen Ostblock. Hajdu war Jüdin und eine der ersten Frauen, die vor dem Ersten Weltkrieg in Budapest Medizin studieren konnte. Sie engagierte sich für die Frauenemanzipation und die Psychoanalyse. Zusammen mit ihrer Schwester gehörte sie zum Galilei-Kreis, ein Zusammenschluss junger Studenten, der die herrschenden Konventionen hinterfragte und die neuen sozialen Ideen diskutierte. Dazu lud der Kreis auch den Psychiater Sándor Ferenczi (1873–1933) ein, den damals in Ungarn wichtigsten Vertreter der Psychoanalyse.
Aladár Székely (1870–1940): Sándor Ferenczi, um 1910. Quelle: Sándor Ferenczi Society, Budapest, Psychoanalytic Document Database. Foto gemeinfrei. Lilly Hajdu, um 1890. Fotograf unbekannt. Quelle: Annas Borgos: Holyday Girls Women at the Psychoanalytic School in Budapest, Noran Libro, 2018. Gemeinfrei.
In der Räterepublik unter Béla Kun gleich nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie 1918 erlebte die Psychoanalyse eine kurze Blüte. Doch schon nach drei Monaten errichtete der General Miklós Horthy sein rechtes, antisemitisches Regime. Viele Weggenossen von Lilly Hajdu flohen ins Ausland, doch sie zog sich mit ihrer Familie - ihrem Mann, dem Kinderarzt Miklós Gimes, ihren Kindern Miklós und Judith - an den Budapester Stadtrand zurück. Dort leitete sie ein privates Heim für geistig behinderte Kinder. Daneben unterzog sie sich einer Lehranalyse und therapierte einen Tag pro Woche Klienten in der Innenstadt in der Wohnung ihrer Eltern. Als sie das Heim aufgrund der Wirtschaftskrise schließen musste, arbeitete sie weiterhin privat als Psychoanalytikerin. Doch ab 1938, dem Einmarsch Adolf Hitlers in Wien, geriet sie zunehmend unter Druck. Als im Mai 1944 die Deutschen mit den Massendeportationen der ungarischen Juden nach Auschwitz begannen, versteckte sie sich mit ihrer Tochter und Enkelin im Untergrund. Die Männer der Familie, ihren Mann, Sohn und Schwiegersohn, hatten die Deutschen bereits vorher in Arbeitslager deportiert, wo ihr Mann später starb. Die Söhne konnten fliehen.
1945 waren die Deutschen endlich geschlagen, die Rotarmisten hatten Lilly Hajdu das Leben gerettet, Sohn und Schwiegersohn kehrten aus dem jugoslawischen Partisanenkampf zurück. Die ganze Familie trat in die neu gegründete kommunistische Partei ein. Die drei Jahre bis 1948 verliefen für Lily Hajdu hoffnungsvoll, die Partei förderte die Psychoanalyse und ihre Arbeit. Dann „sowjetisierte“ Generalsekretär Mátyás Rákosi das Land auf Geheiß von Josef Stalin, verbot andere Parteien und ließ politische Gegner verhafteten. Die Psychoanalyse – jetzt „Freudismus“ genannt – galt ab sofort als „Hauspsychologie des Imperialismus“, „ideologisch gefährlich“ und „wissenschaftlich unbegründet“. Sie wurde zudem als „zionistische Verschwörung“ gebrandmarkt.
Selbstverleugnung und die gehobene Position ihrer Kinder im Parteiapparat ermöglichten Lilly Hajdu das Überleben. Eine kurze Tauwetterzeit nach Stalins Tod 1953 versprach zunächst Hoffnung. Doch 1960, im Alter von 68 Jahren, nahm sie sich das Leben, nachdem sie aus dem Radio von der Hinrichtung ihres Sohnes erfahren hatte. Er war als einer der Initiatoren des Ungarnaufstandes schon im Dezember 1956 verhaftet worden. Die Familie ihrer Tochter hatte sich noch rechtzeitig ins Schweizer Exil retten können.
Die stalinistische Verfolgung der Psychoanalyse durchzieht wie ein roter Faden das Buch. Säuberungen und Schauprozesse schufen ein gesellschaftliches Klima, in dem Menschen lernten, zu Tätern zu werden, wenn sie überleben wollten.
Dabei war die junge Sowjetunion ursprünglich das erste Land, in dem die Psychoanalyse staatlicherseits gefördert wurde. Der Revolutionär und Bolschewik Leo Trotzki hatte in seinem Exil in Wien 1907 bis 1914 die Psychoanalyse kennengelernt. Er war eng mit Raissa Adler, der Frau des Arztes, Analytikers und Begründers der Individualpsychologie Alfred Adler, befreundet. Trotzki betrachtete die Psychoanalyse als ein nützliches Instrument für die Schaffung des „Neuen Menschen“, der den Sozialismus aufbauen sollte. Das Bewusstsein sollte das Unbewusste erhellen und überwinden. Es ging darum – so Trotzki – „der eigenen Gefühle Herr zu werden, […] mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen des Unbewussten vorzudringen und sich so auf eine Stufe zu erheben […] den Übermenschen zu schaffen.“ Es war ihm wohl entgangen, dass Freud davon ausging, dass das Bewusstsein nie „Herr im eigenen Hause“ sein kann.
Die Beisetzung Felix Dzerszinskis (1877–1926, Berufsrevolutionär und Gründer der Geheimpolizei Tscheka. Die Kampfgefährten tragen den Sarg ihres Mitkämpfers zur Aufbahrung in das Gewerkschaftshaus. V.l.n.r: Rykow, Jagoda, Kalinin, Trotzki, Kamenew, Stalin, Tomski, Bucharin. Moskau, 1926. Das Bild ist ein Still aus dem Dokumentarfilm „The Funeral of F. E. Dzerzhinsky“ und wurde 1926 in der Berliner Arbeiter-Illustrierte-Zeitung veröffentlicht. Quelle: UdSSR Filmarchiv
Obwohl Wladimir Lenin noch vor seinem Tod 1924 vor Stalin warnte, gelang es diesem, die Macht in der Partei an sich zu ziehen. Er zwang den Juden Trotzki 1929 ins Exil und ließ ihn schließlich 1940 in Mexiko ermorden. Alles „Trotzkistische“ wurde streng verfolgt und getilgt, also auch die Psychoanalyse. An die Stelle des Unbewussten traten nun die Reflexe. Stalin förderte den Physiologen und Nobelpreisträger Iwan Petrowitsch Pawlow, obwohl der ein bekennender Antikommunist war, und ließ ihn ein gigantisches Wissenschaftsimperium aufbauen. Pawlows Theorie von der Konditionierung des menschlichen Verhaltens passte besser in Stalins repressives Herrschaftskonzept. Bei Pawlow bestimmten nicht Triebe und das Unbewusste das menschliche Verhalten, sondern Nerven und Reflexe. Erlerntes Verhalten galt als vererbbar, der Mensch als unbegrenzt form- und wandelbar.
Diese grundlegende sowjetische Wissenschaftsauffassung war das Ende jeder Psychologie und Pädagogik, die Empathie beinhaltete. In der Folge versuchte Stalin im gesamten Ostblock, seine Wissenschaftsdoktrin durchzusetzen. Nicht immer mit Erfolg: in der Tschechoslowakei z.B. wehrten sich Kinderärzte und Mütter gegen die staatlich verordnete Krippen- und Heimerziehung. Stattdessen entstand dort eine Sozialgesetzgebung mit Mutterschaftsurlaub und der Möglichkeit eines zweijährigen Arbeitsurlaubes. Die Wochenkrippen, in der Kleinkinder von ihren Müttern getrennt lebten, wurden abgeschafft, stattdessen übernahmen Ersatzfamilien die Betreuung der Kinder.
Kapitelweise zeichnet Andreas Petersen verständlich und mit vielen anschaulichen Einzelbeispielen belegt die Entwicklung von Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik in den verschiedenen Ländern des ehemaligen Ostblocks nach, soweit es die vorhandenen Quellen erlauben. Er beschreibt die kollegialen Netzwerke zwischen den europäischen Metropolen wie Budapest, Wien, Sofia, Berlin, Zürich, Moskau etc., in denen die Psychoanalyse sich anfangs entwickelte und neue Ansätze hervorbrachte. Und er beschreibt die politischen Intrigen, die Wissenschaftskarrieren förderten oder zerstörten. Mit der Verfolgung von Ärzten und Pädagogen, dem Verbot ihrer unerwünschten Schriften und der Entfernung ihrer Ideen aus den Lehrplänen wurden nicht nur Menschen vernichtet, sondern auch die Erinnerung an ihr Denken gelöscht.
Was nicht vollständig gelang. Viele insbesondere jüdische Psychoanalytiker flohen vor den nationalsozialistischen Gaskammern und den sowjetischen Gulags in die USA, wo sie Vereine gründeten und die Psychoanalyse in Theorie und Praxis etablierten. So nahm die gesamte Bindungsforschung zur Mutter-Kind-Beziehung, die auf den wegweisenden Ideen von Sandor Ferenczi fußte, in den USA ihren Ausgang und wirkte zurück auf Europa. Heute gehört sie zum wissenschaftlichen Standard.
Eine Ausnahmeerscheinung im Ostblock war Jugoslawien. Hier konnte sich die Psychoanalyse durchsetzen. Allerdings bewegte sie sich in einer verstörenden Ambivalenz zwischen den Polen Heilung durch Empathie oder Zerstörung der Persönlichkeit durch Terror. Die Kinderpsychotherapie verfolgte einen emphatischen, unterstützenden Ansatz. Gefühle wurden ernst genommen, die Persönlichkeit sollte gestärkt und von Ängsten befreit werden. Ärzte, Therapeuten und Pädagogen standen im Austausch mit westlichen Kollegen. Das Land hatte sich im Partisanenkampf selbst befreit, der Stalinist und Partisanenführer Josip Tito wurde 1945 durch eine Volksabstimmung als Staatschef bestätigt. Dadurch in seiner Position gefestigt, konnte er sich ab 1948 von Stalin lossagen und einen unabhängigen Weg einschlagen.
Doch das gelang nur durch eine konsequente Verfolgung und Inhaftierung politischer Gegner, darunter viele Stalin-Getreue. Das größte Gefängnis befand sich auf der Felseninsel Goli Otok in der Adria. Der Psychiater und Geheimdienstoffizier Vladislav Klajn hatte sich schon vor dem Krieg mit der Psychoanalyse befasst. Offensichtlich flossen seine Kenntnisse in ein Umerziehungskonzept ein, das u.a. in Goli Otok zur Anwendung kam. Innerhalb eines Systems streng hierarchischer Selbstverwaltung terrorisierten sich die Gefangenen gegenseitig, attackierten sich mit wechselseitigen Befragungen, Schlägen und Diagnosen. Am Ende stand „die pathologische Verachtung des eigenen Ichs“.
Die Gefängnisinsel Goli Otok. Blick u.a. auf die ehemalige Bäckerei und das Heizwerk. Foto: Pokrajac. CC BY-SA 3.0
Etwa in der Mitte des Buches widmet Andreas Petersen ein Kapitel der „durchtherapeutisierten Gesellschaft“ in Westdeutschland. Im Kontrast zum Ostblock entwickelte sich hier - wie generell im sogenannten Westen - eine breite Akzeptanz für die Psychoanalyse und andere tiefenpsychologische Ansätze, nicht zuletzt durch den Einfluss des Arztes und Analytikers Alexander Mitscherlich. Dessen Arbeit begann 1946 mit der Erforschung der Beteiligung der Ärzteschaft an den nationalsozialistischen Verbrechen und mündete in die Überlegungen zu einer analytischen Sozialpsychologie, exemplarisch dargestellt in dem bekannten und sehr erfolgreichen Buch „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“, das seine Frau Margarete und er 1967 publizierten.
Petersen schlägt den Bogen weiter über die Studentenrevolte und den Psycho-Boom der 1970er Jahre bis heute. Die verschiedenen psychologischen Ansätze dienten zunächst dem Ziel, Gefühle wahrzunehmen, die Beziehungsfähigkeit zu verbessern und konventionelle Rollenzwänge zu überwinden, um eine gemeinschaftlich orientierte demokratische Gesellschaft aufzubauen. Eine Psychotherapie wurde zum kassenfinanzierten Normalfall, insbesondere in den Mittel- und Oberschichten. Mittlerweile ist der Begriff der Selbstverwirklichung aus den 1970er Jahre zur egozentrischen Selbstoptimierung mutiert, unterschiedlichste Psychotechniken versprechen vor allem eine Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit, um im allgegenwärtigen Konkurrenzkampf besser bestehen zu können. Von gemeinschaftlichen Zielen und Gesellschaftskritik ist kaum mehr die Rede.
Es gibt also wenig Anlass, mit Überheblichkeit vom Westen in den Osten zu blicken. Stattdessen wäre Empathie gefragt für die Erfahrungen von Menschen in einem stalinistischen System, um die Folgen für die Gegenwart besser zu verstehen. Andreas Petersens Buch ist dazu ein wertvoller Beitrag.
Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste – Wie Freud im Kollektiv verschwand
Verlag: Klett-Cotta
Hardcover, E-Book (epub)
352 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit Abbildungen
ISBN: 978-3-608-98720-1
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