Kultur, Geschichte & Management

Lippen aufspritzen, Fett absaugen, straffen, glätten, hungern. Was ertragen Frauen nicht alles, um einem höchst zweifelhaften Ideal zu entsprechen. Körpermodifikationen gibt es in allen Kulturen. Zum einen, um den jeweiligen Schönheitsvorstellungen zu entsprechen, zum anderen als Statussymbole und identitätsstiftende Zugehörigkeit zu sozialen und ethnischen Gruppen.

 

Das Museum am Rothenbaum (MARKK) in Hamburg wirft mit der Ausstellung „UnBinding Bodies – Lotosschuhe und Korsett“ nun einen differenzierten Blick auf dieses weltumspannende Phänomen, das in den gebundenen Füßen chinesischer Mädchen über tausend Jahre hinweg seine wohl drastischste und schmerzhafteste Ausprägung gefunden hat.

 

Eine alte Frau mit Kopftuch fährt auf einer Landstraße Rad. Das 2002 aufgenommene Schwarzweiß-Foto von Junxiao Quin wirkt erstmal unspektakulär – bis der Blick auf die winzigen Schuhe fällt. Diese alte Frau hat gebundene Füße, hundert Jahre, nachdem diese ursprünglich höfische Praxis untersagt wurde und 53 Jahre, nachdem Mao Zedong den Brauch in seiner „Volksrepublik“ endgültig verbieten und ächten ließ.

 

Dennoch gibt sie noch, die Frauen mit den sogenannten Lotosfüßen, die durch das Brechen der Zehen im Kindesalter und das Einschnüren in immer engere Bandagen unter lebenslangen Schmerzen auf schmalen, spitzen Klumpfüßen laufen. Zehn Zentimeter Länge galt im 19. Jahrhundert als Ideal und absolut erotisch. Angeblich waren die Füße sogar wichtiger als die Gesichter, wenn es galt, heiratsfähige Mädchen unter die Haube zu bringen. Zeugten sie doch von unendlicher Leidensfähigkeit und tugendhafter Häuslichkeit – Weglaufen war ausgeschlossen, selbst kleine Spaziergänge nur unter Qualen möglich.

 

Unbindung Bodies 00 Gamble Alte Frau bindet die Fuesse eines Maedchens


Sidney D. Gamble: Eine ältere Frau bindet die Füße eines Mädchens, Shiling, Zhejiang Sheng, China, 1919 Fotografie. Duke University Repository, Id. Nr. 135-762. CC0 1.0. Der US-Amerikaner Sidney D. Gamble beobachtete die alltägliche, intime Szene bei einer seiner Reisen in China 1919. Als Princeton-Absolvent und Mitglied der christlichen Jugendorganisation YMCA glaubte er an die Modernisierung Chinas durch Wissenschaft, Demokratisierung und Mission.

 

Wer jedoch glaubt, dass es europäischen Frauen im 19. Jahrhundert so viel besser ging, der wird in dieser sehenswerten Ausstellung eines Besseren belehrt. Auch sie wurden eingeschnürt bis zur Bewusstlosigkeit, litten Schmerzen und an Deformierungen innerer Organe – und alles, um der „Mode“ einer Wespentaille zu entsprechen.

 

Unbinding Bodies 02 Postkarte Brutto Kopie

Postkarte: Brutto – Netto – Tara, 19. Jahrhundert

 

Im MARKK werden beide Praktiken einander gegenübergestellt. Ihre Ursprünge als Merkmal sozialer Abgrenzung, ihre Entwicklung zur „Volks-Mode“, bis hin zu den Widerstands- und Reformbewegungen, die um 1900 ihren Höhepunkt erreichten.

Der (überhebliche) europäische Blick auf die bemitleidenswerten Chinesinnen wird dabei konsequent gebrochen. Nicht nur mit zahleichen Objekten, Röntgenaufnahmen und Fotografien. Auch mit Zitaten, wie von der amerikanische Tänzerin Loie Fuller.

Die Wegbereiterin des modernen Tanzes brachte es schon 1911 auf den Punkt: „Wir bedauern die Art und Weise, wie in China der Fuß der Frau gebunden wird. Die Verformung des Fußes einer Balletttänzerin kann mit diesem barbarischen und unmenschlichen Brauch verglichen werden. Und wir schicken Missionare nach China!“


„UnBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett“

Zu sehen bis 26.2.2023 im MARKK, Museum am Rothenbaum, Rothenbaumchaussee 64, in 20148 Hamburg.

Weitere Information (MARKK)

 

Die kulturhistorische Ausstellung wurde von den Kurator*innen Jasmin Mersmann, Evke Rulffes und Felix Sattler entwickelt, in enger Zusammenarbeit mit chinesischen Forscher*innen wie Prof. Dorothy Y. Ko (Barnard College, New York).

Partner: Museum am Rothenbaum, Kulturen und Künste der Welt (MARKK), Susanne Knödel, Barbara Plankensteiner, Gabriel Schimmeroth.

Die Ausstellung wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes sowie die Stiftung Preußische Seehandlung und die Alfred Toepfer Stiftung.

Die Ausstellung ist im Anschluss ab dem 23. März 2023 bis 31. August 2023 im Tieranatomischen Theater – Raum für forschende Ausstellungspraxis, Humboldt-Universität zu Berlin zu sehen.

 

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